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Pariser Bäume statt Wiener Kiesbeete
Spectrum

Kühlende Maßnahmen wie dichte Bepflanzung werden in Städten immer wichtiger – aber schwer umsetzbar: In Wien will man es allen recht machen und hat Angst vor der wuchernden Natur.

28. Juni 2024 - Harald A. Jahn
Dieser Zaun schützt Jungpflanzen“, steht auf einem Schild an einem Kiesbeet in der Neubaugasse. Einige Kletterpflanzen arbeiten sich an einer Nirosta-Konstruktion nach oben, daneben sprüht ein Nebelbrunnen Schwaden über den Gehsteig. Das Schild hängt seit drei Jahren am Holzzaun, die niederen Gräser dahinter überzeugen nicht so recht.

Sprung nach Paris: Dort werden Projekte zur konsequenten Begrünung enger Stadtstraßen verfolgt. Oft sind die bepflanzten Bereiche nur 50 cm breit, trotzdem ist eine dichte Kulisse von Kleingehölzen entstanden. Ein Bild, das selbstverständlich sein sollte, und doch sehen auch die fortschrittlichsten Städte Europas noch nicht lange so aus. Erst seit etwa zehn Jahren hat die Pariser Stadtregierung den Kampf gegen den Klimawandel als wichtiges Ziel definiert, im Juli 2019 wurde sie von der Natur bestätigt: Bis auf 42 Grad stieg das Thermometer.

Individuen, die Freiräume besetzen, erregen Misstrauen

Auch in Wien wurde vor einigen Jahren die Dringlichkeit der Situation deutlich: Eine Serie von immer neuen Rekordsommern hat begonnen, der Klimawandel wurde zum allgemeinen Thema. Trotzdem findet man in Wien kaum neue Grünräume, die man als Oasen bezeichnen könnte: Umgestaltete „klimafitte“ Straßen sind weiterhin nur Steinflächen mit vereinzelten Bäumchen. Sie stehen in Kiesbeeten, die niedrigen Wildblumen und Gräser sind hinter den Staketenzäunen kaum zu sehen – sich unter einem Baum in den Schatten zu setzen ist so nicht möglich. Darüber hinaus ist das die einzige Art der Begrünung, ob auf vorstädtischen Verkehrsinseln, in dicht bewohnten Stadtbezirken oder auf wertvollen historischen Plätzen wie dem Neuen Markt oder bald dem Michaelerplatz. Wann ist eigentlich die Gartenkunst im urbanen Stadtbild verloren gegangen?

Es ist vor allem die Vorschriftenflut, auf die sich die zuständigen Stellen berufen, aber auch die unterschiedliche Wahrnehmung des öffentlichen Raums in Frankreich und Österreich. Seit der Revolution von 1789 ist die Straße in Paris der Ort, an dem die Gesellschaft ihre Werte verhandelt. Hierzulande hat die Politik seit Metternich große Angst vor ungeregelten Nutzungen. Individuen, die Freiräume besetzen, erregen Misstrauen; nichts soll das gewohnte, ordentliche Stadtbild stören. Die Folge ist nicht nur „defensive Architektur“, sondern auch in Zaum gehaltene, allzu übersichtliche Grünräume, die obendrein möglichst wenig Kosten verursachen sollen.

Das Verwachsen wird vermieden

An der Ringstraße pflanzte man einst alle sechs Meter einen Baum, um möglichst schnell schattige Spazierwege zu erhalten – die Damen der Gesellschaft sollten wenig Sonne abbekom­men. Bei späteren Pflanzungen wurden die Abstände weiter, die letzten größeren Alleen wie die Mariahilfer Straße erhielten etwa alle zehn Meter einen Baum: Die Baumkronen berühren sich, ein durchgehendes Blätterdach entsteht. Heute vermeidet man das Verwachsen. Bäume gelten am „leistungsfähigsten“, wenn sie sich ungehindert ausbreiten können, auf Parkplätze wird viel Rücksicht genommen, auch allzu starke Beschattung für Anrainer der unteren Geschoße soll vermieden werden: Man möchte es allen recht machen. Dazu kommen viele äußere Zwänge, von bestehenden Erdleitungen bis zu Forderungen der Feuerwehr, die mit der Leiter ungehindert zu den Fenstern kommen will. Für die Brandbekämpfer lauern überall Gefahren, was dazu führt, dass Kletterpflanzen nur eine gewisse Höhe erreichen sollen – hier wird die Ausbreitung von Bränden durch Fassadenbegrünung befürchtet. Doch sterben inzwischen mehr Menschen durch die Hitze als durch Zimmerbrände, was kaum eine Schlagzeile wert ist.

Aber auch in Bodennähe werden die Sicherheitsansprüche inzwischen absurd: Dichte Bepflanzung wird vermieden, um keine „Angsträume“ entstehen zu lassen – in einer der sichersten Städte der Welt werden idyllische Parks ebenso wie voluminöses Straßengrün abgeholzt, um freie Durchblicke zu ermöglichen. Damit sinkt aber die Aufenthaltsqualität ebenso wie die Beschattungswirkung und die Verdunstung; „gendergerechte Planung“ wird missbraucht, um den öffentlichen Raum ungemütlich zu machen. Allerdings haben Untersuchungen in den USA und in Leipzig ergeben, dass es in begrünter Umgebung tendenziell nicht nur weniger Straftaten, sondern auch ­weniger Depressionserkrankungen gibt: Schönere, menschlichere Umgebung steigert das Wohlbefinden ebenso wie die Sicherheit.

Rosa Tamarisken und Schwammsteine

Zurück zu den knapp 100.000 Wiener Bäumen: Seit die Politik sie als „Klimahelden“ erkannt hat, wird jede Neupflanzung stolz gefeiert – durchaus zu Recht, trotzdem geraten die Relationen manchmal aus dem Fokus. Auch wenn jeder einzelne Baum ein Gewinn ist, macht es die Masse aus. Während im Zentrum fast jede neue Begrünung medienwirksam präsentiert wird, fallen bei Verkehrs- und Stadterweiterungsprojekten Tausende alte Bäume, um durch Nachpflanzungen ersetzt zu werden, die erst in Jahrzehnten nennenswerte Größen erreichen. Gerade dieser alte Baumbestand mit seiner großen Blattfläche ist wertvoll, Jungbäume benötigen immer mehr Pflege, um über die ersten Jahrzehnte zu kommen. Die Fachleute der verantwortlichen Magistratsabteilung 42 werden dabei immer kreativer, um Bäume zu finden, die den Extrembedingungen in der Stadt standhalten.

So überraschen im Frühling an manchen Straßenbahnhaltestellen der Ringstraße rosafarbene Tamarisken: So zart die Triebe sind, so robust sind die Bäume, die ursprünglich an den Brandungen des Mittelmeers wuchsen und damit sehr tolerant gegenüber dem Salzeintrag durch das Streugut sind. Auch mit moderner Technik versucht man, dem Salz zu begegnen; derzeit sind mit Sensoren voll gepackte „Schwammsteine“ in Erprobung, die die salzhaltige Lauge abweisen, nach dem ersten Schwall das weniger kontaminierte Was­ser aber in die Baumscheibe leiten sollen.

All das mag aufwendig sein, im Vergleich zu den derzeitigen Ausgaben für Straßenverkehrsstrukturen ist es aber zu wenig. Verwendet man die Ressourcen, um zum „Hierbleiben“ einzuladen, oder opfert man sie, um Straßen fürs schnelle „Fortkommen“ aufzurüsten? Das ist die Frage, die sich heutige Metropolen stellen müssen. Städte waren immer Orte des Aufenthalts, nicht des Transits. Das Umfeld so zu gestalten, dass die Bürger auch im Sommer nicht fliehen müssen: Das ist die Aufgabe der Stadt der Zukunft.

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