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Dresden lässt den Beton schweben – das neue Archiv der Avantgarden
Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden haben einen weiteren Standort erhalten: das Archiv der Avantgarden (ADA). Der Sammlungsbestand ist ebenso grossartig wie das von Nieto Sobejano umgebaute historische Blockhaus am Ufer der Elbe.
28. Mai 2024 - Hubertus Adam
Was für ein Glück für Dresden: 2016 schenkte der Kunstsammler Egidio Marzona sein Archiv der Avantgarden dem Freistaat Sachsen. Der in Bielefeld geborene Italiener, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, begann mit dem Sammeln Ende der sechziger Jahre und trat zunächst als Galerist und Verleger in Erscheinung. Er begann im Umfeld von Arte povera und Konzeptkunst, weitete sein Sammlungsspektrum dann aber auf nahezu sämtliche Kunstströmungen des 20. Jahrhunderts aus, die sich mit dem Begriff der Avantgarde verbinden lassen.
Das Besondere: Marzona konzentriert sich nicht allein auf die Kunstwerke selber, sondern auch auf den Kontext ihres Entstehens. Die Sammlung mit derzeit ungefähr 1,5 Millionen Positionen – Marzona sammelt unermüdlich weiter – umfasst auch Korrespondenz, Einladungskarten, Gelegenheitszeichnungen, Manuskripte und andere Ephemera. Insofern ist der Titel Archiv berechtigt, auch wenn die Paarung mit dem Begriff der gemeinhin vergangenheitsblinden Avantgarden zunächst als Widerspruch erscheinen mag.
Avantgarde in Dresden
Einen kleineren Kunstbestand überliess Marzona 2002 den Staatlichen Museen in Berlin. Dresden erhielt schliesslich den Zuschlag, weil die Stadt das Angebot machte, das Archiv als Ganzes zu bewahren und nicht in bestehenden Sammlungsinstitutionen aufgehen zu lassen. Zudem ist ein Archiv der Avantgarden für die notorisch barockfixierte Stadt an der Elbe vielleicht auch von grösserer Bedeutung als für Berlin.
Es geht immer wieder vergessen, dass auch Dresden Stadt der Avantgarde war – man denke nur an die Expressionisten der Brücke, das Projekt Hellerau mit dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze vor dem Ersten Weltkrieg oder das nach dem Mauerfall lancierte, aber leider unrealisierte Kunsthallenprojekt des jüngst verstorbenen Frank Stella.
Und ja, es gibt auch bemerkenswerte zeitgenössische Architektur. Man mag an das Militärhistorische Museum (2011) denken, ein ehemaliges Kasernenareal in der Nordstadt, das durch Daniel Libeskind umgebaut wurde; die szenografische Präsentation stammt massgeblich vom Zürcher Büro Holzer Kobler, das zwei Jahre später auch den Mathematisch-Physikalischen Salon im Zwinger neu gestaltete.
Auch dass Nieto Sobejano den Zuschlag für das Archiv der Avantgarden (ADA) erhielten, ist ein Glücksfall. Das Architekturbüro, 1984 von Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano in Madrid gegründet und inzwischen mit einer Dépendance auch in Berlin ansässig, hat sich auf Museumsbauten spezialisiert. Und ist damit europaweit erfolgreich. Es sind Neubauten, wie das Arvo-Pärt-Zentrum in der Nähe von Tallinn (2018), vor allem aber Umbauten – das Universalmuseum Joanneum in Graz (2012) und das Museum Moritzburg in Halle an der Saale (2008) zählen zu den wichtigsten.
Einen besseren Standort in Dresden als den des ADA könnte man kaum finden. Es handelt sich um das sogenannte Blockhaus an der Nordseite der Augustusbrücke, welche die historische Altstadt im Stadtzentrum mit der Dresdner Neustadt verbindet. Die Distanz zum vergangenheitsschwangeren Stadtkern ist konzeptionell durchaus von Vorteil – man muss das andere Ufer aufsuchen und ist doch von der Semperoper, der Frauenkirche oder dem Zwinger zu Fuss in ein paar Minuten dort.
Der am sächsischen Hof tätige französische Architekt Zacharias Longuelune hatte den Ursprungsbau am nordwestlichen Brückenkopf als Neustädter Wache 1732 errichtet; mehrfach umgebaut, fiel sie dem Bombardement der Stadt im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Aus der Ruine wurde um 1980 das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das älteren Dresdnern durch sein exquisit (und auch für DDR-Verhältnisse) ausgestattetes Restaurant in Erinnerung ist. Mit der institutionalisierten Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war dann nach der Wende Schluss, und das Elbehochwasser des Jahres 2013 setzte der Nutzung des Gebäudes ein neuerliches Ende.
Keine Änderungen am Äusseren, das mit seiner gesprenkelten Fassade noch die Versehrungen des Kriegs zeigt – und Rekonstruktion der historischen Dachgestalt: Das waren die Forderungen der Denkmalpflege. Nähert man sich dem ADA also vom Stadtzentrum aus über die Augustusbrücke oder aus der Neustadt über den Platz am Goldenen Reiter – mit dem legendären Denkmal August des Starken –, so deutet eigentlich nichts auf den Umbau hin.
Umso überraschender ist es, wenn man in das Gebäude tritt. Nieto Sobejano hatten innerhalb des Volumens freie Hand und haben unterhalb des Dachs in das erhaltene Mauergeviert einen dreigeschossigen Kubus aus Beton gehängt. Er enthält das Archiv: zuoberst die Kunst, in der Mitte die Dokumente, zuunterst dreidimensionale Sammlungsstücke wie Design oder Möbel.
Die Last dieses mächtigen, aber wie schwebend erscheinenden Betonvolumens wird zum Teil über im Obergeschoss sichtbare Kragarme an den Ecken des Gebäudes abgetragen, aber auch horizontal in die Mauerschale eingeleitet. Einerseits ist die Idee, die Archivalien in die Höhe zu stemmen, eine Antwort auf die Hochwassersituation in Dresden. Und anderseits: Was könnte der Avantgarde angemessener sein als der Versuch, das Material Beton von seiner Schwerkraft zu befreien und zum Schweben zu bringen?
Aktivieren des Archivs
Das architektonische Konzept ist eigentlich simpel, es beschränkt sich auf wenige Elemente und Materialien: die Wände – innen gedämmt und weiss verputzt – und den schwebenden Kubus aus perfekt geschaltem Sichtbeton. Auf Unterteilungen wurde so weit wie möglich verzichtet. Der Ausstellungsraum im Erdgeschoss ist nicht geteilt, Entrée, Garderobe, Kasse und Ausstellungsfläche bilden ein Kontinuum. Eine Wendeltreppe hinten ermöglicht den Zugang zur Galerie mit Bibliothek und Räumen, in denen in die Sammlungsbestände Einsicht gewährt wird.
Achim Heine, Möbel- und Produktdesigner aus Berlin, hat die Einrichtung dieses Geschosses realisiert, das als Ausstellungs- und Arbeitsbereich zugleich dient. In einer der Vitrinen liegt das 1925 erschienene Buch «Die Kunstismen» von Hans Arp und El Lissitzky, das durchaus nicht frei von Ironie die Avantgarde in einzelne Richtungen gegliedert hat. Für Marzona bedeutete die Konfrontation mit dieser Publikation ein Schlüsselerlebnis. Und weil das Ordnungsprinzip seiner Sammlung darauf basiert, bildet es gewissermassen den Grundstein des ADA.
Tagsüber ist das ADA Gruppen oder an den Archivbeständen interessierten Nutzern vorbehalten. Erst nachmittags und abends öffnet es für das allgemeine Publikum. Unter dem Ausstellungsraum des Erdgeschosses befindet sich das öffentliche Café Fahrenheit 451. Zur Eröffnung und passend zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Surrealismus ist nun die Ausstellung «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls» zu sehen.
Kuratiert von Przemysław Strożek, wurde die Schau von Formafantasma aus Mailand gestaltet. Auf die rohen Betonwände wird der Film «Dreams That Money Can Buy» (1947) projiziert, bei dem unter der Regie von Hans Richter unter anderem Max Ernst, Marcel Duchamp, Fernand Léger, Man Ray, Alexander Calder und – für die Musik – John Cage mitwirkten. Er bildet das Scharnier zwischen dem ersten Ausstellungsteil mit der surrealistischen Ära der Vorkriegszeit und dem zweiten, in dem das Nachwirken nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema wird.
[ «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls», Archiv der Avantgarden, Dresden, bis 1. September, Katalog. ]
Das Besondere: Marzona konzentriert sich nicht allein auf die Kunstwerke selber, sondern auch auf den Kontext ihres Entstehens. Die Sammlung mit derzeit ungefähr 1,5 Millionen Positionen – Marzona sammelt unermüdlich weiter – umfasst auch Korrespondenz, Einladungskarten, Gelegenheitszeichnungen, Manuskripte und andere Ephemera. Insofern ist der Titel Archiv berechtigt, auch wenn die Paarung mit dem Begriff der gemeinhin vergangenheitsblinden Avantgarden zunächst als Widerspruch erscheinen mag.
Avantgarde in Dresden
Einen kleineren Kunstbestand überliess Marzona 2002 den Staatlichen Museen in Berlin. Dresden erhielt schliesslich den Zuschlag, weil die Stadt das Angebot machte, das Archiv als Ganzes zu bewahren und nicht in bestehenden Sammlungsinstitutionen aufgehen zu lassen. Zudem ist ein Archiv der Avantgarden für die notorisch barockfixierte Stadt an der Elbe vielleicht auch von grösserer Bedeutung als für Berlin.
Es geht immer wieder vergessen, dass auch Dresden Stadt der Avantgarde war – man denke nur an die Expressionisten der Brücke, das Projekt Hellerau mit dem Schweizer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze vor dem Ersten Weltkrieg oder das nach dem Mauerfall lancierte, aber leider unrealisierte Kunsthallenprojekt des jüngst verstorbenen Frank Stella.
Und ja, es gibt auch bemerkenswerte zeitgenössische Architektur. Man mag an das Militärhistorische Museum (2011) denken, ein ehemaliges Kasernenareal in der Nordstadt, das durch Daniel Libeskind umgebaut wurde; die szenografische Präsentation stammt massgeblich vom Zürcher Büro Holzer Kobler, das zwei Jahre später auch den Mathematisch-Physikalischen Salon im Zwinger neu gestaltete.
Auch dass Nieto Sobejano den Zuschlag für das Archiv der Avantgarden (ADA) erhielten, ist ein Glücksfall. Das Architekturbüro, 1984 von Fuensanta Nieto und Enrique Sobejano in Madrid gegründet und inzwischen mit einer Dépendance auch in Berlin ansässig, hat sich auf Museumsbauten spezialisiert. Und ist damit europaweit erfolgreich. Es sind Neubauten, wie das Arvo-Pärt-Zentrum in der Nähe von Tallinn (2018), vor allem aber Umbauten – das Universalmuseum Joanneum in Graz (2012) und das Museum Moritzburg in Halle an der Saale (2008) zählen zu den wichtigsten.
Einen besseren Standort in Dresden als den des ADA könnte man kaum finden. Es handelt sich um das sogenannte Blockhaus an der Nordseite der Augustusbrücke, welche die historische Altstadt im Stadtzentrum mit der Dresdner Neustadt verbindet. Die Distanz zum vergangenheitsschwangeren Stadtkern ist konzeptionell durchaus von Vorteil – man muss das andere Ufer aufsuchen und ist doch von der Semperoper, der Frauenkirche oder dem Zwinger zu Fuss in ein paar Minuten dort.
Der am sächsischen Hof tätige französische Architekt Zacharias Longuelune hatte den Ursprungsbau am nordwestlichen Brückenkopf als Neustädter Wache 1732 errichtet; mehrfach umgebaut, fiel sie dem Bombardement der Stadt im Zweiten Weltkrieg zum Opfer. Aus der Ruine wurde um 1980 das Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft, das älteren Dresdnern durch sein exquisit (und auch für DDR-Verhältnisse) ausgestattetes Restaurant in Erinnerung ist. Mit der institutionalisierten Deutsch-Sowjetischen Freundschaft war dann nach der Wende Schluss, und das Elbehochwasser des Jahres 2013 setzte der Nutzung des Gebäudes ein neuerliches Ende.
Keine Änderungen am Äusseren, das mit seiner gesprenkelten Fassade noch die Versehrungen des Kriegs zeigt – und Rekonstruktion der historischen Dachgestalt: Das waren die Forderungen der Denkmalpflege. Nähert man sich dem ADA also vom Stadtzentrum aus über die Augustusbrücke oder aus der Neustadt über den Platz am Goldenen Reiter – mit dem legendären Denkmal August des Starken –, so deutet eigentlich nichts auf den Umbau hin.
Umso überraschender ist es, wenn man in das Gebäude tritt. Nieto Sobejano hatten innerhalb des Volumens freie Hand und haben unterhalb des Dachs in das erhaltene Mauergeviert einen dreigeschossigen Kubus aus Beton gehängt. Er enthält das Archiv: zuoberst die Kunst, in der Mitte die Dokumente, zuunterst dreidimensionale Sammlungsstücke wie Design oder Möbel.
Die Last dieses mächtigen, aber wie schwebend erscheinenden Betonvolumens wird zum Teil über im Obergeschoss sichtbare Kragarme an den Ecken des Gebäudes abgetragen, aber auch horizontal in die Mauerschale eingeleitet. Einerseits ist die Idee, die Archivalien in die Höhe zu stemmen, eine Antwort auf die Hochwassersituation in Dresden. Und anderseits: Was könnte der Avantgarde angemessener sein als der Versuch, das Material Beton von seiner Schwerkraft zu befreien und zum Schweben zu bringen?
Aktivieren des Archivs
Das architektonische Konzept ist eigentlich simpel, es beschränkt sich auf wenige Elemente und Materialien: die Wände – innen gedämmt und weiss verputzt – und den schwebenden Kubus aus perfekt geschaltem Sichtbeton. Auf Unterteilungen wurde so weit wie möglich verzichtet. Der Ausstellungsraum im Erdgeschoss ist nicht geteilt, Entrée, Garderobe, Kasse und Ausstellungsfläche bilden ein Kontinuum. Eine Wendeltreppe hinten ermöglicht den Zugang zur Galerie mit Bibliothek und Räumen, in denen in die Sammlungsbestände Einsicht gewährt wird.
Achim Heine, Möbel- und Produktdesigner aus Berlin, hat die Einrichtung dieses Geschosses realisiert, das als Ausstellungs- und Arbeitsbereich zugleich dient. In einer der Vitrinen liegt das 1925 erschienene Buch «Die Kunstismen» von Hans Arp und El Lissitzky, das durchaus nicht frei von Ironie die Avantgarde in einzelne Richtungen gegliedert hat. Für Marzona bedeutete die Konfrontation mit dieser Publikation ein Schlüsselerlebnis. Und weil das Ordnungsprinzip seiner Sammlung darauf basiert, bildet es gewissermassen den Grundstein des ADA.
Tagsüber ist das ADA Gruppen oder an den Archivbeständen interessierten Nutzern vorbehalten. Erst nachmittags und abends öffnet es für das allgemeine Publikum. Unter dem Ausstellungsraum des Erdgeschosses befindet sich das öffentliche Café Fahrenheit 451. Zur Eröffnung und passend zum Hundert-Jahr-Jubiläum des Surrealismus ist nun die Ausstellung «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls» zu sehen.
Kuratiert von Przemysław Strożek, wurde die Schau von Formafantasma aus Mailand gestaltet. Auf die rohen Betonwände wird der Film «Dreams That Money Can Buy» (1947) projiziert, bei dem unter der Regie von Hans Richter unter anderem Max Ernst, Marcel Duchamp, Fernand Léger, Man Ray, Alexander Calder und – für die Musik – John Cage mitwirkten. Er bildet das Scharnier zwischen dem ersten Ausstellungsteil mit der surrealistischen Ära der Vorkriegszeit und dem zweiten, in dem das Nachwirken nach dem Zweiten Weltkrieg zum Thema wird.
[ «Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls», Archiv der Avantgarden, Dresden, bis 1. September, Katalog. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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