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Bürogebäude »HORTUS« in Allschwil (CH)
Das Postulat ökologischen Bauens kam in diesem Fall von der Bauherrschaft. Das Resultat: ein Bürobau, der zeigt, was möglich ist, wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen und aus Experimenten ein Modellfall wird.
Eines der größten Entwicklungsgebiete der Region Basel liegt westlich der Metropole am Rheinknie, auf dem Gebiet der Gemeinde Allschwil und unmittelbar an der französischen Grenze.
Ein beliebiges generisches Gewerbegebiet wollte man vermeiden, und so entstand die Idee eines auf Life Sciences ausgerichteten Innovationsparks – Basel ist Pharmastandort par excellence. Der Switzerlands Innovation Park Basel Area (SIP) wird zwar im Sinne des Standort-Marketings öffentlich getragen und promotet; Entwicklung und Vermietung der Grundstücke erfolgen aber nach rein ökonomischen Kriterien. Einen großen Teil der Parzellen erwarb 2017 das Ostschweizer Immobilienunternehmen Senn, das seit dem gemeinsam mit Herzog & de Meuron errichteten Archiv- und Wohngebäude Helsinki auf dem Dreispitz-Areal in Basel (2007–14) intensiv mit dem Büro zusammenarbeitet. Vier der fünf Bauten, die Senn in Allschwil realisiert, wurden ebenfalls von Herzog & de Meuron entworfen. 2023 erfolgte die Eröffnung des gewaltigen, um einen eindrucksvollen bewaldeten Hofgarten gruppierten Main Campus HQ, des größten Gebäudes auf dem Areal. Die fünfgeschossige Betonstruktur, für Labornutzungen konzipiert, wird von in den Ecken situierten Treppenhäusern aus erschlossen und lässt sich bei Bedarf in bis zu acht Mieteinheiten pro Geschoss unterteilen.
Ökologisches Modellprojekt
Im Mai dieses Jahres wurde nun das benachbarte Gebäude »HORTUS« eingeweiht: 64,5 x 52 m, 23 m hoch, 12 500 m² Geschossfläche. Der Name verweist auf den von Piet Oudolf entworfenen Garten im Innenhof, er ist aber auch ein Akronym für House of Research, Technology, Utopia and Sustainability. Seit jeher interessieren sich Herzog & de Meuron für unprätentiöse Baumaterialien wie beim Steinhaus im italienischen Tavole (1988), dem Ricola-Lagerhaus in Laufen (1987) oder dem ebendort errichteten Kräuterzentrum mit seiner Stampflehmkonstruktion (2012); auch das Baumaterial Holz findet immer wieder Verwendung – vom Wohnhaus an der Hebelstrasse in Basel (1988) über das Naturbad in Riehen (2014) bis hin zu den diversen Bauten auf dem Chäserugg (2013–25). Dabei lag der Fokus aber stets eher auf der Einfachheit des Materials im Sinne der Arte povera oder dem Bezug zum Ort als auf den expliziten Kriterien der Nachhaltigkeit. Die Initiative zum ökologischen Bauen ging denn auch in diesem Fall nicht von den Architekten aus, sondern von dem 1965 gegründeten Familienunternehmen Senn; dieses war mit der Forderung angetreten, ein »radikal nachhaltiges Gebäude« zu realisieren.
Nachhaltigkeit bleibt allzu oft Lippenbekenntnis und kaschiert Greenwashing; HORTUS aber ist ein Bauwerk, bei dem das Thema ernst genommen wurde wie selten zuvor. Es ist in jeder Hinsicht ein experimentelles Projekt, aber unter den Rahmenbedingungen der Realität. Will heißen: Hier sind keine Subventionen geflossen, und das Gebäude muss sich als Mietobjekt auf dem Markt behaupten.
Die Vorgaben zu erfüllen bedeutete, auf CO2-intensive sowie hybride, also nicht sortenrein demontierbare Baumaterialien soweit immer möglich zu verzichten. Um den Einsatz von Beton zu minimieren, gibt es keine Unterkellerung: Das Gebäude ist vom Boden gelöst und ruht lediglich auf betonierten Punktfundamenten. Im Sommer zirkuliert damit die Luft unter dem Bauwerk, im Winter wird der Kälteeintrag reduziert; die Treppenläufe bestehen aus Stahl und lassen sich ausbauen oder notfalls ohne Materialverlust einschmelzen. Beton wird wie derzeit üblich auch nicht für aussteifende Kerne oder in den Decken verwendet. Und verleimte Brettschichtholzkonstruktionen kamen nur dort im Inneren zum Einsatz, wo sie aus konstruktiven Gründen unverzichtbar waren.
Um der Idee einer radikalen Nachhaltigkeit gerecht zu werden, arbeiteten Herzog & de Meuron mit den Ingenieuren ZPF, der Holzbaufirma Blumer Lehmann sowie dem Unternehmen Lehm Ton Erde des Vorarlberger Lehmbaupioniers Martin Rauch zusammen, der auch schon die Fassaden für das Ricola-Kräuterzentrum entwickelt hatte.
Lehmgewölbe aus der Feldfabrik
Die eigentliche Erfindung von HORTUS stellen die Deckenelemente dar, die eigens für das Projekt entwickelt wurden. Dabei handelt es sich um Vollholz-Rahmenkonstruktionen mit eingestampften Lehmgewölben von 12 cm Dicke. Sie vereinen verschiedene Vorteile: Sie lassen sich sortenrein zerlegen und recyceln, sie stellen eine thermische Masse dar, welche mit ihrer Trägheit das Binnenklima unterstützt – und sie gewähren überdies den Brandschutz. Dank der Bodenbeschaffenheit vor Ort konnte das Material aus einer Mischung von Lehm sowie lehmigem und sandigem Schotter mit Hilfe einer Feldfabrik auf einer Nachbarparzelle gewonnen und in die Holzrahmen integriert werden. Positiver Nebeneffekt: Das System ist inzwischen perfektioniert und lässt sich in verschiedenen Maßen für welche Bauprojekte auch immer einsetzen.
HORTUS ist fünfgeschossig und umschließt vierseitig den Gartenhof, der selbst nicht betreten werden kann, aber ringsum wie in einem japanischen Haus von einer Art von Engawa umgeben ist, also einer umlaufenden Terrasse. Das Erdgeschoss bietet Bereiche, die allen Mietenden, aber auch Externen offen stehen: ein Café-Restaurant, ein Fitnessstudio und zumietbare Besprechungs- und Konferenzräume in verschiedenen Größen.
Die vier Geschosse darüber lassen sich, ähnlich wie im viel größeren SIP Main Campus, flexibel unterteilen. Mit dem Unterschied, dass es sich hier um ein Büro- und kein Laborgebäude handelt. Das machte einen deutlich engeren Stützenraster möglich und erlaubte überdies einen deutlich geringeren Luftaustausch pro Stunde: Muss die Luft nebenan siebenmal gewechselt werden, reicht hier der Faktor 1,5. Eine mechanische Lüftung wurde eingebaut, die Fenster lassen sich aber auch manuell öffnen. Mächtige Holzstützen, die aufgrund der seismisch prekären Situation in der Region Basel verstrebt werden mussten, prägen die Räume. Je nach Traglast wechseln die Holzarten.
Solarpaneele auf dem Dach und in den Fassadenbändern, insgesamt 5 000 m², erzeugen so viel Energie, dass die Erstellung des Baus sich in 31 Jahren kompensiert hat.
Kein Mieterausbau
Angesprochen als Mieter werden kleine und mittlere Unternehmen, die Büroflächen von 200 bis 2 000 m² benötigen. Senn hat sich dazu entschieden, nicht im Rohbau zu vermieten, sondern den Innenausbau samt Trennwänden selbst durch Herzog & de Meuron realisieren zu lassen. Wer hier einzieht, muss also nur Mobiliar und Equipment mitbringen, alles andere ist vorhanden, auch beispielsweise die Teeküchen, die man sich gegebenenfalls auf Geschossebene mit den Nachbarn teilt. Das trägt zu einer hohen gestalterischen Konsistenz im Inneren bei, verhindert aber auch die am Ende zur umfassenden Entsorgung führende Materialschlacht, die bei mieterspezifischem Innenausbau üblich ist. Die Kosten, die man sich für den individuellen Innenausbau spart, investiert man in den gegenüber Vergleichsobjekten etwas höheren Mietpreis. Für Senn ist HORTUS eine komplizierte Kalkulation: Gegenüber einem konventionellen Massivbau waren die Erstellungskosten mit all ihren Experimenten kostenintensiver. Der Verzicht auf eine Unterkellerung reduzierte die Zahl der nutzbaren Kubikmeter und verhinderte die Auslagerung von Technik- und Lagerräumen in das Untergeschoss. All das war am Ende nur finanziell tragfähig, so Senn, weil man das Grundstück vergleichsweise kostengünstig erwerben konnte. Und weil die Flächen durch Auslagerung von gemeinschaftlich genutzten, und das heißt: nur temporär benötigten Flächen so effizient organisiert sind, dass die Mietenden weniger Fläche benötigen, dafür aber mehr pro Quadratmeter zahlen. Kommt hinzu, dass die Ästhetik überzeugt. Wie Jacques Herzog anlässlich der Eröffnung konstatierte: Entscheidend für die Nachhaltigkeit ist nicht zuletzt, dass man sich gerne in einem Gebäude aufhält und dort arbeitet. Denn nur diese Akzeptanz, vielleicht sogar Liebe garantiert Erfolg und damit dauerhaften Erfolg einer Immobilie.
Dresden lässt den Beton schweben – das neue Archiv der Avantgarden
Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben einen weiteren Standort erhalten: das Archiv der Avantgarden (ADA). Der Sammlungsbestand ist ebenso grossartig wie das von Nieto Sobejano umgebaute historische Blockhaus am Ufer der Elbe.
Was für ein Glück für Dresden: 2016 schenkte der Kunstsammler Egidio Marzona sein Archiv der Avantgarden dem Freistaat Sachsen. Der in Bielefeld geborene Italiener, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, begann mit dem Sammeln Ende der sechziger Jahre und trat zunächst als Galerist und Verleger in Erscheinung. Er begann im Umfeld von Arte povera und Konzeptkunst, weitete sein Sammlungsspektrum dann aber auf nahezu sämtliche Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts aus, die sich mit dem Begriff der Avantgarde verbinden lassen.
Das Besondere: Marzona konzentriert sich nicht allein auf die Kunstwerke selber, sondern auch auf den Kontext ihres Entstehens. Die Sammlung mit derzeit ungefähr 1,5 Millionen Positionen – Marzona sammelt unermüdlich weiter – umfasst auch Korrespondenz, Einladungskarten, Gelegenheitszeichnungen, Manuskripte und andere Ephemera. Insofern ist der Titel Archiv berechtigt, auch wenn die Paarung mit dem Begriff der gemeinhin vergangenheitsblinden Avantgarden zunächst als Widerspruch erscheinen mag.
Avantgarde in Dresden
Einen kleineren Kunstbestand überliess Marzona 2002 den Staatlichen Museen in Berlin. Dresden erhielt schliesslich den Zuschlag, weil die Stadt das Angebot machte, das Archiv als Ganzes zu bewahren und nicht in bestehenden Sammlungsinstitutionen aufgehen zu lassen. Zudem ist ein Archiv der Avantgarden für die notorisch barockfixierte Stadt an der Elbe vielleicht auch von grösserer Bedeutung als für Berlin.
Es geht immer wieder vergessen, dass auch Dresden Stadt der Avantgarde war – man denke nur an die Expressionisten der Brücke, das Projekt Hellerau mit dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze vor dem Ersten Weltkrieg oder das nach dem Mauerfall lancierte, aber leider unrealisierte Kunsthallenprojekt des jüngst verstorbenen Frank Stella.
Und ja, es gibt auch bemerkenswerte zeitgenössische Architektur. Man mag an das Militärhistorische Museum (2011) denken, ein ehemaliges Kasernenareal in der Nordstadt, das durch Daniel Libeskind umgebaut wurde; die szenografische Präsentation stammt massgeblich vom Zürcher Büro Holzer Kobler, das zwei Jahre später auch den Mathematisch-Physikalischen Salon im Zwinger neu gestaltete.
Auch dass Nieto Sobejano den Zuschlag für das Archiv der Avantgarden (ADA) erhielten, ist ein Glücksfall. Das Architekturbüro, 1984 von Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano in Madrid gegründet und inzwischen mit einer Dépendance auch in Berlin ansässig, hat sich auf Museumsbauten spezialisiert. Und ist damit europaweit erfolgreich. Es sind Neubauten, wie das Arvo-Pärt-Zentrum in der Nähe von Tallinn (2018), vor allem aber Umbauten – das Universalmuseum Joanneum in Graz (2012) und das Museum Moritzburg in Halle an der Saale (2008) zählen zu den wichtigsten.
Einen besseren Standort in Dresden als den des ADA könnte man kaum finden. Es handelt sich um das sogenannte Blockhaus an der Nordseite der Augustusbrücke, welche die historische Altstadt im Stadtzentrum mit der Dresdner Neustadt verbindet. Die Distanz zum vergangenheitsschwangeren Stadtkern ist konzeptionell durchaus von Vorteil – man muss das andere Ufer aufsuchen und ist doch von der Semperoper, der Frauenkirche oder dem Zwinger zu Fuss in ein paar Minuten dort.
Der am sächsischen Hof tätige französische Architekt Zacharias Longuelune hatte den Ursprungsbau am nordwestlichen Brückenkopf als Neustädter Wache 1732 errichtet; mehrfach umgebaut, fiel sie dem Bombardement der Stadt im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Aus der Ruine wurde um 1980 das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das älteren Dresdnern durch sein exquisit (und auch für DDR-Verhältnisse) ausgestattetes Restaurant in Erinnerung ist. Mit der institutionalisierten Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war dann nach der Wende Schluss, und das Elbehochwasser des Jahres 2013 setzte der Nutzung des Gebäudes ein neuerliches Ende.
Keine Änderungen am Äusseren, das mit seiner gesprenkelten Fassade noch die Versehrungen des Kriegs zeigt – und Rekonstruktion der historischen Dachgestalt: Das waren die Forderungen der Denkmalpflege. Nähert man sich dem ADA also vom Stadtzentrum aus über die Augustusbrücke oder aus der Neustadt über den Platz am Goldenen Reiter – mit dem legendären Denkmal August des Starken –, so deutet eigentlich nichts auf den Umbau hin.
Umso überraschender ist es, wenn man in das Gebäude tritt. Nieto Sobejano hatten innerhalb des Volumens freie Hand und haben unterhalb des Dachs in das erhaltene Mauergeviert einen dreigeschossigen Kubus aus Beton gehängt. Er enthält das Archiv: zuoberst die Kunst, in der Mitte die Dokumente, zuunterst dreidimensionale Sammlungsstücke wie Design oder Möbel.
Die Last dieses mächtigen, aber wie schwebend erscheinenden Betonvolumens wird zum Teil über im Obergeschoss sichtbare Kragarme an den Ecken des Gebäudes abgetragen, aber auch horizontal in die Mauerschale eingeleitet. Einerseits ist die Idee, die Archivalien in die Höhe zu stemmen, eine Antwort auf die Hochwassersituation in Dresden. Und anderseits: Was könnte der Avantgarde angemessener sein als der Versuch, das Material Beton von seiner Schwerkraft zu befreien und zum Schweben zu bringen?
Aktivieren des Archivs
Das architektonische Konzept ist eigentlich simpel, es beschränkt sich auf wenige Elemente und Materialien: die Wände – innen gedämmt und weiss verputzt – und den schwebenden Kubus aus perfekt geschaltem Sichtbeton. Auf Unterteilungen wurde so weit wie möglich verzichtet. Der Ausstellungsraum im Erdgeschoss ist nicht geteilt, Entrée, Garderobe, Kasse und Ausstellungsfläche bilden ein Kontinuum. Eine Wendeltreppe hinten ermöglicht den Zugang zur Galerie mit Bibliothek und Räumen, in denen in die Sammlungsbestände Einsicht gewährt wird.
Achim Heine, Möbel- und Produktdesigner aus Berlin, hat die Einrichtung dieses Geschosses realisiert, das als Ausstellungs- und Arbeitsbereich zugleich dient. In einer der Vitrinen liegt das 1925 erschienene Buch «Die Kunstismen» von Hans Arp und El Lissitzky, das durchaus nicht frei von Ironie die Avantgarde in einzelne Richtungen gegliedert hat. Für Marzona bedeutete die Konfrontation mit dieser Publikation ein Schlüsselerlebnis. Und weil das Ordnungsprinzip seiner Sammlung darauf basiert, bildet es gewissermassen den Grundstein des ADA.
Tagsüber ist das ADA Gruppen oder an den Archivbeständen interessierten Nutzern vorbehalten. Erst nachmittags und abends öffnet es für das allgemeine Publikum. Unter dem Ausstellungsraum des Erdgeschosses befindet sich das öffentliche Café Fahrenheit 451. Zur Eröffnung und passend zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Surrealismus ist nun die Ausstellung «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls» zu sehen.
Kuratiert von Przemysław Strożek, wurde die Schau von Formafantasma aus Mailand gestaltet. Auf die rohen Betonwände wird der Film «Dreams That Money Can Buy» (1947) projiziert, bei dem unter der Regie von Hans Richter unter anderem Max Ernst, Marcel Duchamp, Fernand Léger, Man Ray, Alexander Calder und – für die Musik – John Cage mitwirkten. Er bildet das Scharnier zwischen dem ersten Ausstellungsteil mit der surrealistischen Ära der Vorkriegszeit und dem zweiten, in dem das Nachwirken nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema wird.
[ «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls», Archiv der Avantgarden, Dresden, bis 1. September, Katalog. ]
Schutzraum
Kongresszentrum »Verrucano« in Mels (CH)
Durch bauliche Interventionen und einen neuen Platz soll die Identität von Mels im Schweizer Kanton St. Gallen gestärkt werden. Schlüsselprojekt ist das Kultur- und Gemeindezentrum, das v. a. von der überaus aktiven lokalen Vereinsszene genutzt wird.
Die Trasse der Autobahn Zürich – Chur trennt Mels – zu Füßen des bei Wandernden und Skifahrenden gleichermaßen beliebten Pizol gelegen – von der durch den Halt der Fernzüge bekannteren Ortschaft Sargans. Der historische Dorfkern von Mels zählt heute zu den schützenswerten Ortsbildern der Schweiz von nationaler Bedeutung; kommt man mit dem Bus von Sargans, muss man ihn aber erst einmal finden. Anders ausgedrückt: Zuerst passiert man an der Autobahnabfahrt die Shopping- und Gewerbezentren Pizolpark und Pizolcenter, dann ausgedehnte suburbane Siedlungsbereiche der vergangenen Jahrzehnte. Die Expansion von Mels begann zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert, als sich auf einer Höhenterrasse oberhalb des Talbodens dank der nutzbaren Wasserkraft eine Spinnerei und Weberei ansiedelte; die mächtigen, weithin sichtbaren Volumina wurden vom Architekturbüro Meier Hug zu Wohnzwecken umgebaut, die Ergänzung durch Anbauten dauert an. Sukzessive vergrößerte sich der Siedlungsbereich im Tal, sodass Mels und Sargans heute wie zusammengewachsen erscheinen. Auch der historische Kern mit dem Dorfplatz an der Schnittstelle zwischen Ober- und Unterdorf wurde über die Jahrzehnte durch Zubauten entstellt.
Stärkung der Identität
Das Gemeinde- und Kongresszentrum Verrucano ist Teil einer umfassenderen Strategie, der schleichenden Nivellierung entgegenzuwirken und den historischen Dorfkern wieder zu stärken – visuell, strukturell, aber auch hinsichtlich seiner Attraktivität für die Bevölkerung. Alles begann 2009, als der Gemeinderat den Entschluss fasste, private Parzellen im Zentrum zu erwerben, um eine Neustrukturierung zu ermöglichen. Nachdem die Landkäufe durch eine Urnenabstimmung bewilligt worden waren, konnte auf Basis einer Machbarkeitsstudie 2013 ein offener Projektwettbewerb ausgeschrieben werden. Dieser umfasste drei Teile: die Erweiterung des Rathauses, ein neues Kulturzentrum und einen neuen, sich zwischen diesen Bauten und dem lang gestreckten Dorfplatz sich aufspannenden zusätzlichen öffentlichen Freiraum. Sieger wurde das 2007 von Beat Loosli in Rapperswil gegründete Büro raumfindung architekten. »Das Projekt pinot noir besticht insgesamt durch eine hervorragende Einpassung beider Baukörper in die vorhandenen Dorfstrukturen mit wohlproportionierten und gut gestalteten Außenräumen und durchwegs attraktivem Erdgeschossbereich«, attestierte die Jury dem Projekt. Ausgeführt wurde das Vorhaben – eine leichte Mehrheit des Stimmvolks hatte die Kosten von 31,5 Mio. CHF im März 2015 bewilligt – in den Jahren 2017 bis 2020, was zur Folge hatte, dass die Eröffnung direkt in die Zeit der Coronapandemie fiel und der Betrieb erst langsam Fahrt aufnehmen konnte.
Einfügung in den Kontext
Kommt man heute nach Mels, so überzeugt zunächst einmal die städtebauliche Lösung. Durch den Abriss eines deplatzierten Mehrfamilienhauses und die Verbannung der Autos in die neue Tiefgarage entstand eine quer zum annähernd nordsüdlich ausgerichteten Dorfplatz orientierte Platzerweiterung. Diese wird auf der Nordseite von historischen Bauten wie dem Restaurant Traube gesäumt, während das Rathaus, ursprünglich ein vom prominenten St. Galler Klassizisten Felix Wilhelm Kubly (1802-72) entworfenes Wohnhaus, und der hinsichtlich der Kubatur ähnliche Erweiterungsbau die südliche Platzkante bilden. Den Abschluss im Osten bildet das Verrucano, mit dessen polygonaler Grundrissfigur raumfindung die zur Verfügung stehende Fläche geschickt ausgenutzt hat. Die Eingangsfront orientiert sich zum neu entstandenen Platz hin, die südliche Fassade des abgeknickten Baukörpers hingegen fügt sich in die Flucht der Wangserstraße ein. Vis-à-vis haben die Architekten vor der Post ein neues Bushaltestellenhäuschen errichtet, das unzweideutig die Gestaltungselemente des Kulturzentrums aufgreift.
Aus dem Pinot noir des Wettbewerbs, der an die Weinbautradition von Mels erinnerte, ist nun Verrucano geworden. Unter diesem Namen ist der vor Ort abgebaute rötliche Schiefer bekannt. Die Architekten haben ihn nicht nur bei der Gestaltung des neuen Platzes eingesetzt, sondern auch für den Terrazzo im Inneren des Kulturzentrums verwendet. Und natürlich kann man die rot gestrichenen Holzfassaden auch als Reverenz an den lokalen Stein verstehen. Anders als der Erweiterungsbau des Rathauses, der sich außen in hohem Maß neutral zeigt, tritt das Verrucano schon aufgrund seiner Farbigkeit zu Recht als exzeptionelles Volumen, als Haus für Feste und Feiern in Erscheinung. Doch es übertrumpft seine Umgebung nicht, dominiert nicht den Platz und gibt sich nicht als aufmerksamkeitsherrschender Meteorit, der ins Dorfzentrum eingeschlagen ist. Über dem Betonsockel als Holzbau errichtet, atmet es ganz bewusst leicht den Hauch des Provisorischen, als handele es sich um eine hölzerne Festhütte inmitten des Gemeinwesens.
Im Kontext des Dorfs wirkt das Verrucano mit seiner die Satteldächer des historischen Kerns visuell paraphrasierenden Dachlandschaft angemessen, denn schließlich ist es keine Eventlocation, für die Besucherinnen und Besucher von weit her anreisen, sondern ein Haus, das primär von den über 80 in Mels ansässigen Vereinen genutzt wird. Dazu zählen Chöre, Turnvereine, die Musikgesellschaft, die Fasnachtsgesellschaft und der Trachtenverein, um nur einige zu nennen. Ein heterogenes Nutzungsspektrum mithin, zu dem sich ab und an auch das Sinfonieorchester St. Gallen mit Auftritten hinzugesellt.
Multifunktional, aber ausdrucksstark
Veranstaltungsort bisher war der in die Jahre gekommene Hallenbau Löwensaal, ein blechverkleidetes Ungetüm. Mit dem neuen großen Saal im Verrucano ist nun endlich ein freundlicher und festlicher Veranstaltungsort für alle Bedürfnisse entstanden – mit großer multifunktionaler und gut ausgestalteter Bühne sowie rückwärtiger Galerie. Mit seinen insgesamt 744 Sitzplätzen bei Konzertbestuhlung, dem umlaufenden Fries von Diffusoren, die auch die Rückwand bestimmen, und den drehbaren, im oberen Bereich der Seitenwände installierten Holzelementen, die schallabsorbierend oder schallreflektierend wirken können, kann der trapezförmige Saal für unterschiedliche Musik- oder Theatervorführungen mit ihren jeweiligen akustischen Anforderungen genutzt werden. Doch darüber hinaus finden hier auch ganz andere Veranstaltungen statt: Bankette, Bälle, Kino, Seminare. Entsprechend variantenreich ist auch die mögliche Lichtstimmung: große Oberlichter lassen den hölzernen Saal hell und freundlich erscheinen, können aber auch verdunkelt werden. Ein ausgeklügeltes Lichtkonzept zieht sich durch das ganze Haus und ermöglicht eine stimmungsvolle Beleuchtung: feierlich, aber unprätentiös.
Das Verrucano, dessen räumliche Erschließung ein z-förmiges Foyer bildet, umfasst noch weitere Veranstaltungsräume. Der größte davon ist der Vereinssaal Runggalina im EG. Backstage mit dem Löwensaal verbunden, kann er auch als Vorbereitungsraum für die Nutzer der großen Bühne fungieren. Darüber ist im OG der Raum Ragnatsch angeordnet, der primär als Übungsraum der Musikgesellschaft Konkordia dient; zum Platz hin schließlich orientiert sich der Saal Gafarra, vom Foyer aus durch das Treppenhaus erschlossen.
Voller Begeisterung erzählt die Schauspielerin und Kulturmanagerin Eva Maron, seit 2019 Geschäftsführerin des Verrucano, von ihrer Tätigkeit und von dem, was das Haus alles vermag. Der Erfolg der Initiative, welche der Gemeinderat vor 13 Jahren angestoßen hat, ist allenthalben spürbar. Maron freut sich insbesondere über die große Flexibilität der Räumlichkeiten und die informell nutzbaren Foyerzonen, die auch, nicht zuletzt dank der Vordächer, in den Außenbereich ausstrahlen und ihrerseits zur Belebung des Dorfkerns beitragen. Ein Café im Foyer einzurichten, für das die Infrastruktur vorhanden ist, hat sich mangels Nachfrage nicht als realistisch erwiesen. Aber dass bei einem derartigen – nicht nur finanziellen – Kraftakt, wie ihn die Realisierung des Verrucano erforderte, auch Widerstände bestehen, ist selbstverständlich. Die Gemeinde subventioniert die Nutzung des Hauses für die Vereine, die Geschäftsführung ist aber überdies auch für die zur Querfinanzierung nötige Vermietung an Externe verantwortlich. Mit zwei Personen lässt sich der aufwändige Betrieb aber kaum stemmen, sodass wohl oder übel in naher Zukunft Schließtage eingeplant werden müssen. Eigentlich schade, denn das Verrucano samt seiner neu gestalteten Umgebung ist wahrlich ein Gewinn.