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Irrwege aus Asphalt
Der Raumplaner und Filmemacher Reinhard Seiß widmet sich in einem filmischen Mammutwerk der immer noch ungebrochenen Dominanz des Automobils und ihren Auswirkungen auf Stadt und Land. Dabei ginge es besser, sagt er – man muss nur wollen.
11. Mai 2024 - Wojciech Czaja
Weitwinkel: Autobahn. Nahaufnahme: Gaspedal. Dazu eine Stimme in gemütlich-lakonischem Bairisch: „Wer einige Wochen im deutschen Verkehrsgewühl überlebt hat, der weiß es: Das Gesetz der deutschen Straße ist hart, aber gerecht. Jeder, der ein Fahrzeug steuert, hat Vorfahrtsrecht. Je größer das Auto, desto größer das Vorfahrtsrecht.“ Die Filmreportage des Bayerischen Rundfunks mit dem Titel Verhaltensweisen deutscher Autofahrer wurde im April 1964 gesendet, könnte aber auch von heute sein.
Zahllose Dokumentar- und Spielfilme über den Menschen und sein Verhältnis zum Auto sind in diesen 60 Jahren erschienen, von Jacques Tatis Trafic (1971) über David Cronenbergs Crash (1996) bis zu Daniel Abmas Autobahn (2019). Der Tenor ist ähnlich: Das Automobil dominiert unsere Köpfe, unsere Körper, unsere Städte und unser Land. Aber stimmt das noch? Gibt es nicht längst Begegnungszonen, Pop-up-Radwege, Lastenrad-Initiativen, kurz: die Verkehrswende?
Hört man manchen Stimmen der bundesdeutschen Politik zu, scheint sich seit 1964 nicht viel getan zu haben. In Berlin verkündete die neue Stadtkoalition nach der Senatswahl 2023, sie wolle „keinen Parkplatz opfern“, die zur „Spaß-haben-Geld-verdienen-danach-alles-egal“-Partei mutierte FDP erfindet immer absurdere Argumente gegen ein Tempolimit, und eine endlose Abfolge von anderstalentierten Verkehrsministern, die im blauen Dunst der Autoindustrie ihr Biotop fand, trieb die Deutsche Bahn in die dysfunktionale Anarchie und machte sie zum Gespött Europas. Und Österreich? Wir haben zwar keine dominante Autoindustrie, sind aber anscheinend, wie Bundeskanzler Karl Nehammer letztes Jahr verkündete, ein „Autoland“.
Es liegt also vieles im Argen. Dieser Überzeugung ist auch der Filmemacher Reinhard Seiß. Der studierte Raumplaner ist so etwas wie der Wutbürger der österreichischen Baukultur, seit er 2007 mit seinem Buch Wer baut Wien? den Finger in viele noch heute schwärende Wunden legte. Aber er zeigt auch, wie es besser geht, etwa 2013 in seinem Film Häuser für Menschen.
Schadensfall Auto
Beides tut er auch in seinem neuen Film Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege, der am kommenden Montag im Wiener Gartenbaukino seine Premiere feiert. Mehr als vier Jahre lang hat er daran gearbeitet, biblische 373 Minuten lang ist das Ergebnis, aber keine Angst, sagt Seiß, niemand müsse sich das ganz anschauen. Stattdessen lassen sich die 51 Kapitel nach Bedarf zusammenstellen. Was hat ihn dieses Mal auf die Straße getrieben? „Es gibt wenige Dinge, die so irrational und von so vielen absurden Behauptungen geprägt sind wie unser Verhältnis zum Autoverkehr“, sagt er. Ein Beispiel von vielen: Der immer noch beliebte Sager vom Autofahrer als „Melkkuh der Nation.“
Der Film nimmt uns auf eine Autofahrt durch Österreich, Deutschland und die Schweiz, zeigt, wie nach dem längst widerlegten Motto „One more lane will fix it“ immer noch neue Straßen gebaut werden, auch dort, wo man sie eigentlich gar nicht braucht. Verkehrsforscher wie Hermann Knoflacher, der Grandseigneur der Autokritik, kommen zu Wort, aber oft sprechen die Bilder von zähflüssigem Verkehr auf leinwandbreitem Mehrspurasphalt für sich. Das Auto – ein Schadensfall für die Gesellschaft.
Dabei zielt Seiß darauf, die von ihm diagnostizierten absurden Behauptungen zu widerlegen. Etwa das oft vorgebrachte „Schön und gut, aber auf dem Land brauchst du halt das Auto!“ Das stimmt zwar, aber ist kein Naturgesetz. Dass es auch anders geht, zeigen die Szenen aus der Schweiz. Der Postbus, der mehrmals am Tag im 300-Einwohner-Dorf Waltensburg in Graubünden hält, dank schweizweit koordinierten Takts mit der Bahn so abgestimmt, dass man es in zwei Stunden nach Zürich schafft. Die Bahnen, die von Supermarktketten zum Warentransport genutzt werden, mit Containern, die an kleinen Dorfbahnhöfen verladen werden. Und nein – das macht der Film deutlich – das vermeintliche Argument „Ja gut, das ist halt die Schweiz“ ist keines. „Es sind keine ominösen Mächte, die diese Verhältnisse schaffen, sondern immer Entscheidungen der Politik“, betont Seiß.
Flächenfraß-Turbo
Wenn es heißt, man brauche eben Straßen, weil man sonst nicht schnell genug von A nach B komme, wird gerne unterschlagen, dass die Irrwege aus Asphalt nicht nur lineare Verbindungen sind, sondern auch ein Turbo-Generator für Flächenfraß. Die Lobau-Autobahn würde nicht nur Abgase in die Natur pusten, sondern auch einen neuen Gewerbe-Speckgürtel in Wiens Nordosten erzeugen, und die umstrittene Ostumfahrung Wiener Neustadt ginge Hand in Hand mit 575.000 Quadratmetern neuer Gewerbeflächen auf wertvollen Ackerböden. Und das in einer Stadt, die jetzt schon den höchsten Flächenverbrauch pro Person in Österreich aufweist.
Doch es gibt auch Lichtblicke, auf die Seiß seine Kamera richtet. Lienz in Osttirol, wo man die Verkehrsberuhigung im Stadtkern gegen die Kassandrarufe der Wirtschaft durchsetzte. Ottensheim in Oberösterreich mit seiner Schiffsverbindung nach Linz. Das norddeutsche Bremen mit seiner konsequenten Pro-Fahrrad-Politik. „Es geht schlicht darum, was wir als Lebensqualität definieren“, sagt Seiß. „Die Art der Fortbewegung spielt dafür eine wesentliche Rolle.“
Nicht nur das Thema erinnert an die BR-Dokumentation aus dem Jahr 1964, sondern auch der Tonfall. Denn als Sprecher wählte Seiß den bayerischen Kabarettisten Christian Springer, der die automobilen Welten mit rollendem R und rustikalem Sarkasmus dialektgefärbt kommentiert. Für Seiß eine Reminiszenz an seine Jugend auf dem Land, als der Bayerische Rundfunk ein Fenster zur Welt aufmachte. „Wienerisch wäre zu bösartig, aber Bairisch ist charmant und treffsicher, gemütlich und gfeanzt.“
Das stimmt zwar, doch nach zwei Stunden wird der süffisante Tonfall, in dem die Fehlleistungen „der Politiker, der Architekten und der Neubaugebiete“ kommentiert werden, zu einer etwas einseitigen und eintönigen Dialektik. Mehr Fakten, Daten und andere Stimmen hätten viele der Argumente gegen den Autowahn ergänzen und objektiv untermauern können. Doch die Stoßrichtung stimmt, und wenn es darum geht, die 180-Grad-Verkehrswende hinzubekommen, kann eine gute Dosis Polemik nicht schaden.
Zahllose Dokumentar- und Spielfilme über den Menschen und sein Verhältnis zum Auto sind in diesen 60 Jahren erschienen, von Jacques Tatis Trafic (1971) über David Cronenbergs Crash (1996) bis zu Daniel Abmas Autobahn (2019). Der Tenor ist ähnlich: Das Automobil dominiert unsere Köpfe, unsere Körper, unsere Städte und unser Land. Aber stimmt das noch? Gibt es nicht längst Begegnungszonen, Pop-up-Radwege, Lastenrad-Initiativen, kurz: die Verkehrswende?
Hört man manchen Stimmen der bundesdeutschen Politik zu, scheint sich seit 1964 nicht viel getan zu haben. In Berlin verkündete die neue Stadtkoalition nach der Senatswahl 2023, sie wolle „keinen Parkplatz opfern“, die zur „Spaß-haben-Geld-verdienen-danach-alles-egal“-Partei mutierte FDP erfindet immer absurdere Argumente gegen ein Tempolimit, und eine endlose Abfolge von anderstalentierten Verkehrsministern, die im blauen Dunst der Autoindustrie ihr Biotop fand, trieb die Deutsche Bahn in die dysfunktionale Anarchie und machte sie zum Gespött Europas. Und Österreich? Wir haben zwar keine dominante Autoindustrie, sind aber anscheinend, wie Bundeskanzler Karl Nehammer letztes Jahr verkündete, ein „Autoland“.
Es liegt also vieles im Argen. Dieser Überzeugung ist auch der Filmemacher Reinhard Seiß. Der studierte Raumplaner ist so etwas wie der Wutbürger der österreichischen Baukultur, seit er 2007 mit seinem Buch Wer baut Wien? den Finger in viele noch heute schwärende Wunden legte. Aber er zeigt auch, wie es besser geht, etwa 2013 in seinem Film Häuser für Menschen.
Schadensfall Auto
Beides tut er auch in seinem neuen Film Der automobile Mensch – Irrwege einer Gesellschaft und mögliche Auswege, der am kommenden Montag im Wiener Gartenbaukino seine Premiere feiert. Mehr als vier Jahre lang hat er daran gearbeitet, biblische 373 Minuten lang ist das Ergebnis, aber keine Angst, sagt Seiß, niemand müsse sich das ganz anschauen. Stattdessen lassen sich die 51 Kapitel nach Bedarf zusammenstellen. Was hat ihn dieses Mal auf die Straße getrieben? „Es gibt wenige Dinge, die so irrational und von so vielen absurden Behauptungen geprägt sind wie unser Verhältnis zum Autoverkehr“, sagt er. Ein Beispiel von vielen: Der immer noch beliebte Sager vom Autofahrer als „Melkkuh der Nation.“
Der Film nimmt uns auf eine Autofahrt durch Österreich, Deutschland und die Schweiz, zeigt, wie nach dem längst widerlegten Motto „One more lane will fix it“ immer noch neue Straßen gebaut werden, auch dort, wo man sie eigentlich gar nicht braucht. Verkehrsforscher wie Hermann Knoflacher, der Grandseigneur der Autokritik, kommen zu Wort, aber oft sprechen die Bilder von zähflüssigem Verkehr auf leinwandbreitem Mehrspurasphalt für sich. Das Auto – ein Schadensfall für die Gesellschaft.
Dabei zielt Seiß darauf, die von ihm diagnostizierten absurden Behauptungen zu widerlegen. Etwa das oft vorgebrachte „Schön und gut, aber auf dem Land brauchst du halt das Auto!“ Das stimmt zwar, aber ist kein Naturgesetz. Dass es auch anders geht, zeigen die Szenen aus der Schweiz. Der Postbus, der mehrmals am Tag im 300-Einwohner-Dorf Waltensburg in Graubünden hält, dank schweizweit koordinierten Takts mit der Bahn so abgestimmt, dass man es in zwei Stunden nach Zürich schafft. Die Bahnen, die von Supermarktketten zum Warentransport genutzt werden, mit Containern, die an kleinen Dorfbahnhöfen verladen werden. Und nein – das macht der Film deutlich – das vermeintliche Argument „Ja gut, das ist halt die Schweiz“ ist keines. „Es sind keine ominösen Mächte, die diese Verhältnisse schaffen, sondern immer Entscheidungen der Politik“, betont Seiß.
Flächenfraß-Turbo
Wenn es heißt, man brauche eben Straßen, weil man sonst nicht schnell genug von A nach B komme, wird gerne unterschlagen, dass die Irrwege aus Asphalt nicht nur lineare Verbindungen sind, sondern auch ein Turbo-Generator für Flächenfraß. Die Lobau-Autobahn würde nicht nur Abgase in die Natur pusten, sondern auch einen neuen Gewerbe-Speckgürtel in Wiens Nordosten erzeugen, und die umstrittene Ostumfahrung Wiener Neustadt ginge Hand in Hand mit 575.000 Quadratmetern neuer Gewerbeflächen auf wertvollen Ackerböden. Und das in einer Stadt, die jetzt schon den höchsten Flächenverbrauch pro Person in Österreich aufweist.
Doch es gibt auch Lichtblicke, auf die Seiß seine Kamera richtet. Lienz in Osttirol, wo man die Verkehrsberuhigung im Stadtkern gegen die Kassandrarufe der Wirtschaft durchsetzte. Ottensheim in Oberösterreich mit seiner Schiffsverbindung nach Linz. Das norddeutsche Bremen mit seiner konsequenten Pro-Fahrrad-Politik. „Es geht schlicht darum, was wir als Lebensqualität definieren“, sagt Seiß. „Die Art der Fortbewegung spielt dafür eine wesentliche Rolle.“
Nicht nur das Thema erinnert an die BR-Dokumentation aus dem Jahr 1964, sondern auch der Tonfall. Denn als Sprecher wählte Seiß den bayerischen Kabarettisten Christian Springer, der die automobilen Welten mit rollendem R und rustikalem Sarkasmus dialektgefärbt kommentiert. Für Seiß eine Reminiszenz an seine Jugend auf dem Land, als der Bayerische Rundfunk ein Fenster zur Welt aufmachte. „Wienerisch wäre zu bösartig, aber Bairisch ist charmant und treffsicher, gemütlich und gfeanzt.“
Das stimmt zwar, doch nach zwei Stunden wird der süffisante Tonfall, in dem die Fehlleistungen „der Politiker, der Architekten und der Neubaugebiete“ kommentiert werden, zu einer etwas einseitigen und eintönigen Dialektik. Mehr Fakten, Daten und andere Stimmen hätten viele der Argumente gegen den Autowahn ergänzen und objektiv untermauern können. Doch die Stoßrichtung stimmt, und wenn es darum geht, die 180-Grad-Verkehrswende hinzubekommen, kann eine gute Dosis Polemik nicht schaden.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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