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Das Torfmoor bei Budapest: Naturlehrpfad statt Parkplatz
Spectrum

Zivilgesellschaftlicher Protest bewahrte das Torfmoor in der ungarischen Stadt Dunakeszi vor der Verbauung. Nun lädt ein Lehrpfad zu spannenden Erkundungen ein.

26. April 2024 - Franziska Leeb
Naturlehrpfade präsentieren sich üblicherweise recht rustikal, als architektonische Aufgabe werden sie dagegen selten wahrgenommen. Anders verhält es sich beim Schildkröten-Lehrpfad von Dunakeszi in Ungarn. Dieser führt durch ein Torfmoor, außerhalb der nördlichen Stadtgrenze von Budapest, direkt neben dem Einkaufszentrum des internationalen Konzerns Auchan, der über eine Immobilientochter zugleich Bauherr ist. Es gibt eine langwierige und komplizierte Vorgeschichte, die Kurzversion lautet, dass wir ohne den langen Atem einer zivilgesellschaftlichen Protestbewegung anstelle der Moorlandschaft hier ein Parkhaus mit Tausenden Stellplätzen besichtigen müssten.

Das Moor von Dunakeszi ist einer der wenigen Überreste eines großen zusammenhängenden Feuchtgebietes in der Region um Budapest. Zu dessen Dezimierung hat schon die Donauregulierung beigetragen, viel mehr aber noch die Entwicklungen der allerjüngsten Vergangenheit, die mit Autostraßen und Gewerbe-Agglomerationen samt den damit einhergehenden Zu- und Abfahrten die Landschaft unwiederbringlich versiegelten.

Immerhin: In dem kleinen verbliebenen Gebiet gibt es eine abwechslungsreiche und dichte Vegetation, die für 50 Vogelarten geeignete Nistplätze anbietet. Selten sichtbar, aber für den Lehrpfad namensgebend und der Star des Moors ist die vom Aussterben bedrohte Sumpfschildkröte (Emys orbicularis), die hier die geeignete Nahrungsgrundlage und die ideale Bodenstruktur zum Brüten vorfindet.

Bevor das sensible Ökosystem verschwunden war, kapitulierte der Handelskonzern Auchon schließlich und investierte statt in einen weiteren Parkplatz in den Naturlehrpfad. Ganz uneigennützig – das gibt man auch zu – ist das Engagement freilich nicht. Direkt vom Parkplatz des Shoppingcenters den Zugang zu einem einzigartigen Naturerlebnis zu haben ist ein Alleinstellungsmerkmal, und umgekehrt kalkuliert man damit, dass die Naturliebhaber sich aus dem Moor ins Kaufhaus locken lassen. Beim Lokalaugenschein an einem regnerischen Tag ist jedenfalls beides gut besucht.

Das mit der Planung beauftragte junge Budapester Architekturbüro Paradigma Ariadné ist bekannt für spannende Interventionen, die aus der Auseinandersetzung mit der Topografie und lokalen Bautraditionen sowie der Kunstgeschichte und Architekturtheorie gespeist sind. Den drei Inhabern, Attila Róbert Csóka, Szabolcs Molnár und Dávid Smiló, ist es in kurzer Zeit gelungen, im internationalen Architekturdiskurs wahrgenommen zu werden. Im Wiener Architektur-Ausstellungsraum Magazin präsentierten sie vor fünf Jahren die Resultate ihrer Beschäftigung mit den für Ungarn typischen Würfelhäusern. Indem sie mit ihren Bauten Geschichten erzählen und die Vorstellungskraft der Rezipienten stimulieren, schaffen sie trotz ihrer konzeptuellen Herangehensweise im besten Sinne populäre Bauten. So übersetzten sie beim vor drei Jahren fertiggestellten Büffellehrpfad in einem schilfbedeckten Natura-2000-Gebiet in Sándorfalva Geometrien mitteleuropäischer landwirtschaftlicher Bauten in heiter anmutende, vertraut wirkende Baustrukturen.

Für den Schildkrötenlehrpfad stand das surrealistische Gemälde „Die Blankovollmacht“ (im Original „Le Blanc-Seing“) von René Magritte Pate. Es zeigt eine Reiterin im dichten Wald, ein an sich banales Sujet, das durch die irritierende Darstellung, die mit räumlichen Beziehungen und dem Davor und Dahinter spielt, fesselt. Paradigma Ariadné entwickelten aus diesem Bild der geschichteten Zwischenräume abgestufte architektonische Elemente aus einer geometrischen Grundform.

Sie dienen als Ausstellungspavillons, Aussichtspunkte und Klettergerüste. In Blau – jener Farbe, die in der Natur am seltensten vorkommt – werden sie als künstlicher Eingriff kenntlich gemacht. Mit „The Blue Signature“ übertitelten die Architekten, angelehnt an das englische Bild „The Blank Signature“, daher den Entwurf, mit dem sie 2022 die Ausschreibung gewannen.

Das Spiel mit dem Davor und Dahinter, das Changieren zwischen real und irreal, zwischen künstlicher Intervention und harmonischem Aufgehen in der Landschaft, bestimmt die Architektur des Lehrpfades. „Wir wollten kein falsches Gefühl von naiver Natürlichkeit erzeugen, sondern deutlich machen, dass der Pfad ein Eindringling in der Natur ist“, erklärt Architekt Szabolcs Molnár. Während der viermonatigen Bauzeit verbrachte er viel Zeit im Moor, da Paradigma Ariadné erstmals in der Bürogeschichte als Generalunternehmer beauftragt war und somit die Errichtung des Lehrpfades verantwortete. Die fachliche Betreuung übernahmen die Expertinnen des Nationalparks Donau-Ipoly.

Ein rund 900 Meter langer Rundweg verbindet die einzelnen Stationen. Auf festem Boden, der bei feuchtem Wetter rasch matschig wird, halten auf Staffelhölzern gelagerte Holzbohlen die Füße trocken. Da sie auch als Bänke dienen, können sich so ganze Schulklassen an verschiedenen Stellen zur Rast niederlassen. Über die Feuchtgebiete und die zwei permanenten Teiche führen schmale Holzbrücken, die mit Erdschrauben nach dem Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs im Boden verankert sind. Die schlichten Fachwerkgeländer werden früher oder später von den vor Ort vorhandenen Kletterpflanzen umrankt sein, sodass irgendwann nur noch die blauen Pavillons zwischen den Grüntönen des Laubs hervorleuchten werden.

Sehr schnell hat man nach Eintritt in den Lehrpfad die Unwirtlichkeit der Stadtperipherie vergessen und taucht ein in einen magischen Ort, fühlt sich entschleunigt und eins mit der Natur – und ist zugleich froh, dass eine kultivierte Struktur Halt und Sicherheit gibt. Ansprechende Informationsgrafiken erklären, wie Moore entstehen, welche Rolle sie im Kampf gegen den Klimawandel spielen, zudem werden Geologie, Fauna und Flora des Dunakeszi-Moors erläutert. Alles zwar nur auf Ungarisch, aber der Schildkrötenlehrpfad ist allein schon wegen seiner architektonischen Lösung und ihrer Integration in die Natur einen Besuch wert. Die Botschaften, die man von hier mitnimmt: Es lohnt sich, für den Erhalt von Natur zu kämpfen. Und: Architektur kann ein Mittel sein, um das Naturverständnis auf einer emotionalen und intellektuellen Ebene zu fördern.

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