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Einst fanden hier Techno Raves statt – heute ist es hier schick: Das Bergson Kunstkraftwerk in München
Ein Architekturprinzip lautet: Wenn sich die Zeiten ändern, soll sich ein Gebäude an das neue Zeitgefühl anpassen. Entsprechend wurde nun ein verfallenes historisches Gebäude in München zu einem Ort der Kunst umgestaltet: zum Bergson Kunstkraftwerk.
19. April 2024 - Klaus-Jürgen Bauer
Der heurige Architektur-Jahresregent Johann Bernhard Fischer von Erlach, dessen 300. Todestages wir gedenken, formulierte einmal eine faszinierende Idee. Er meinte, dass die Tat der Gegenwart – also das zeitgenössische Bauwerk – einen Ewigkeitswert hinterlassen solle. Das bedeutet, dass Gebäude nach der jeweiligen Wesensart der Auftraggeber entstehen sollen. In der etwa 11.000-jährigen Geschichte des menschlichen Bauens hat man tatsächlich immer wieder nach architektonischen Ausdrücken der jeweiligen Zeitatmosphäre gesucht, aber sie nur selten gefunden.
Ein zweites, gewissermaßen anderes Prinzip der Architektur stand dem nämlich sehr oft entgegen: die Transformation. Eine solche bedeutet, dass immer dann, wenn sich die Zeiten änderten, der Wunsch bestand, den jeweiligen Gebäudeausdruck an das neue Zeitgefühl anzupassen. Schmucklose Renaissance-Kastelle baute man zu heiteren Barockpavillons um, und historistische Fassaden des späten 19. Jahrhunderts wurden nach dem Ersten Weltkrieg entstuckt, weil man ihre Ornamentalzierde nicht mehr als angemessen empfand.
Heute steht die Architektur nach einer langen Phase des Neubaus wiederum im Zeichen der Transformation. Besonders die jüngere Architektengeneration empfindet Abrisse und Neubauten in Bezug auf Klimaveränderungen, Teuerung, Materialverschwendung oder Flächenverbrauch als nicht mehr angemessen. Man denkt vielmehr darüber nach, wie man bestehende Volumen in die Gegenwart überführen kann.
Im Münchner Westend kann man nun solch einen architektonischen Transformationsprozess gut nachvollziehen. Hier stand lange Zeit eine große Bauruine ohne Verwendung inmitten einer Industriebrache. Eine umfassende Analyse des Bauwerks und seines Standorts legte eine faszinierende Planungsgeschichte frei. Um das Jahr 1920 herum entwarf ein heute unbekannter Architekt dort ein Heizkraftwerk, einen spätklassizistischen Stahlbetonbau mit Ziegelausfachungen und klassizistischem Schmuck. Dieser Bau wurde jedoch nicht umgesetzt. Erst 17 Jahre später beschloss die Reichsbahndirektion München die Realisierung dieses Heizkraftwerkes.
Tanzen auf illegalen Techno Raves
Der große Industriebau wurde notwendig, weil damals der Münchner Hauptbahnhof als Teil der gigantischen Münchner Ost-West-Achse in den Westen der Stadt verlegt werden sollte. Im Jahr 1940 wurde daher der alte Plan umgesetzt, konnte aber wegen des Krieges nur zur Hälfte vollendet werden. Erst um 1955 herum benutzte die Deutsche Bahn das Bauwerk dann auch wirklich als Heizwerk, das jedoch in den frühen 1980er-Jahren schon wieder stillgelegt wurde.
2005 erwarb das Münchner Familienunternehmen Allguth – erfolgreiche Betreiber einer Tankstellengruppe – 20.000 Quadratmeter Grund, auf dem das damals bereits weitgehend verfallene Gebäude stand: ein wildromantischer, klassischer Lost Place, voll mit Graffitis. Das leer stehende Kraftwerk war inzwischen eine wichtige Location für illegale Techno Raves geworden. Im Keller stand immer Wasser, sodass dort im Sommer Schlauchboot und im Winter Schlittschuh gefahren werden konnte.
Die erste Idee der neuen Eigentümer war, an der äußersten Pheripherie der Stadt ihre neue Firmenzentrale zu bauen. Dann setzte jedoch ein dynamischer Prozess ein, der auch andere Denkrichtungen ermöglichte. Inzwischen war das Fragment des ehemaligen Heizwerks nämlich unter Denkmalschutz gestellt worden. Die nun folgende Transformation nahm Fahrt auf, als im Jahr 2015 von den programmflexiblen Eigentümern – durchaus keine Selbstverständlichkeit! – das Münchner Architekturbüro Stenger2, bestehend aus dem Architektenpaar Annette und Markus Stenger sowie Jörg Siegert, ins Boot geholt wurde.
Dieses Architekturteam war damals gerade intensiv mit der Transformation eines anderen Münchner Kraftwerks zu einem großen Möbelhaus mit Gastronomie und Büros beschäftigt. Gemeinsam entwickelten nun Eigentümer und Architekten die Potenziale des alten Heizwerks im Westen. Schon die überraschende Namensgebung des neuen Projekts – das Bergson Kunstkraftwerk – verweist auf einen langen und intensiven Denkprozess hinter dem eigentlichen Umbau; hierbei spielten die Denkstrukturen der Architekten eine wichtige Rolle.
Ausgebildet wurden beide Partner unmittelbar nach der Wende an der Bauhausuniversität Weimar, einer Einrichtung, die zwar auf eine große historische Vergangenheit verweist, aber in ihrer Neugründungsphase nach der Wende vor allem durch experimentelle Zugänge und Lehrende aus unterschiedlichen europäischen Ländern geprägt war.
Namensgeber Henri Bergson
Nach dem Diplom absolvierten Annette und Markus Stenger ein einjähriges Postdoc-Studium in den USA. Besonders intensiv wurde damals an der renommierten Ohio State University der intellektuelle Diskurs rund um Jeffrey Kipnis und Peter Eisenman geführt. Man diskutierte vor allem Ideen der französischen Poststrukturalisten in Bezug auf die zeitgenössische Architektur. Denker wie Jacques Derrida und eben auch der Namensgeber des Münchner Kunstkraftwerks, der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson, standen damals im Mittelpunkt vieler theoretischer Überlegungen. Abstrakte Ideen konnten nun in München in einen anspruchsvollen Umbau einfließen. Man könnte vielleicht auch sagen, dass hier poststrukturelle Theorien in reale Architektur transformiert wurden.
Langsam ordneten sich die Dinge. Im Jahr 2021 begannen die Umbauarbeiten des alten Kraftwerks zu einem multifunktionalen Kulturort für Events, Konzerte und Kulinarik. Das Gestaltungsziel der Architekten war, das schlichte spätklassizistische Ziegelkleid des Bestands durch einen reduzierten Materialkanon – durch weißen Sichtbeton, Schwarzstahl und Gussasphalt – subtil zu ergänzen: edle Anmutung trotz geringer Basispreise. Das Konzept ging auf. Die Sprayer hörten auf, alles zu besprühen, und aus einem Lost Place wurde durch Transformation eine schicke Adresse: das Bergson Kunstkraftwerk. Integriert wird demnächst auch eine große Galerie des Berliner Galeristen Johann König. Ein 450 Quadratmeter großer, hochmoderner Konzertsaal wurde neu dazugebaut, außerdem gibt es ein Restaurant, Bars und – in München nicht anders vorstellbar – einen großen Biergarten.
Kürzlich wurde die Eröffnung gefeiert, und die Münchner kamen in Scharen, um den neuen Kunstort an der westlichen Peripherie in Besitz zu nehmen. Vermutlich sind sie gekommen, um zu bleiben. Und der Jahresregent Johann Bernhard Fischer von Erlach wäre mit diesem Gebäude nach der Wesensart der Auftraggeber sicher auch zufrieden gewesen.
Ein zweites, gewissermaßen anderes Prinzip der Architektur stand dem nämlich sehr oft entgegen: die Transformation. Eine solche bedeutet, dass immer dann, wenn sich die Zeiten änderten, der Wunsch bestand, den jeweiligen Gebäudeausdruck an das neue Zeitgefühl anzupassen. Schmucklose Renaissance-Kastelle baute man zu heiteren Barockpavillons um, und historistische Fassaden des späten 19. Jahrhunderts wurden nach dem Ersten Weltkrieg entstuckt, weil man ihre Ornamentalzierde nicht mehr als angemessen empfand.
Heute steht die Architektur nach einer langen Phase des Neubaus wiederum im Zeichen der Transformation. Besonders die jüngere Architektengeneration empfindet Abrisse und Neubauten in Bezug auf Klimaveränderungen, Teuerung, Materialverschwendung oder Flächenverbrauch als nicht mehr angemessen. Man denkt vielmehr darüber nach, wie man bestehende Volumen in die Gegenwart überführen kann.
Im Münchner Westend kann man nun solch einen architektonischen Transformationsprozess gut nachvollziehen. Hier stand lange Zeit eine große Bauruine ohne Verwendung inmitten einer Industriebrache. Eine umfassende Analyse des Bauwerks und seines Standorts legte eine faszinierende Planungsgeschichte frei. Um das Jahr 1920 herum entwarf ein heute unbekannter Architekt dort ein Heizkraftwerk, einen spätklassizistischen Stahlbetonbau mit Ziegelausfachungen und klassizistischem Schmuck. Dieser Bau wurde jedoch nicht umgesetzt. Erst 17 Jahre später beschloss die Reichsbahndirektion München die Realisierung dieses Heizkraftwerkes.
Tanzen auf illegalen Techno Raves
Der große Industriebau wurde notwendig, weil damals der Münchner Hauptbahnhof als Teil der gigantischen Münchner Ost-West-Achse in den Westen der Stadt verlegt werden sollte. Im Jahr 1940 wurde daher der alte Plan umgesetzt, konnte aber wegen des Krieges nur zur Hälfte vollendet werden. Erst um 1955 herum benutzte die Deutsche Bahn das Bauwerk dann auch wirklich als Heizwerk, das jedoch in den frühen 1980er-Jahren schon wieder stillgelegt wurde.
2005 erwarb das Münchner Familienunternehmen Allguth – erfolgreiche Betreiber einer Tankstellengruppe – 20.000 Quadratmeter Grund, auf dem das damals bereits weitgehend verfallene Gebäude stand: ein wildromantischer, klassischer Lost Place, voll mit Graffitis. Das leer stehende Kraftwerk war inzwischen eine wichtige Location für illegale Techno Raves geworden. Im Keller stand immer Wasser, sodass dort im Sommer Schlauchboot und im Winter Schlittschuh gefahren werden konnte.
Die erste Idee der neuen Eigentümer war, an der äußersten Pheripherie der Stadt ihre neue Firmenzentrale zu bauen. Dann setzte jedoch ein dynamischer Prozess ein, der auch andere Denkrichtungen ermöglichte. Inzwischen war das Fragment des ehemaligen Heizwerks nämlich unter Denkmalschutz gestellt worden. Die nun folgende Transformation nahm Fahrt auf, als im Jahr 2015 von den programmflexiblen Eigentümern – durchaus keine Selbstverständlichkeit! – das Münchner Architekturbüro Stenger2, bestehend aus dem Architektenpaar Annette und Markus Stenger sowie Jörg Siegert, ins Boot geholt wurde.
Dieses Architekturteam war damals gerade intensiv mit der Transformation eines anderen Münchner Kraftwerks zu einem großen Möbelhaus mit Gastronomie und Büros beschäftigt. Gemeinsam entwickelten nun Eigentümer und Architekten die Potenziale des alten Heizwerks im Westen. Schon die überraschende Namensgebung des neuen Projekts – das Bergson Kunstkraftwerk – verweist auf einen langen und intensiven Denkprozess hinter dem eigentlichen Umbau; hierbei spielten die Denkstrukturen der Architekten eine wichtige Rolle.
Ausgebildet wurden beide Partner unmittelbar nach der Wende an der Bauhausuniversität Weimar, einer Einrichtung, die zwar auf eine große historische Vergangenheit verweist, aber in ihrer Neugründungsphase nach der Wende vor allem durch experimentelle Zugänge und Lehrende aus unterschiedlichen europäischen Ländern geprägt war.
Namensgeber Henri Bergson
Nach dem Diplom absolvierten Annette und Markus Stenger ein einjähriges Postdoc-Studium in den USA. Besonders intensiv wurde damals an der renommierten Ohio State University der intellektuelle Diskurs rund um Jeffrey Kipnis und Peter Eisenman geführt. Man diskutierte vor allem Ideen der französischen Poststrukturalisten in Bezug auf die zeitgenössische Architektur. Denker wie Jacques Derrida und eben auch der Namensgeber des Münchner Kunstkraftwerks, der französische Philosoph und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson, standen damals im Mittelpunkt vieler theoretischer Überlegungen. Abstrakte Ideen konnten nun in München in einen anspruchsvollen Umbau einfließen. Man könnte vielleicht auch sagen, dass hier poststrukturelle Theorien in reale Architektur transformiert wurden.
Langsam ordneten sich die Dinge. Im Jahr 2021 begannen die Umbauarbeiten des alten Kraftwerks zu einem multifunktionalen Kulturort für Events, Konzerte und Kulinarik. Das Gestaltungsziel der Architekten war, das schlichte spätklassizistische Ziegelkleid des Bestands durch einen reduzierten Materialkanon – durch weißen Sichtbeton, Schwarzstahl und Gussasphalt – subtil zu ergänzen: edle Anmutung trotz geringer Basispreise. Das Konzept ging auf. Die Sprayer hörten auf, alles zu besprühen, und aus einem Lost Place wurde durch Transformation eine schicke Adresse: das Bergson Kunstkraftwerk. Integriert wird demnächst auch eine große Galerie des Berliner Galeristen Johann König. Ein 450 Quadratmeter großer, hochmoderner Konzertsaal wurde neu dazugebaut, außerdem gibt es ein Restaurant, Bars und – in München nicht anders vorstellbar – einen großen Biergarten.
Kürzlich wurde die Eröffnung gefeiert, und die Münchner kamen in Scharen, um den neuen Kunstort an der westlichen Peripherie in Besitz zu nehmen. Vermutlich sind sie gekommen, um zu bleiben. Und der Jahresregent Johann Bernhard Fischer von Erlach wäre mit diesem Gebäude nach der Wesensart der Auftraggeber sicher auch zufrieden gewesen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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