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Das Wunder von Tulln
Der Standard

Wo einst ein asphaltierter Parkplatz für 210 Autos war, erstreckt sich nun ein grüner, klimafitter Park mit Bäumen, Blumenbeeten und Fotospots für frisch vermählte Pärchen. Ein Besuch auf dem kürzlich eröffneten Nibelungenplatz.

6. Juli 2024 - Wojciech Czaja
Der kleine Chihuahua hat es sich auf der Holzpritsche bequem gemacht, liegt eingerollt im Schatten des Tischerls und kläfft plötzlich den sich anpirschenden Journalisten an. „Wir hätten uns nie gedacht, irgendwann einmal hier zu sitzen und eine Picknickpause zu machen“, sagen Andreas und Michelle, er Elektrotechniker, sie Kindergartenpädagogin, zwischen ihnen die Einkäufe eines ganzen Samstagnachmittags. „Wenn man weiß, wie es hier früher mal ausgesehen hat, dann weiß man auch: Dieser Platz war die Hölle! Nun ist hier ein kleines Paradies entstanden, ein neuer Park mit Holzbänken und viel Grün rundherum, und das mitten in Tulln. Einfach großartig.“
Wiese statt Asphaltwüste

Der Nibelungenplatz zwischen Altstadt und Donauufer, der sich wie ein Hufeisen um das ehemalige Minoritenkloster und das nunmehrige Rathaus und Gemeindeamt schmiegt, ist ein Erfolgsbeispiel für grünen Stadtumbau im ländlichen, niederösterreichischen Raum. Wo einst ein Parkplatz für über 200 Autos war, eine Asphaltwüste für hektotonnenweise Blech auf Rädern, erstreckt sich nun eines von Österreichs größten Projekten für klimaadaptiven Umbau. Insgesamt wurden 8000 Quadratmeter Boden entsiegelt, stattdessen gibt es nun Wiesen, Stauden, Blumenbeete sowie 38 neu gepflanzte Schwammstadtbäume, darunter Eschen, Eichen, Ulmen, Hainbuchen und Traubenkirschen.

„Tulln gilt schon seit vielen Jahren als Gartenstadt Österreichs“, sagt der Tullner Bürgermeister Peter Eisenschenk (ÖVP), „bloß war davon rund um das politische und kulturelle Herz dieser Stadt bislang nicht viel zu spüren. Also haben wir beschlossen, den Nibelungenplatz zu entsiegeln und statt in Autoparkplätze in Aufenthaltsqualität und nachhaltige Klimaresilienz zu investieren – denn ein guter öffentlicher, klimatisch adaptierter Platz hat immer auch Einfluss auf den sozialen Zusammenhalt einer Stadt und infolgedessen auch auf das persönliche Wohlbefinden der Bürgerinnen und Bürger.“

Dem Projekt zuvorgegangen war ein monatelanger Bürgerbeteiligungsprozess, bei dem sich die Tullner mit Wünschen und Projektideen einbringen konnten und schließlich aus drei Platzszenarien zwischen Mensch, Natur und Pkw wählen konnten. Die kollektive Wahl fiel zugunsten eines Hybridmodells mit großflächiger Entsiegelung und Renaturierung sowie mit einem zusammengeschrumpften Parkplatz für 54 Autos, die auf Kurzparkzonen-Basis auf wasserdurchlässigen Rasensteinen parken. Bei Flohmärkten und städtischen Veranstaltungen werden die Autos entfernt, und der grün durchwachsene Untergrund wird zum Stadtplatz für Mensch, Bühne und Krimskrams aller Art.
Die Verdrängung der SUVs

Für die Planung verantwortlich zeichnet das Wiener Büro DnD Landschaftsplanung, das sich im Sommer 2022 in einem Wettbewerb mit einem geometrischen Konzept aus Bändern, Blühstreifen und wasserdurchlässigen Flächen durchsetzen konnte. Wo einst VW Golfs und fette SUVs standen, gibt es nun Blumen- und Kräuterflächen, bunt blühende Stauden auf rotem Lavakies sowie Sitz- und Spielmöglichkeiten für die gesamte Bandbreite zwischen Generation Alpha und hochbetagten Senioren. Krönender Abschluss ist ein romantisch inszenierter Fotospot für Trauungen.

„Ohne jeden Zweifel ist dies ein großes, umfangreiches Paradebeispiel für Klimaresilienz und Klimawandelanpassung“, sagt Sabine Dessovic, Partnerin bei DnD, „aber natürlich müssen die technischen und ökologischen Maßnahmen, die man trifft, immer auch im Einklang mit den Menschen stehen. Daher habe ich für jeden einzelnen Quadratmeter, den ich plane, immer eine Art Vision oder Traumszenario, in dem ich mir überlege, wie sich die Menschen hier am liebsten aufhalten würden. Am Ende wird diese soziale Hypothese in eine Form gegossen.“ Zum Beispiel mit Sitzstufen, Arbeitstischen mit USB-Anschluss und einem Wasserspiel im Boden mit 30 Wasser- und Nebeldüsen.

Die politische, soziale und technische Anstrengung im Bereich grüner und blauer Infrastruktur in dieser Größe und Konzentration ist in Österreich einzigartig. Immer noch werden in Niederösterreich einer Studie von WWF und Umweltbundesamt zufolge jeden Tag 2,3 Hektar Boden versiegelt – also die dreifache Menge dessen, was auf dem Nibelungenplatz in jahrelanger, penibler Vorarbeit entsiegelt werden konnte. In Gesamtösterreich sind es immer noch zwölf Hektar pro Tag. Was Klimaresilienz, Biodiversität und Nahrungssouveränität betrifft, kann man die Bilanz mit einem einzigen Wort nur kommentieren: Katastrophe.

„Was? Österreich ist auf Platz eins? Ihr seid wirklich Europameister in Sachen Bodenversiegelung?“, meint Joe Reid, Gärtnerin und Landschaftsarchitektin aus Schottland, die auf Kurzurlaub in Österreich ist und mit ihren Freundinnen gerade auf einer der vielen Bänke Platz genommen hat. „Das ist aber ein trauriger Rekord. Dann ist diese lovely Greenery hier ja ein richtiges Anti-Asphalt-Wunder!“

Österreich hat sich vorgenommen, den bundesweiten Bodenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu reduzieren. Tulln ist diesem Ziel – mithilfe aller Parteien im Gemeinderat außer der FPÖ – um 0,8 Hektar näher gekommen.

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