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Profil

Wojciech Czaja, geboren in Ruda Śląska, Polen, ist freischaffender Journalist für Tageszeitungen und Fachmagazine, u.a. für Der Standard, Architektur & Bauforum, VISO, db Deutsche Bauzeitung, und DETAIL. Er ist Autor zahlreicher Wohn- und Architekturbücher, u.a. Wohnen in Wien (2012), Zum Beispiel Wohnen (2012), Überholz (2015) und Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden (2015). Zuletzt erschien HEKTOPOLIS. Ein Reiseführer in hundert Städte im Verlag Edition Korrespondenzen. Er arbeitet als Moderator und leitet Diskussionsrunden in den Bereichen Architektur, Immobilienwirtschaft und Stadtkultur und veranstaltet unter dem Titel Ähm, ja also... Praxis-Workshops zum Thema Kommunikation und Präsentation. Er ist Dozent an der Universität für Angewandte Kunst in Wien sowie an der Kunstuniversität Linz und unterrichtet dort Kommunikation und Strategie für Architekten. Außerdem ist er von 2015 bis 2021 Mitglied im Stadtbaubeirat in Waidhofen an der Ybbs.

Publikationen

Wir spielen Architektur. Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit, Sonderzahl-Verlag, Wien 2005
periscope architecture. gerner gerner plus, Verlag Holzhausen, Wien 2007
Stavba. Die Strabag-Zentrale in Bratislava, Wien/Bratislava 2009
Light/Night. The Nouvel Tower in Vienna, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010
Wohnen in Wien. 20 residential buildings by Albert Wimmer, Springer Verlag, Wien 2012
Zum Beispiel Wohnen. 80 ungewöhnliche Hausbesuche, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2012
Überholz. Gespräche zur Kultur eines Materials, Verlag Anton Pustet, Salzburg 2015
Das Buch vom Land. Geschichten von kreativen Köpfen und g’scheiten Gemeinden, Wien 2015
Der Fuß weiß alles. Markus Scheer, Ecowin Verlag, Wals bei Salzburg 2016
Der Erste Campus, Christian Brandstätter Verlag, Wien 2017
motion mobility. Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien, Park Books, Zürich 2017
Hektopolis. Ein Reiseführer in hundert Städte, Edition Korrespondenzen, Wien 2018

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Artikel

27. Januar 2018 Der Standard

„Werde als Schuft und Faschist dargestellt“

Nach dem Tod von Zaha Hadid im März 2015 hat Patrik Schumacher das Büro übernommen. Das Unternehmen expandiert, doch der neue Chef sorgt seit Anbeginn für medialen Wirbel, weil er den sozialen Wohnbau eliminieren und die Stadt privatisieren will. Ein Gespräch mit dem, wer weiß, vielleicht künftigen Londoner Bürgermeister.

Standard: Welches Erbe hat uns Zaha Hadid hinterlassen?
Schumacher: Zaha Hadid hat uns ein riesiges Œuvre an realisierten Bauten hinterlassen, aber ein noch größeres Œuvre an Baustellen und Projekten, die sich derzeit in der Pipeline befinden.

Standard: Das klingt sehr sachlich. Und das immaterielle Erbe?
Schumacher: Zaha Hadid hat die Architektur neu erfunden. Ihre Architektur war und ist ein Durchbruch im Denken. Ich würde ihr Vermächtnis am ehesten so zusammenfassen: Expressivität in der Arbeit, Vielgestaltigkeit der Formensprachen, eine neue Art von Energie und Kompromisslosigkeit im eigenen Denken und Handeln. Sie ist mit ihrer Leidenschaft bis an die Schmerzgrenze gegangen.

Standard: Gab es nach Zaha Hadids Tod jemals den Gedanken, das Büro zu schließen?
Schumacher: Nein. Es war offen ausgesprochen und sogar testamentarisch festgehalten, dass – wenn ihr jemals etwas zustoßen sollte – das Büro auf jeden Fall weitergeführt werden müsse. Wir haben heute mehr Büros und mit 400 Angestellten mehr Mitarbeiter denn je. Neben unserem Hauptbüro in London gibt es Niederlassungen in New York, Mexiko-Stadt, Dubai, Peking und Hongkong.

Standard: Sie planen gerade ein Hochhaus in New York, und zwar das 666 Fifth Avenue.
Schumacher: Mittlerweile heißt das Projekt 660 Fifth Avenue. Die Kushner Companies haben das Hochhaus umbenannt, um gewisse Assoziationen zu vermeiden.

Standard: Zu spät. Wissen Sie, wel chen Spitznamen das Projekt hat?
Schumacher: Nein. Welchen?

Standard: The Devil’s Dildo.
Schumacher: Oh, verdammt. Der muss neu sein ... Gegen Spitznamen in den Medien ist man machtlos.

Standard: Wie geht es Ihnen mit den Medien?
Schumacher: Das war die große Herausforderung nach Zahas Tod, denn das Hinaustreten, der Kontakt mit den Medien war immer ihre Aufgabe, während ich mich vor allem um Internes gekümmert habe. Den Umgang mit den Medien zu lernen und sich in der Öffentlichkeit zu behaupten – das ist schon eine ziemliche Challenge.

Standard: Vor zwei Jahren haben Sie beim World Architecture Festival in Berlin ein Acht-Punkte-Programm vorgestellt, mit dem Sie einen regelrechten Shitstorm ausgelöst haben. Sie meinten, sozialer Wohnbau müsse eliminiert werden, wohingegen der öffentliche Raum privatisiert werden müsse. Was hat Sie denn da geritten?
Schumacher: Wir befinden uns heute in einer Leistbarkeitskrise. Das Wohnen wird immer teurer, und das liegt nicht zuletzt daran, dass die Politik immer stärker eingreift und im Wohnbau immer restriktivere Planungs- und Bauvorgaben macht. Das macht das Bauen teuer und die Wohnungen mittlerweile unleistbar.

Standard: Mit der Privatisierung soll dieser Trend gestoppt werden?
Schumacher: Ja. Eine der guten Sachen der freien Marktwirtschaft ist, dass der Markt sich ganz von allein regelt, dass er wie ein organisches System ist, in dem auf ganz natürlichem Wege eine Balance entsteht.

Standard: Leistbarkeit für den Kunden fängt dort an, wo es für den Investor uninteressant zu werden beginnt.
Schumacher: Das wissen wir nicht. Wir haben uns diesem Experiment nie gestellt. Bis jetzt haben wir das natürliche Gleichgewicht aus Angebot und Nachfrage jedes Mal aufs Neue mit Vorschriften und Regulativen manipuliert.

Standard: Margaret Thatcher hat in den Achtzigerjahren eine Privatisierungswelle ausgelöst, von der sich Großbritannien bis heute nicht erholt hat. Das Leben in den Händen des freien Marktes wurde nicht billiger, sondern teurer.
Schumacher: Thatcher war für mich, als ich noch jung war, ein rotes Tuch. Im Rückblick betrachtet finde ich sie bewundernswert. Sie ist eine Heroin der Politik. Sie hat das UK gerettet. Und was den Wohnbau betrifft: Rund 50 Prozent aller Neubauwohnungen in London werden heute für den sozialen Wohnungsmarkt errichtet. Damit müssen die anderen, freifinanzierten 50 Prozent diese geförderten 50 Prozent wirtschaftlich mittragen. Das macht den Wohnungsmarkt in London verdammt teuer. Ich nenne Ihnen noch ein Beispiel: Viele private Bauträger melden seit vielen Jahren schon Interesse an, leerstehende oder geringfügig genutzte Bürobauten in Wohnungsbau zu konvertieren. Auch hier sind es politische Regulative, die einen solchen Umbau verhindern und dem Markt tausende Wohnungen entziehen. Vor kurzem hat ein Projekt gestartet, das es geschafft hat, diese Regulative punktuell außer Kraft zu setzen. Wir machen selbst mit.

Standard: Und zwar?
Schumacher: Wir arbeiten an sogenannten Mehrhaushaltseinheiten. Das sind zehn bis 16 Quadratmeter große Miniwohnungen, die durch riesige Wohnbereiche und kollektive Stockwerksküchen miteinander verbunden werden.

Standard: Ein Studentenheim für erwachsene Berufstätige also?
Schumacher: Nein, es geht um ein Wohnhaus mit hochwertigen gemeinschaftlichen Mehrwertbereichen. Und es geht darum zu untersuchen, wie man ungenutzte Bürobauten wieder einer sinnvollen Nutzung zuführen kann. Wir sind derzeit in der Studienphase.

Standard: Das wäre im Rahmen des sozialen Wohnbaus nicht möglich?
Schumacher: Nein. Es gibt zu viele Regeln, die ein solches sozialinnovatives Experiment verunmöglichen. Die Bürokraten nehmen jungen Bürgerinnen und Bürgern zentrale Entscheidungsmöglichkeiten weg.

Standard: Wie und wo wohnen Sie denn selbst?
Schumacher: Ich wohne sehr zentral in Islington.

Standard: Auf wie vielen Quadratmetern?
Schumacher: Das kann ich nicht beziffern.

Standard: Sie sind doch ein Architekt mit einem sehr guten räumlichen Vorstellungsvermögen!
Schumacher: Ich denke, das sind so ungefähr 100 Quadratmeter.

Standard: Sollten Sie jemals zum Londoner Bürgermeister gewählt werden, haben Sie einmal gesagt, würden Sie gerne den öffentlichen Raum privatisieren. Warum?
Schumacher: Der öffentliche Raum ist heute stark normiert, er ist steril und langweilig. Mithilfe privater Investoren wäre es möglich, ein deutlich offeneres Spektrum an Freiraumqualitäten zur Verfügung zu stellen – mit repräsentativen, aber auch subkulturellen Angeboten.

Standard: Ein privater Freiraum ist den Interessen des Privateigentümers untergeordnet.
Schumacher: Ich glaube an Vielfalt und unternehmerische Dynamik. Die Gefahr der Exklusion ist nicht so groß, wie alle glauben.

Standard: Soziologen wie etwa Saskia Sassen und Richard Sennett sprechen sich sehr stark gegen Privatisierung aus. Privatisierung, sa gen sie, sei ein Ausverkauf der Stadt.
Schumacher: Ein Thema, viele Standpunkte.

Standard: Wären Sie Eigentümer oder Miteigentümer des Hyde Park, dürfte ich als Nutzer den Park so benützen, wie ich will? Oder würde es dann Vorschriften und Restriktionen geben?
Schumacher: Der Park ist so groß, dass man ihn beispielsweise in verschiedene Zonen gliedern könnte.

Standard: Was gilt in Zone A und was in Zone B?
Schumacher: Das wird jetzt sehr hypothetisch, oder?

Standard: Wie stehen Sie heute zu Ihren damaligen Aussagen?
Schumacher: Ich werde seit damals immer wieder als Schuft und Faschist dargestellt, weil mich die Menschen und Medien falsch verstanden haben. Aber im Grunde genommen ist meine Einstellung nach wie vor die gleiche.

Standard: War die Provokation eigentlich bewusst inszeniert?
Schumacher: Nein. Ich habe diese Reaktionen weder antizipiert noch vorsätzlich geplant. Vielleicht war der Zeitpunkt, ein solches Thesenpapier kurz nach Zahas Tod zu präsentieren, nicht geschickt gewählt. Man darf Fehler machen, wenn man in solche großen Fußstapfen tritt.

Standard: Wird das Büro Zaha Hadid Architects eines Tages selbst als Immobilieninvestor auftreten?
Schumacher: Nein. Patrik Schumacher bleibt bei seinem Leisten.

Standard: Wann werden Sie als Londoner Bürgermeister kandidieren?
Schumacher: In die Politik hinüberzulaufen halte ich immer für möglich.

20. Januar 2018 Der Standard

Wabi-Sabi und das Glück des Wohnens

Der Japaner Yasuo Moriyama wohnt in einem außergewöhnlichen Haus am Stadtrand von Tokio. Die Filmemacher Ila Bêka und Louise Lemoine haben ihn begleitet und dokumentieren, wie schön der bewusste Akt des Wohnens sein kann.

Elfte Minute. Yasuo Moriyama ist gerade im ersten Stock seines Hauses unterwegs, marschiert zwischen tausenden Büchern hin und her, schiebt Bücherregale nach links und nach rechts, sucht nach einem ganz bestimmten Exemplar, die Fenster stehen offen, der Vorhang ist zur Seite geschoben, als von außen plötzlich eine Stimme in den Raum dringt. „Moriyama-San!“ Der Briefträger ist da. Er steht unten, schaut in den ersten Stock hinauf und überreicht dem bloßfüßigen Bewohner, der sich gerade auf den Boden gesetzt hat, die Beine aus dem Fenster baumelnd, die Arme nach unten streckend, ein blaues Päckchen. „Hai! Arigatou gozaimasu!“ Abgang. Und Schnitt.

Die respektvolle, in Japan gebräuchliche Anrede Moriyama-San ist auch Titel des neuen Dokumentarfilms von Ila Bêka und Louise Lemoine. Der 63-minütige, fast wortlose Film, der in den letzten Monaten auf Filmfestivals in London, Leipzig, Moskau, Chicago und Tel Aviv gezeigt wurde und dabei etliche Preise eingeheimst hat, ist nun erstmals auch als Stream (5,85 Euro) und Download (10,94 Euro) für den Privatgebrauch erhältlich. Die beiden französischen Filmemacher begleiten darin mit ihrer Kamera den 65-jährigen Yasuo Moriyama beim Wohnen, Essen, Duschen, Schlafen, Lesen, Grillen, Aufräumen, Filmschauen, Musikhören und beim Meditieren.

Vier Wohnkisten

Und in gewisser Weise ist Moriyama-San selbst schon ein Gebet, eine lustige, skurrile und bisweilen sehr berührende Würdigung der japanischen Wohnkultur und dieses ziemlich außergewöhnlichen Lebensalltags in Tamata am südlichen Stadtrand von Tokio. Vor einigen Jahren schon hat Moriyama das Einfamilienhaus seiner verstorbenen Mutter geerbt, ist nach reichlicher Überlegung jedoch zu dem Entschluss gekommen, es abzureißen und durch einen kleineren Neubau zu ersetzen, der zugleich symbolischer Übergang in einen neuen Lebensabschnitt sein sollte.

Er kontaktierte Ryue Nishizawa vom Tokioter Architekturbüro SANAA, Pritzker-Preisträger 2010, und dieser machte ihm den Vorschlag, ihm nicht nur ein Haus, sondern gleich ein ganzes Dörfchen auf sein gerade einmal 280 Quadratmeter großes Grundstück zu stellen. Die zehn weißen, teilweise mehrgeschoßigen Quader – darunter zwei Badezimmer-Boxen und eine Küchen-Box – sind durch einen offenen, in der Zwischenzeit üppig bewachsenen Garten miteinander verbunden. Vier Wohnkisten nutzt Moriyama für sich selbst, in den anderen wohnen Fremde zur Untermiete.

„Das Wohnkonzept ist genial und zu hundert Prozent auf diesen einen Bauherrn zugeschnitten“, sagt Filmregisseur Ila Bêka, „denn der Architekt hat Moriyama ein Haus vorgeschlagen, mit dem er nun seinen Lebensunterhalt verdienen kann. Das heißt, dass er bis an sein Lebensende nie wieder arbeiten müssen wird. Er verbringt den ganzen Tag damit, seinen Leidenschaften nachzugehen. Er liest, er schaut Kunstfilme, er hört japanische Experimentalmusik. Das Wirtschaftsmodell funktioniert. Moriyama ist ein lebender Poet.“

13. Minute. Moriyama wird in vielen verschiedenen Lebens- und Lesepositionen gefilmt. Auf dem Boden, im Liegen, im Sitzen, im Stehen, auf dem Sessel, auf der Bank, im Bett, auf den Stiegen, auf der Galerie, am offenen Fenster, und wieder baumelnde Beine, hinaus in den Garten. Zwei Minuten später liegt Moriyama am Holzboden, direkt neben dem raumhoch geöffneten Fenster. Der Vorhang flattert im Wind, seine Arme sind hinausgestreckt, sein Kopf ist verdreht, das Buch schwebt irgendwo über der Straße. Moriyama-San ist in seinem Element: „Oh, der Vorhang, die Bäume, der blaue Himmel ... ich mag das!“

Komfort ist etwas Subjektives

In der 38. Minute, ein Schwenk zwischen zwei Häuschen hinaus auf die Straße, geht eine Frau mit weißem Kimono, Holzschlapfen und Tabi-Söckchen durchs Bild. „Mich hat die Lebensweise dieses Menschen sehr berührt“, sagt Ila Bêka, der insgesamt sieben Tage lang bei Moriyama Unterschlupf gefunden hat, „weil sie zeigt, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein, und wie viel dieses Wenige ausmachen kann.“ Dutzende Male pro Tag verlässt Moriyama ein Haus, um ins nächste zu gelangen, bewegt sich fast den ganzen Tag ohne Schuhe durch den Garten, gießt Pflanzen, rettet Tausendfüßer, wäscht sein Aquarium, zündet Kerzen und Räucherstäbchen für seinen verstorbenen Hund an. Und verlässt bei alledem nur selten sein eigenes Dorf.

„Komfort ist etwas Subjektives. Moriyama-San hat eine sonderbare Empfindung davon, was das ist.“ Die Einblendung in der Mitte des Films ist die perfekte Überleitung zur Frage aller Fragen. Der Regisseur zum Bewohner: „Sie schlafen am Boden, einfach so, ohne Bett und ohne Futon?“ Und Moriyama-San, der ein so spitzbübisches Gesicht und einen scheinbar so gesunden Körper wie ein Jugendlicher hat, antwortet: „Ich brauche einfach nur einen Polster, mehr nicht.“ Wabi-Sabi nennt sich die im 16. Jahrhundert begründete Lebensästhetik, die sich darauf konzentriert, Schönheit in den Unvollkommenheiten des Lebens zu finden und sich mit dem Unbequemen, mit dem Unperfekten im eigenen Sein zu arrangieren.

Mehr als ein Dokumentarfilm, ist Moriyama-San ein bis zur letzten Minute inspirierender Denkbeitrag zum heutigen Bauen und Wohnen – und damit eine mehr als dringend benötigte Alternative zu Fixer Upper, Die Bauretter, Die Schäppchenhäuser, Zuhause im Glück und Unser Traum vom Haus , die derzeit die Medienwelt prägen und das gesellschaftliche Kulturgut Wohnen auf eine kaum wiedergutzumachende Weise verkleinbürgerlichen und verblöden lassen. Oder, wie eine der Festivalbesucherinnen in einem Tweet geschrieben hat: „Diesen Film muss jeder gesehen haben.“

5. Januar 2018 Der Standard

Der Zukunftsmacher

John Portman war einer der erfolgreichsten und bedeutendsten Architekten des späten 20. Jahrhunderts. Er prägte die Skylines vieler asiatischer und amerikanischer Städte und erfand einen neuen Hoteltypus. Nun ist er gestorben.

Das Marriott Marquis in Downtown Atlanta ist eines der aufregendsten Hotels der Welt. Wenn sich der gläserne Lift in Bewegung setzt und durch die Schlucht der wie eine Lunge geformten Betongalerien nach oben saust, scheinbar immer schneller werdend, scheinbar immer surrealer durch Raum und Zeit sich fortbewegend, dann ist man gefangen zwischen Faszination und Übelkeit, und der Magen beruhigt sich nicht, ehe die Liftkabine im 52. Stock, 143 Meter über der winzig klein erscheinenden Hotellobby wieder zum Stillstand kommt.

„Ein normales Haus bauen und mit Zimmern befüllen, das kann jeder“, sagte John Portman. „Aber das interessiert mich nicht. Ich möchte in den Menschen Enthusiasmus, ein gewisses Feuer entfachen.“ Das ist ihm gelungen. John Portman hat die amerikanische und asiatische Stadt mitgeprägt – in Atlanta, Georgia, in einem Ausmaß wie kein anderer – und hat mit der schwindelerregenden Atriumlobby einen gänzlich neuen, oftmals kopierten Hoteltypus erfunden. Vergangenen Freitag, am 29. Dezember 2017, ist der Pionier und Ausnahmearchitekt im Alter von 93 Jahren gestorben.

Portmans Stil ist ein Bekenntnis zum großen Maßstab, zum Megastädtischen, zum sogenannten Neofuturismus. In Fachkreisen ist sein Werk bis heute umstritten. Die Gebäude seien brutal, sie würden sich von der Stadt abwenden und dem öffentlichen Raum stets den Rücken kehren, heißt es. Architekturkritiker in aller Welt haben in seinen Bauten Festungen und Betonbunker gesehen. Und so mancher international renommierte Architekt wie etwa Ieoh Ming Pei, der Erbauer der Louvre-Pyramide, hat ihn sogar öffentlich an den Pranger gestellt.

Erstaunlicherweise waren es immer schon die Nutzer, die Bewohner, die Spaziergänger, die Städtereisenden, die ganz normalen Architekturlaien, die sich von seinem brutalistischen Werk aus Beton, Beton und Beton angezogen fühlten. Im Onlinekondolenzbuch, das am Wochenende auf der Website des Architekturbüros eingerichtet wurde, ist die Rede von Vision, von Geschenk, von Dankbarkeit. Einmal wird seine Architektur sogar als „Portman-Magie“ bezeichnet.

„Im Grunde genommen ist es ganz einfach, dem Menschen zu dienen“, sagte Portman 2011 in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Times . „Nehmen Sie einmal als Beispiel den gläsernen Lift. In einer geschlossenen Liftkabine schaut jeder beschämt auf den Boden. In einer gläsernen Liftkabine jedoch kann sich der Geist frei entfalten, und die Leute kommen miteinander ins Gespräch. Architektur sollte wie eine Symphonie sein!“ Seine Häuser sind mehr als nur Begleitmusik. Sie bestehen aus Wasserfällen, kilometerlangen Balkonen und sich drehenden Panoramarestaurants auf dem Dach.

1924 in South Carolina geboren, studierte Portman am Georgia Institute of Technology und gründete 1953, im Alter von nur 29 Jahren, sein eigenes Architekturbüro. Die ersten Jahre waren hart und undankbar. Er hielt sich mit kleineren Projekten für die Jugendorganisation YMCA und Apotheken über Wasser. Ende der Fünfzigerjahre beschloss er, seinem Schicksal einen Tritt zu geben, gründete Americas Mart, eine bis heute florierende Möbelkaufhauskette, eine Art Südstaaten-Ikea, und bildete sich im Bereich Finanz- und Immobilienwesen fort. Er kaufte sein erstes Grundstück und agierte von da an als sein eigener Bauherr, verschaffte sich seine eigenen Aufträge, war Architekt und Developer zugleich.

„Man kann die größten, die schönsten Visionen haben, aber wenn man diese Visionen nicht mit der Realität verheiraten kann, dann bleiben sie nur ein Tagtraum“, sagte Portman. „Für mich ist das wie Yin und Yang, wie Künstler und Businessman in Personalunion, eigentlich sehr praktisch!“ Mit dieser Verve entwickelte und errichtete er unzählige Büro- und Hotelkomplexe in New York, Detroit, Los Angeles, San Francisco – und buchstäblich die halbe Innenstadt von Atlanta.

50 Jahre lang baute er in der Hauptstadt von Georgia ein Hochhaus nach dem anderen, zwei Millionen Quadratmeter in Summe, darunter kein einziger Cent an öffentlichen Geldern, wie er in seinen Vorträgen immer wieder betonte, und verband sie nach und nach mit Plätzen, Stiegen und abenteuerlichen Brücken im 20. Stock. Manche sagen, er hätte auf diese Weise den Prototyp der amerikanischen Downtown vor dem Aussterben bewahrt. Dafür bekam er schon zu Lebzeiten eine ganze Straße gewidmet: den John Portman Boulevard, eine Hochhausschlucht mitten durch sein eigenes Lebenswerk.

In den Achtzigerjahren gründete er eine eigene Hotelkette, The Portman, die er bald an Marriott verkaufen musste. Er erlitt mit seinen immer größer werdenden Developments, mit seinen immer höher werdenden Hochhäusern fast Schiffbruch, häufte Schulden in der Höhe von rund zwei Milliarden US-Dollar an und konzentrierte sich von da an auf den asiatischen Immobilienmarkt, auf Jakarta, Schanghai sowie Singapur.

Bis zuletzt verbrachte John Portman, der das Unternehmen 1998 seinem Sohn Jack übergab, fast jeden Tag im Büro. „Ich schaue nicht gern zurück. Ich habe mein ganzes Leben lang damit verbracht, nach vorn zu blicken und nach vorn zu gehen. Das werde ich bis zuletzt tun, denn ein Fisch muss schwimmen, und ein Vogel muss fliegen.“ In der Skyline der Stadt hinterlässt er ein enormes Erbe.

30. Dezember 2017 Der Standard

Die Macht der Baracke

Wie kann man billig Wohnraum schaffen? Das ist eine dringliche Frage für die Townships Südafrikas. Der Architekt Hubert Klumpner hat ein Haus für 9000 Euro entwickelt – und ist damit für den RIBA Award 2018 nominiert.

Das Bett steht, der Vorhang ist montiert, die Uhr hängt gut sichtbar gleich neben dem Kalender. Es ist 14.33 Uhr, früher als gedacht. Ein paar Tage lang nur musste die Familie bei den Nachbarn Unterschlupf finden. Gemeinsam mit Freunden, Bekannten und Handwerkern aus der Nachbarschaft wurde gemauert, gesägt und geschraubt. Eine Woche später war das Haus bezugsfertig.

Khayelitsha am südöstlichsten Zipfel von Kapstadt, eingebettet zwischen Küste, Autobahn und Naturschutzgebiet, ist die zweitgrößte Township Südafrikas. Mehr als 400.000 Menschen leben hier, 99 Prozent Schwarzafrikaner, zum überwiegenden Teil in informellen, also illegalen Behausungen. Die meisten davon bestehen aus Wellblech und Pappe und haben keinen Strom, kein fließendes Wasser, keine funktionierende Kanalisation. Seit zehn Jahren schon versucht die Regierung, in verschiedenen Kampagnen die Lebensbedingungen der hier lebenden Menschen zu verbessern, doch die Wartelisten für die neu errichteten und nicht immer billigen RDP-Häuser – die Abkürzung steht für Reconstruction and Development Programme – sind lang.

„Die Khayelitsha-Township ist ein gutes Beispiel für ein irgendwie ganz passabel funktionierendes Settlement“, sagt Hubert Klumpner. „Es gibt Handel und Gewerbe, und der Alltag in der Stadt scheint zu klappen. Die größte Schwierigkeit jedoch ist die extrem enge Bebauung und Verhüttelung, denn einerseits bringt das Hygieneprobleme mit sich, und andererseits kommt es dadurch immer wieder zu Brandzerstörungen. Es gibt weder Löschwasser noch Zufahrtsmöglichkeiten für die Feuerwehr.“

Der „Slum-Architekt“

Der österreichische, in Zürich lebende „Slum-Architekt“, wie ihn das Wirtschaftsmagazin Trend in einem Artikel betitelte, beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Bauen in Entwicklungsländern und hat bereits zahlreiche Dwelling- und Mobility-Projekte in Afrika und Lateinamerika geleitet. Bekannt wurde er vor allem durch die 2003 von ihm initiierte Seilbahnverbindung zwischen der Innenstadt von Caracas, Venezuela, und dem Armenviertel San Agustín, die er mit dem Vorarlberger Seilbahnunternehmen Doppelmayr realisierte. Das Projekt ging um die Welt.

Im Zuge des Forschungsprojekts „Empower Shack“ entwickelte Klumpner mit seinem Kollegen Alfredo Brillembourg und dem von ihm gegründeten Urban Think Tank an der ETH Zürich nun einen flexiblen Wohnprototyp, der in den kommenden Jahren in ganz Südafrika zur Anwendung kommen soll. Im Gegensatz zu den staatlich geförderten RDP-Häusern handelt es sich dabei nicht um perfekt geplante Middle-Class-Einfamilienhäuser, sondern um simple, zweigeschoßige Hütten, die mit den vor Ort üblichen Baustoffen errichtet werden können: Holz, Plastik, Betonstein, Wellblech und Polycarbonat.

„Das Haus ist als Rohling zu verstehen“, erklärt Klumpner. „Wir bauen kein Idealhaus, sondern orientieren uns an der lokalen Baukultur – mit all ihren Mängeln und Möglichkeiten. Bloß machen wir es einen Hauch besser.“ Dazu gehört auch, dass jedes Haus mit WC und Wasseranschluss ausgestattet ist und über einen zweiten Stock mit interner Holztreppe verfügt. Dadurch lässt sich wertvolle Grundfläche einsparen, die die Bewohner als Garten und Anbaufläche nutzen können. Am wichtigsten ist jedoch, dass künftig auch wieder Sammeltaxis und Feuerwehr zufahren können.

Bislang wurden in Khayelitsha 38 Häuser fertiggestellt – zum überwiegenden Teil in Selbstbauweise. Unterstützung kommt dabei von den professionellen NGOs Ikhayalami und Slum Dwellers International (SDI).

Die Kosten pro Haus belaufen sich je nach Größe und Ausstattung auf 6000 bis 11.000 US-Dollar, rund 5000 bis 9300 Euro. Bis Ende 2018 sollen weitere 32 Häuser folgen. Das Gesamtprojektbudget beläuft sich – mit allen Forschungs- und Entwicklungskosten – auf 900.000 US-Dollar, rund 760.000 Euro.

„Empower Shack“ besteht jedoch nicht nur aus Hardware, sondern auch aus Software. Der Urban Think Tank liefert nicht nur Pläne und Baumaterial, sondern kümmert sich auch um die Abwicklung des gesamten Umzugs- und Wiederbesiedelungsprozesses. „Die meisten Menschen leben hier illegal“, so Klumpner, „und die größte Angst bei jedem Neubau- oder Sanierungsprojekt ist der vorübergehende Wegzug während der Bauphase. Viele fürchten, das Grundstück und den jahrelang erworbenen sozialen Status zu verlieren, sobald sie die Township verlassen.“

Anstatt in eine provisorische Unterkunft zu ziehen, sieht das Programm vor, dass die Bewohner während der kurzen Bauzeit bei ihren Nachbarn Obdach bekommen. Diese packen beim Bau gleich mit an und unterstützen die Familie beim Hin- und Hertragen der Möbel. Es ist ein Geben und Nehmen. Früher oder später kommt jeder dran. In der Zwischenzeit haben sich die Menschen sogar zu einer Kooperative zusammengeschlossen und zahlen gemeinsam in eine Kasse ein, um den Gebäudeverband in Zukunft selbstständig weiterentwickeln zu können.

Genau das ist der Plan

„Vonseiten der Regierung und der öffentlichen Hand bekommen wir so ein Angebot nicht“, sagt Spu Dala, Community-Leader und so etwas wie der Bauherrenvertreter und die gute Seele im kleinen Khayelitsha-Straßenblock. „Aber uns ist es gelungen. Wir sind glücklich und beeindruckt. Jetzt werden die Leute zu uns nach Südafrika kommen und sich ein Bild davon machen, was wir hier erreicht haben.“

Genau das ist der Plan. Nicht zufällig heißt das Projekt „Empower Shack“, auf Deutsch so viel wie Ermächtigungsbaracke. „Südafrika hat eine akute Wohnungsnot, es fehlen im Moment rund zwei Millionen Häuser“, sagt Hubert Klumpner. „Und daher sind private wie auch öffentliche Bauträger und Entwickler dringend gefordert, diesen Bedarf zu decken. Mögen uns so viele wie möglich kopieren!“ Die Pläne und der gesamte Entwicklungsprozess werden als Open Source zur Verfügung gestellt.

Über zwei Teilerfolge freut sich Klumpner besonders: Während man die ersten Baracken noch illegal errichten musste, werden die aktuellen Häuser bereits von der öffentlichen Hand geduldet. Mehr noch ist diese daran interessiert, den mittlerweile anerkannten Bautypus weiterzuentwickeln und auf einfache Weise wiederholbar zu machen. „Die Township als einstiger Rechtsfreiraum ist nun offiziell zum Experimentierfeld erklärt worden“, so Klumpner. Und zweitens findet sich das Projekt „Empower Shack“ auf der Longlist zum renommierten RIBA Award – zusammen übrigens mit dem nur 25 Kilometer entfernten Zeitz MOCAA Museum vom britischen Heatherwick Studio. Weiter entfernt könnten die Architekturwelten nicht sein. Anfang 2018 sollen die Gewinner bekanntgegeben werden.

24. Dezember 2017 Der Standard

Herr Präsident baut sich eine Stadt

Die kasachische Hauptstadt Astana zählt zu den eigenartigsten Retortenstädten der Welt. Seit 20 Jahren wird daran gearbeitet, die Visionen von Nursultan Nasarbajew zu realisieren. Damals wie heute um jeden Preis.

Um 13.25 Uhr fährt der Schulbus an den Straßenrand heran, ohne Blinken, die Straße ist ohnehin menschenleer, und bleibt mitten im Nirgendwo stehen. Eine Horde von Schulkindern springt heraus, am Rücken große Schultaschen, in der Hand ein paar Beutel, zwängt sich durch die kleinen Luken im silberfarbenen Bauzaun und verschwindet nach wenigen Sekunden hinter den Kulissen der Baustelle Astana.

Der Millenium Bulvar im Südosten der vor 20 Jahren neugegründeten Hauptstadt ist das derzeit größte Stadtentwicklungsgebiet Kasachstans. Hier entsteht eine vollkommen neue Stadt – hier, wo derzeit nur Steppe ist und niemand wohnt –, werde ich am nächsten Tag im Stadtplanungsamt Astana Genplan erfahren. Damit soll der Plan von Präsident Nursultan Nasarbajew, der sich im Norden des Landes mithilfe des Londoner Architekten Sir Norman Foster seine eigene Hauptstadt baut, ein vorläufiges Grande Finale bekommen.

Wohin sind die Kinder verschwunden? Der große Bulvar ist längst asphaltiert, die Gehsteige sind gepflastert, die Zebrastreifen aufgemalt, die Verkehrszeichen in die Erde gerammt, die hübschen Eisengeländer an Ort und Stelle gebracht, ja sogar die Mistkübel und Fußgängerampeln harren bereits ihrer ersten Benützung. Und hinter dem löchrigen Bauzaun, da ist nichts. Nur Massen von Sand und Staub und Erde.

Wohin also? Kaum hat man die ein paar Meter hohen Erdhügel erklommen, eröffnet sich von da oben ein Panoptikum von Häusern, Datschen, Bauernhöfen, gespannten Wäscheleinen und zugewucherten Obst- und Gemüsefeldern. Die meisten Menschen haben sich irgendwann in den 1970er-, 1980er-, 1990er-Jahren angesiedelt, als die Stadt noch Zelinograd hieß und das Zentrum in zehn Kilometern Entfernung lag. Mitten in der Steppe, fernab von Infrastruktur und Bauvorschriften, schufen sie sich ein leistbares Leben auf Selbstversorgerbasis.

„Manche von uns wohnen hier legal, manche illegal, wie das halt so ist“, sagt eine Frau, die gerade ihr kleines Kartoffelfeld beackert und anonym bleiben möchte, da sie sonst fürchtet, Schwierigkeiten zu bekommen. „Wir haben das große Glück, dass es für unser Haus offizielle Pläne gibt, also wird man uns den Marktpreis rückerstatten, aber was wird das schon sein?“ Viele ihrer Nachbarn, meint sie, hätten keine Papiere. Sie werden sich ihrem Schicksal stellen müssen. Sie werden enteignet.

Die Zukunft hat bereits Gestalt angenommen. Am Straßeneck Tauelsizdik Avenue und Nazhimedenov-Straße, 1500 Meter weiter westlich, gleich neben dem Kasachischen Nationalmuseum, hängen Visualisierungen des neuen Millenium Park, so der offizielle Name des Quartiers. Entlang der Straße wird gerade die Betontrasse für die neue Lightrail in Hochlage errichtet. Und hinter der kleinen, abgefuckten Datscha der Kartoffelfrau ragt bereits der neue, gläserne Hauptbahnhof Nurly Zhol in den Himmel.

Die beteiligten Bauunternehmen stammen zum überwiegenden Teil aus China und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Hinter einem der silberfarbenen Bauzäune stehen die Lkws, die Bagger, die Planierraupen. Auf dem Tor sind die chinesischen Schriftzeichen für China, Bauen und Baufirma zu sehen. Als ich ein Foto von den Bürocontainern mache, läuft ein Mann hinaus aufs Grundstück, mir hinterher. Mein Chauffeur ist schneller.

Am nächsten Tag im Stadtplanungsamt Astana Genplan, das überraschenderweise nicht in der Neustadt, sondern im alten Stadtzentrum von Zelinograd untergebracht ist. „Das kann nur ein Zufall gewesen sein“, versichert mir Alibajew Maulet Biljalowitsch, Leiter der Planungswerkstatt bei Genplan. „Tatsache ist: Das, was Sie gesehen haben, sind illegale Häuser, die hier niemals hätten errichtet werden dürfen. Aber das sind nur ganz wenige. Im Grunde genommen wohnt hier niemand.“

In den kommenden Jahren, so Biljalowitsch, soll die „Steppenlandschaft“ konvertiert und zu einem „florierenden Businessquartier mit schönen Wohnhäusern“ ausgebaut werden. Geplant seien Radwege und große Parkanlagen mit Brunnen. Dann werde sich die Stadtbevölkerung von 800.000 Einwohnern, die heute in Astana leben, auf über 1,2 Millionen vergrößern. Und dann werde auch der neue Hauptbahnhof nicht mehr am Stadtrand liegen, sondern quasi mitten im Geschehen.

„Unser Präsident hat uns die Aufgabe gestellt, Astana zu begrünen und noch attraktiver zu machen“, erklärt Biljalowitsch. „Dazu gibt es zwei lokale Schwerpunkte, und zwar zum einen die Gegend rund um den neuen Hauptbahnhof und zum anderen das Gelände im Süden der Stadt, auf dem wir bis September die Expo ausgerichtet haben.“ Die Rede ist von einer Green City, einem Hightechcluster, einem Technology-Hub, von einer Bildungs- und Kulturmetropole, vom neuen internationalen Finanzzentrum Zentralasiens.

Und dann präsentiert Biljalowitsch einen riesigen Stadtplan, auf dem Astana in 129 Sektoren unterteilt ist. Die in der dichtbevölkerten Stadtmitte sind etwas kleiner, die an den dünner besiedelter Stadträndern etwas größer. In jedem einzelnen dieser Quadranten, die von mehrspurigen Straßen und Magistralen eingefasst sind, werden später einmal 10.000 Menschen leben. Die Kartoffelfrau auf dem Erdhügel, die heute keine Adresse mehr hat, wohnt in Sektor 118. In Klammer steht: 134 Hektar.

„Die Planungsweise erinnert ein wenig an die Retortenstädte Brasília, Pretoria, und Chandigarh“, sagt Rolandas Kliučinskas, Geschäftsführer von Vilnius Architects, einem der erfolgreichsten Architekturbüros Kasachstans mit Sitz in der ehemaligen Hauptstadt Almaty, knapp 1000 Kilometer weiter südlich. „Bloß waren all diese historischen Beispiele deutlich besser und lebensqualitativ hochwertiger geplant. Was nützen einem Brunnen, Parkbänke und Radwege, wenn acht Monate im Jahr Winter ist und die Lufttemperatur 40 Grad unter dem Gefrierpunkt liegt?“

Alibajew Maulet Biljalowitsch, der Herr bei Genplan, drückt mir bei der Verabschiedung ein zwei Kilo schweres Buch in die Hand: Der Generalplan von Astana. Auf der ersten Seite befindet sich ein Vorwort von Nursultan Nasarbajew mit eingescannter Unterschrift: „Die Erschaffung einer Hauptstadt ist das Schreiben eines neuen Kapitels in der nationalen Geschichte. Nicht jede Generation hat die Ehre, so einen Text zu schreiben. Wir haben beschlossen, es zu tun.“

9. Dezember 2017 Der Standard

Wohnen im Forscherkittel

Das Active Energy Building in Vaduz, Liechtenstein, ist Resultat eines technischen Experiments. Dem Projekt des Wiener Büros Falkeis Architects ging eine jahrelange Forschungs- und Entwicklungsarbeit voraus. Ein Blick in den Wahnsinn.

Es ist, als wäre soeben ein silbrig-schokobraunes Ufo im kleinen Fürstentum gelandet. Während im Hintergrund der neugotische Kirchturm zu St. Florin in den Rheintalhimmel ragt und sich um einen Hauch historischer Präsenz bemüht (ziemlich vergeblich), macht sich in Vaduz am Gerberweg 1 ein hyperfuturistisches Wohnhaus breit, von dem man schon jetzt sicher sein kann, dass es wie ein heiliger Gral durch die internationale Forschungs- und Technologielandschaft gereicht werden wird.

Das Active Energy Building (a.e.b.) in Liechtenstein ist Resultat eines jahrelangen Experiments mit teilweise ungewissem Ausgang, an dem der Wiener Architekt Anton Falkeis und seine Frau Cornelia Falkeis-Senn mit viel Eifer und einer gehörigen Portion Optimismus herumgeforscht und herumgetüftelt haben. Zum Einsatz kamen nicht nur neue Konstruktionsprinzipien und innovative Heiz- und Kühltechnologien, sondern auch eigens entwickelte, hochbelastbare Betonmischungen, selbst entworfene Fotovoltaik-Tracker auf dem Dach sowie sogenannte Phase Change Materials (PCM), die als Speicher fungieren und den technischen Effizienzgrad des Hauses massiv erhöhen.

„Wir hatten einen offenen, neugierigen, innovativen Bauherrn, der uns von der ersten Minute an gefordert hat und der bereit war, sich mit uns auf ein Experiment einzulassen“, sagt Cornelia Falkeis-Senn, die für das a.e.b. eine ganze Parade an Patenten angemeldet hat. „Wir gehen von einem angewandten Forschungsbegriff aus. Das, was wir machen, ist keine rein akademische Forschung, sondern eine, die sich stets aus dem konkreten Objekt und aus den konkreten Anforderungen heraus entwickelt.“

Mehr als 800 Detailpläne waren nötig, um das a.e.b. baubar zu machen. Ganz zu schweigen von der Entwicklungsarbeit und den unzähligen Simulationen und Labortests, die zu einem Großteil in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern erfolgten. Für viele Produkt- und Materialentwicklungen musste lange Zeit nach einem passenden Industriepartner gesucht werden. „Die Baubranche ist tendenziell konservativ, es hat viel Überzeugungsarbeit gebraucht, um Produzenten dafür zu gewinnen, etwas Neues, etwas noch nie Dagewesenes auszuprobieren“, so Falkeis-Senn.

Eine der größten und ungewöhnlichsten Errungenschaften ist der Einsatz von PCM. Phase Change Materials sind Stoffe, die im Bereich der üblichen Umgebungstemperaturen in der Lage sind, ihren Aggregatzustand zu wechseln, also zu vereisen, zu verdampfen oder sich zu verflüssigen. Durch den Übertritt von einem Aggregatzustand in den anderen kann – im Gegensatz zu herkömmlichen Speichermedien wie etwa Wasser oder Salzlösungen – die bis zu fünffache Energiemenge gespeichert werden. Üblicherweise kommen PCM in der Medizin (Kühl- und Wärmekissen) sowie im Automobil- und Anlagenbau (Kühlakkus, Solarthermie) zum Einsatz.

Im Active Energy Building sind insgesamt acht Tonnen Paraffin verbaut. In diesen schwergewichtigen Dimensionen fand PCM noch nie zuvor den Weg in die Baubranche. Es ist eine Weltpremiere. Je nach Sonnenstand, je nach Tages- und Nachtzeit klappen in den obersten zwei Stockwerken mobile Flügel auf, die sich entweder zur Sonne oder zum nächtlichen Sternenhimmel recken und das Paraffin bei 32 Grad Celsius verflüssigen beziehungsweise bei 21 Grad Celsius gefrieren lassen. Im zugeklappten Zustand kann die Wärme- und Kälteenergie über Lufttauscher direkt ins Lüftungssystem gespeist werden. Auf diese Weise kann der Heiz- und Kühlbedarf des Hauses um rund 25 Prozent reduziert werden.

„Die meisten Paraffinhersteller am Markt haben uns davon abgeraten, weil sie meinten, das Gebiet sei kaum noch erforscht und es an Erfahrungswerten mangle“, erinnert sich Anton Falkeis, der mehr als drei Jahre Entwicklungsarbeit in diese Technologie investiert hat. Mit allen Höhen und Tiefen, wie er sagt. Sogar die Abfüllanlage, mittels der die wachsähnliche Masse in die mobilen Flügel eingebracht wurde, musste erst einmal von einem Maschinenbauingenieur aus dem eigenen Team entwickelt werden. Falkeis, lapidar: „Architektur hört niemals auf.“

Neben den beweglichen Paraffinspeichern an der Fassade gibt es Geothermie, Grundwassernutzung sowie aktive und passive solare Nutzung. Die gesamte Südseite sowie ein Großteil der Dachfläche sind mit Fotovoltaikpaneelen verkleidet (Leistungsvolumen 32,4 kW Peak). Um die Stromgewinnung zu erhöhen, sind die PV-Elemente mit einem Solar-Tracker ausgestattet. Dieser ist mit der meteorologischen Station verbunden und hat die exakt errechneten Sonnenstandskoordinaten bis ins Jahr 2117 eingespeichert. Dank der Motoren, die wie eine Sonnenblume exakt dem Sonnenverlauf folgen, indem sie die Paneele drehen, hochklappen und im Fünf-Minuten-Takt hydraulisch nachjustieren, kann die Stromausbeute um fast 300 Prozent gesteigert werden.

Die Liste an Entwicklungen und Erforschungen ließe sich endlos fortsetzen, sie umfasst Neuerungen im Stahlbau, in der Betonqualität und in der Schalungstechnologie. Das schlägt sich freilich auch in den Baukosten nieder, die vom Auftraggeber jedoch streng geheim gehalten werden. „Das ist ein Privatgebäude mit insgesamt zwölf Mietwohnungen, die wir auf dem freien Markt vergeben, und daher sind auch die Errichtungskosten Privatsache“, sagt Bauherr Florian Marxer, der sich in diesem Projekt nicht zuletzt als Förderer und Ermöglicher betrachtet. „Ich kann nur so viel verraten: Das Budget war extrem hoch. Das hängt auch damit zusammen, dass wir hier Entwicklungsarbeit geleistet und einen Prototyp errichtet haben, den es auf der Welt kein zweites Mal gibt.“

Ist das Active Energy Building nun ein manifest gewordenes Forschungsprojekt? Oder doch auch ein baukultureller Beitrag zur Zukunft des Wohnens? Darüber lässt sich streiten. So vielfältig die Reaktionen unter den Passanten sind, so unterschiedlich werden auch die architektonischen Urteile in der Fachwelt ausfallen. Doch unbestritten ist, dass Anton Falkeis und Cornelia Falkeis-Senn kraft ihres Wahnsinns einen Beitrag zur Material- und Bautechnologieforschung geleistet haben, der weltweit einzigartig ist. Genau daran muss das schier unbezahlbare Projekt gemessen werden.

Die Reise nach Vaduz erfolgte auf Einladung von Familie Marxer und Falkeis Architects.

25. November 2017 Der Standard

Panik im Paragrafendschungel

Eigenverantwortung oder Vollkaskomentalität: Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ trägt die absurdesten Normen, Richtlinien und Bauvorschriften zusammen und erklärt auf diese Weise, warum die Welt so ausschaut, wie sie ausschaut.

Zum Schutz vor negativen Auswirkungen auf die Umgebung durch Schatten von Gebäuden mittlerer bis großer Höhe gibt es gesetzliche Bestimmungen betreffend den Lichteinfall“, heißt es im japanischen Baugesetzbuch, Artikel 56, Absatz 2, und Artikel 136, Absatz 12 bis 13. „Die Regelung sieht vor, dass der Schatteneinfall auf einer waagrechten Fläche in einer bestimmten Höhe in jenem Gebiet, das der Regelung unterliegt, am Tag der Wintersonnenwende zwischen 8.00 und 16.00 Uhr eine festgelegte Zeitdauer nicht überschreitet.“

Das dramatisch beschnittene Wohnhaus im Tokioter Stadtteil Shinagawa-ku, das der japanische Architekt Yasutaka Yoshimura in seinem 2006 erschienenen Buch Super Legal Buildings Zentimeter für Zentimeter analysiert, ist nicht das einzige Gebäude, das kraft des geltenden Gesetzes bis zur Karikatur verformt wird. Weltweit gibt es eine ganze Menge zu lachen und zu staunen. Diesen zum Teil angsteinflößenden, verschachtelten und kaum verständlichen Paragrafen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Architektur und Stadtplanung widmet sich seit vorgestern, Donnerstag, eine Ausstellung im Architekturzentrum Wien (AzW).

Form folgt Paragraph, so der Ausstellungstitel, der den weltberühmten Funktionsaphorismus von Louis Sullivan auf die Schaufel nimmt, ist aber keineswegs ein knochentrockener Brainfuck, wie man vermuten würde, sondern eine immer wieder humoristische Zusammenstellung von manifest gewordenen Normen, Richtlinien und Bauvorschriften, die teils sinnvolle, teils haarsträubende bauliche Lösungen mit sich ziehen.

So lernt man beispielsweise, dass österreichische Erde, die zum Bau eines Kellers ausgehoben und abtransportiert wird, nach zwei Kilometern Lkw-Fahrt von Gesetzes wegen zu Abfall mutiert. Dass Kinderlärm hierzulande von den Lärmschutzbestimmungen ausgenommen ist, während in Deutschland mitunter Schallschutzmauern um Kinderspielplätze errichtet werden. Und dass im Guide to Street Vending in New York City ganz genau geregelt ist, wie weit ein Flohmarkttisch vom Randstein und somit von der Fahrbahn entfernt zu stehen hat. Alles hat seine Ordnung. Und jede Ordnung hat ihre Hüter.

Besonders absurd sind die sich regional eklatant unterscheidenden Stufenvorschriften, die keineswegs mit allzu kurzen oder allzu langen Beinen unterschiedlicher Ethnien und Gesellschaften zu tun haben, sondern schlicht und einfach Produkt des Paragrafendschungels sind. Im AzW sind die weltweiten Verschiedenheiten nicht nur erfassbar, sondern auf mannshohen Modellen auch physisch begeh- und erlebbar, und zwar auf eigene Gefahr, wie am Eingang der Ausstellung zu lesen ist, weil, nun ja, die im Ausland legale Treppe im Inland illegal ist.

Während man in Neuseeland mit einer maximal erlaubten Stiegensteigung von 32 Grad die Höhe erklimmen darf, gleicht die japanische Treppe mit bis zu 57 Grad Steigung schon fast einer halsbrecherischen Hühnerleiter, auf der man sich gut und gerne am Geländer festhält. Und dass die US-Amerikaner mit 115 Zentimetern die mit Abstand größte Stiegenmindestbreite für Einfamilienhäuser haben, ist in Anbetracht des dort grassierenden Hamburger-Hungers leider nicht nur ein Treppenwitz.

„Die gebaute Umwelt ist nicht nur von kreativen, sondern auch von ökonomischen und vor allem von juristischen Kräften geformt“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. „Und all die Normen, Baugesetze, Bauordnungen, Baurichtlinien, Bauvorschriften, Materialrichtlinien, Förderrichtlinien und nicht zuletzt Haftungsfragen prägen die Architektur und Stadt entscheidend mit.“ Die Dichte der oft sinnentleerten Paragrafen zeigt sich in der Ausstellungsarchitektur von Planet Architects, die aus 7000 leeren Aktenordnern aufgebaut wurde. Der Wahnsinn ist augenscheinlich.

Dass es überhaupt so weit kommen konnte, ist nicht unbedingt die Schuld des Gesetzgebers oder der Industrie, die in den meist intransparenten Normenausschüssen in erster Linie ihre eigenen Partikularinteressen vertritt, sondern hat nicht zuletzt auch mit uns allen zu tun. „Wir leben heute in einer Vollkasko-Gesellschaft, in der wir einerseits über die Regelwut schimpfen, andererseits aber jeden blauen Fleck einklagen und bis zum bitteren Ende ausjudizieren“, so Fitz. „Die Baubranche hat darauf entsprechend reagiert.“

Durchgenormte Welt

Bei der Wiener Internationalen Gartenschau 1974 (WIG 74) wurde im Kurpark Oberlaa der Kinderspielplatz „Erde“ errichtet, der in dieser Form längst nicht mehr realisierbar wäre. Zu gefährlich scheinen die Kugeln, Löcher und Rutschen für den heutigen Kindskopf zu sein. Stattdessen gibt es heute 238 Seiten an Normen, die darum bemüht sind, den Spielplatz zu einer möglichst gefahrenlosen Zone zu erklären. Entsprechend gummiert, gepolstert und uninspiriert fällt die Gestaltung aus. Und dennoch hat die Zahl der Unfälle auf dem Spielplatz in den letzten Jahren rapide zugenommen.

„Vielleicht sind die Eltern heute durch ihre Smartphones abgelenkt“, sagt Martina Frühwirth, die die Ausstellung gemeinsam mit Katharina Ritter und Karoline Mayer kuratiert hat. „Vielleicht aber leben wir heute schon in einer so durchgenormten und durchstandardisierten Welt, dass die Kinder schlichtweg verlernt haben, wie man mit Gefahr umgeht. Jede Norm und jede vorgeschriebene Sicherheitsmaßnahme reduziert uns in unserer Eigenverantwortung. Und ich fürchte, dass dieser Trend noch weiter zunehmen wird.“

Dass die vorauseilende und oftmals verfluchte Bürokratie keineswegs ein österreichisches und keineswegs ein zeitgenössisches Phänomen ist, beweist die international und interdisziplinär zusammengetragene Ausstellung Form folgt Paragraph eindringlich. In einer der Fensternischen lauert der architekturbürokratische Schock: „Wenn du ein neues Haus baust, so mache eine Lehne darum auf deinem Dache, auf daß du nicht Blut auf dein Haus ladest, wenn jemand herabfiele.“ (Das fünfte Buch Moses, Kapitel 22, 900 v. Chr.)

Die Ausstellung „Form folgt Paragraph“ ist bis 4. April 2018 zu sehen. AzW im Museumsquartier, 1070 Wien. Am Mittwoch, dem 29. November, spricht Standard -Mitarbeiter Maik Novotny im Club Architektur mit Silja Tillner, Jakob Dunkl, Irmgard Eder und dem Kabarettisten Ciro de Luca („Vurschrift is Vurschrift“) zum Thema „Freiheit oder Vollkasko?“

4. November 2017 Der Standard

Vom Knödelsilo zum Klangapparat

München baut ein neues Konzerthaus. Geplant wird der „Schneewittchensarg“ von den Vorarlberger Architekten Cukrowicz Nachbaur, die mit dieser Bauaufgabe auf der Tonleiter ganz nach oben klettern.

Es hat nicht lange gedauert, schon haben die Münchner die ersten Spitznamen gefunden. Die einen sprechen von „Glasscheune“, die anderen von „Gewächshaus“, wiederum andere glauben, in dem vor wenigen Tagen öffentlich gewordenen Entwurf einen „Schneewittchensarg“ zu erkennen. Der Münchner FDP-Stadtrat und Preisrichter Wolfgang Heubisch zeigt sich über diese Entwicklung mehr als zufrieden: „Es ist ein richtiger Streit um Architektur. Das ist großartig in dieser Stadt, in der es beim Bauen sonst immer nur um Gewinn- und Flächenmaximierung geht.“

Die Rede ist vom neuen Konzerthaus, das auf den ehemaligen Pfanni-Gründen im Osten der Stadt, im sogenannten Werksviertel, entstehen soll. Wo einst Kartoffelpüree und Semmelknödel für die Unilever-Gruppe produziert wurden, errichtet der Freistaat Bayern in den kommenden Jahren Münchens neue Musikkathedrale. Der Entwurf dafür stammt vom Bregenzer Architekturbüro Cukrowicz Nachbaur.

In einem EU-weiten Wettbewerb konnten sich die beiden Gsiberger gegen hochrangige Konkurrenten wie etwa Mecanoo, David Chipperfield und Zaha Hadid Architects durchsetzen. Es ist das bislang größte Projekt von Andreas Cukrowicz und Anton Nachbaur-Sturm, die im Ländle, aber auch in Bayern und in der Schweiz seit gut 20 Jahren Wohnbauten, Sporthallen, Volksschulen, Kirchen, Gemeindeämter und Industriebauten errichten und auf diese Weise vorexerzieren, wie sexy Holzkiste sein kann.

„Es war ein langer Prozess, bis wir die richtige Antwort auf die Bauaufgabe gefunden haben“, erinnert sich Anton Nachbaur-Sturm. „Wir haben organische und kubische Bebauungen ausprobiert, sind aufgrund der Rahmenbedingungen letztendlich aber wieder dort gelandet, wo wir am besten sind. Wir haben uns für eine einfache, prägnante Form entschieden. Das liegt uns mehr als das Spektakuläre.“ Ob man damit gerechnet habe, den Wettbewerb zu gewinnen? „Oh nein! Hoffnung gibt es immer. Aber wir wussten, dass wir mit unserem Projekt polarisieren würden. Und das tun wir auch, wenn man sich die aktuelle öffentliche Diskussion anschaut.“

Doch die hat nicht nur mit der Architektur zu tun. Denn während die beiden Vorarlberger für ihr „Spitzenniveau“ (Bauminister Joachim Herrmann, CSU) in der deutschen Medienlandschaft abgefeiert werden, gibt es andernorts Bedenken ob der mit diesem Entwurf gebrochenen städtebaulichen Leitlinien und Bebauungsvorschriften – aber auch ganz grundlegende Zweifel daran, ob ein Musikzentrum an diesem Ort und unter diesen Rahmenbedingungen wirklich die richtige, zukunftsfähige Entscheidung sei.

Einerseits widersetze sich der Entwurf von Cukrowicz Nachbaur mit seinen 45 Metern Bauhöhe, so die Kritiker, der im Bebauungsplan festgehaltenen Höhenbeschränkung von 26 Metern. Andererseits soll das Haus ausgerechnet auf Pfanni-Land errichtet und um 600.000 Euro jährlich mit Steuergeldern gepachtet werden. Nicht alle zeigen sich mit der Entscheidung zufrieden, sich mit einem wohlgemerkt öffentlich finanzierten und öffentlich betriebenen Kulturbau in Form von Erbpachtrecht auf ewige Zeiten an die industriellen Erben zu binden.

Idee eines Klangspeichers

„Ja, wir sind ein Risiko eingegangen, indem wir die maximal zulässige Bebauungshöhe überschritten haben“, sagt Andreas Cukrowicz. „Nur ist es halt so, dass wir Querdenker sind und dass wir nicht nach der besten Antwort für die Ausschreibung gesucht haben, sondern uns stets um die beste Antwort für die jeweilige Bauaufgabe bemühen. Sämtliche Licht- und Schattenkonsequenzen für die benachbarten Häuser haben wir in unserem Entwurf berücksichtigt.“

Letztendlich hat die Form auch symbolischen Charakter: „Wir sind hier mitten auf einem ehemaligen Industrieareal. Daher haben wir uns von der Idee eines Silos, eines transparenten, lichtdurchlässigen Klangspeichers inspirieren lassen.“ Oder, wie der Juryvorsitzende Arno Lederer dies in seinen Worten ausdrückt: „Dieses Haus ist einprägsam. Jeder, der die Form einmal gesehen hat, kann nach Hause gehen und sie aufzeichnen. In diesem heterogenen Umfeld ist das Gebäude ein nobler Ruhepunkt. Zurückhaltend und ausdrucksstark zugleich, in dieser Form an keinem anderen Ort zu finden.“

Unter dem gläsernen Berg verbirgt sich ein neungeschoßiger Bau mit einem kleinen Saal für 600 bis 900 Personen, einem großen Saal für bis zu 1900 Personen, einer Werkstatt sowie diversen Sonderräumen und Foyers. Im großen Saal, erklären die Architekten, werde kein Sitzplatz weiter als 32 Meter von der ersten Geige entfernt sein. Als akustisches und geometrisches Vorbild gilt der Wiener Musikvereinssaal mit seinen Proportionen von 2:1:1. Die genauen akustischen Berechnungen stehen noch aus und sollen nun im nächsten Schritt ausgeschrieben werden. Die kolportierten Gesamtbaukosten liegen bei 150 bis 300 Millionen Euro.

Früher, sagt Anton Nachbaur-Sturm, sei der städtische Wettbewerb im Kirchenbau ausgetragen worden. Seit Bilbao habe sich der weltweite Image-Kampf auf den Museumsbau verlagert. „In jüngster Zeit jedoch, scheint es, misst man sich mit den Häusern der Musik. Natürlich macht es uns stolz, in diesem heiß umkämpften Genre ein Leuchtturm-Projekt realisieren zu dürfen. Wir sprechen hier von einem Haus und von einem Symbol mit großen und weittragenden Inhalten.“

Alemannische Nüchternheit

Von einem „gelungenen Kompromiss zwischen architektonischem und musikalischem Anspruch“ titelte die Süddeutsche Zeitung vor wenigen Tagen etwas bescheiden. Und in Zeiten von Pomp und Trara, in denen zwischen Aalborg (Coop Himmelb(l)au), Paris (Jean Nouvel), Dallas (Norman Foster), Taichung (Toyo Ito) und Guangzhou (Zaha Hadid) ein regelrechter Kampf um das imposanteste Opern- und Konzerthaus entfacht ist, scheint das ein gar nicht so schlechtes Kompliment zu sein.

Nach einem jahrelangen Spiel um das schönste und größte Spektakel, den zweifelsohne Herzog & de Meurons Elbphilharmonie in Hamburg für sich entschieden hat, ist es umso verwunderlicher, dass in München nun ein Projekt mit alemannischer Nüchternheit und archaischer Tobleronistik punktet. Ist das vielleicht der Beginn einer neuen Bescheidenheit? Man darf gespannt sein auf die neue Tonlagen.

31. Oktober 2017 Der Standard

Cukrowicz Nachbaur Architekten: Münchens Konzerthaus wird im Ländle geplant

Bregenzer Architekten schlagen massive Kastenform mit Glasfassade vor Letzten Freitag war Andreas Cukrowicz (48) mit seiner Familie auf Urlaub in Umbrien und besuchte die Eremitage des Franz von Assisi. „Ich dachte mir, genau jetzt wird der Wettbewerb zum neuen Konzertsaal in München juriert. Sollten wir gewinnen, werde ich Francesco noch einmal einen Besuch abstatten.“ Das Schicksal nahm seinen Lauf, und der Architekt löste sein Versprechen noch am Sonntag ein.

Mit seinem Büropartner Anton Nachbaur-Sturm (52) gewann der Bregenzer Planer den Wettbewerb zum Neubau des Konzertsaals in München. Seit 15 Jahren geht die Weißwurstmetropole mit der Idee schwanger, ein neues Musikzentrum zu errichten. Das Konzept, dieses auf dem ehemaligen Fabrikareal des Kartoffelknödelproduzenten Pfanni zu errichten und sich auf diese Weise in Form von Erbpachtrecht auf ewig an die Pfanni-Erben zu binden, macht nicht alle glücklich. Genauso wenig wie das prämierte Architekturprojekt. Von einem gläsernen Sarg sprechen die einen, von einem „nicht so spektakulären, aber auch nicht hässlichen“ Entwurf die anderen.

Da das Haus mitten in einem ehemaligen Industrieareal entstehen soll, haben sich die Architekten von der Idee eines transparenten, lichtdurchlässigen Klangspeichers inspirieren lassen: „Wir haben uns bewusst für eine einfache, prägnante Form entschieden. Das liegt uns mehr als das Spektakuläre.“

Die Zurückhaltung spiegelt sich in den Projekten des 1996 gegründeten Büros Cukrowicz/Nachbaur wider – darunter viele Wohnbauten, Sporthallen, Volksschulen, Kirchen, Gemeindeämter, Industriebauten und sogar Bühnenbilder. Das Einfache siegt über das Komplizierte. Zu den wichtigsten Projekten der letzten Jahre zählen Uni- und Laborgebäude in München sowie das Vorarlberg-Museum in Bregenz, bei dem die Betonfassade mithilfe von ganz normalen PET-Flaschenböden eingeschalt und entsprechend blumig ausformuliert wurde.

Aktuell arbeiten die beiden an einer Bischofsgruft in Rottenburg am Neckar, die mit 1.500 Jahre alter Friedhofserde errichtet wird. „In diesem Lehm sind sogar kleine Knochensplitter drinnen. Dieser Ort hat wirklich Energie!“ Und wo finden die beiden Architekten ihre eigene Energie? „Im Yoga und im einsamen Wandern durch die Berge. In allem, was uns erdet, denn unser Job ist schon aufregend genug.“

21. Oktober 2017 Der Standard

„Wie Iggy, barfuß raus und pinkeln“

Gerade ging in Osttirol die sechste Österreichische Leerstandskonferenz zu Ende. Die deutsche Architektin Kerstin Schultz über Pferde, Ideen zur Nachnutzung und den Begriff der Landerwartungshaltung.

Standard: Sie treten selbstbewusst auf und sagen in Ihren Vorträgen stets: „Ja, ich bin sowohl Architektin als auch Landbewohnerin. Ich lebe in der Odenwaldhölle.“ Was macht den Odenwald zur Hölle?

Schultz: Den Begriff Odenwaldhölle hat die FAZ- Journalistin Antonia Baum geprägt. Sie hat einen Artikel über den Odenwald geschrieben und damit sowohl einen Shitstorm als auch eine Solidarisierungswelle mit der Region ausgelöst. Die Odenwaldhölle ist eine Anspielung auf unser aller Klischeebild vom Land – auf die geistige Verarmung ländlicher Regionen, auf die zum Teil kulturelle Verwahrlosung und auf die herrschende Bautentristesse abseits der Boomregionen.

Standard: Wie viel ist wahr?

Schultz: Einiges, aber nicht alles. Ich bin Optimistin, sonst wäre ich nie aufs Land hinausgezogen. Wir haben früher in Darmstadt gelebt, in einer Architektur- und Kulturhochburg, mitten in einem relativ homogenen Stadtviertel mit Menschen mit ähnlicher Ausbildung, ähnlichem Konsumverhalten und sehr ähnlichen Wertvorstellungen. Fakt ist: Die schönsten Ecken in den Städten sind von Menschen besetzt, die sich das auch leisten können. Hier im Odenwald ist alles anders. Ich lebe in einem Dorf mit 300 Einwohnern, und beim Bäcker unterhalte ich mich über das Wetter und das tägliche Leben – und nicht über meinen Beruf. Das tut gut. Es ist ein Leben mit räumlichen und geistigen Freiräumen. Und mit Kühen und Pferden, die dann plötzlich im eigenen Garten stehen und einen fragend ansehen, was man da tut.

Standard: Beim Vortrag der Leerstandskonferenz meinten Sie, das Land sei heute in einer Identitätskrise. Was heißt das?

Schultz: Wir erleben heute zwei sehr interessante, einander bedingende Phänomene, erstens die Urbanisierung des Landes und zweitens die Verdörflichung der Stadt. Während wir am Land jeden Leerstand mit Galerien, Yoga-Studios und Coworking-Spaces füllen wollen, beobachte ich, wie die Menschen in der Stadt immer gesünder und immer ländlicher leben und sogar damit anfangen, neben der Straße Gurken und Tomaten anzubauen. Damit verändert sich unser komplettes Verständnis von Stadt und Land.

Standard: Gut oder schlecht?

Schultz: Sehr gut sogar! Jeder Impuls, jede Konfrontation und jede ungewöhnliche Herangehensweise – und sei sie auf Dauer noch so unwahrscheinlich und unrealistisch wie die Implementierung eines schicken Fitnesscenters in einen leerstehenden Bauernhof – ist ein Versuch, unsere Köpfe aufzumachen und unsere gewohnten Denkmuster aufzubrechen. Aber wir müssen uns auch darüber im Klaren sein, dass sich mit dem Wandel des Stadt- und Landbildes und mit dem Selbstverständnis, dass man an allen Orten auf der Welt alles kriegt, auch die Erwartungshaltung ändert. Das haben viele noch nicht begriffen.

Standard: Sie haben den Begriff Landerwartungshaltung geprägt. Was bedeutet der?

Schultz: Wenn ich heute aufs Land rausfahre, erwarte ich mir Ruhe, Pferde und Kühe, Kartoffelbauern und die Möglichkeit, Äpfel zu klauen und jeder Zeit gegen den Zaun pinkeln zu dürfen. Iggy Pop macht das auch. In einem Interview hat er mal gesagt, dass er jeden Morgen barfuß rausgeht und in die Natur pinkelt. Das ist unsere Landerwartungshaltung.

Standard: Wird das Land dieser Erwartungshaltung noch gerecht?

Schultz: Nein. Man muss heute schon gezielt nach spezifischen Orten und Höfen suchen, um diese alten Qualitäten noch zu finden. Die Realität sieht anders aus.

Standard: Und zwar?

Schultz: Erstens befindet sich das Land – wie schon erwähnt – in einer zunehmenden Verstädterung. Zweitens ist in den letzten Jahrzehnten viel Wissen verloren gegangen, denn die heutige Landgeneration weiß heute kaum noch, wie man Kühe melkt, Quitten einkocht und einen Wald bewirtschaftet. Und drittens hat sich die Landschaft dramatisch verändert. Was früher die Kornkammer war, ist heute oft nur eine Geld- und Energiemaschine. Wenn Sie durch Norddeutschland fahren, werden Sie sehen, dass es fast nur noch Windbauern, Solarbauern, Maisbauern und Biogasbauern gibt. Einen Kartoffelbauern werden Sie vergeblich suchen. Das sind Strukturen, die es braucht, keine Frage. Aber nicht in diesen Ausmaßen und Monokulturen! Diese Gigantomanie lehne ich ab.

Standard: Das klingt dramatisch.

Schultz: Das ist es auch. Die Stadt hat gelernt, das Land hat verlernt.

Standard: Aufgrund des demografischen Wandels und der zunehmenden Verstädterung wird das Land mehr und mehr ausgedünnt. Die Folge ist Leerstand. Schrumpfende Regionen wie der Odenwald sind betroffen. Was tun?

Schultz: Wenn wir am Land von Leerstand sprechen, dann sind dies entweder Gebäude, die heute keine Funktion mehr haben – wie leerstehende Bauernhöfe, Landwirtschaftsbetriebe oder Bahnhöfe entlang aufgelassener Strecken. Oder aber Bauwerke mitten im Ortskern, die zwar am Land sind, aber im Charakter etwas Städtisches haben – ohne Grünland und ohne Freiraumbezüge. Beide Formen des Leerstandes sind schwierig zu managen. So wie es Leerstandsmanager in der Stadt gibt, würde es meines Erachtens auch entsprechende Manager am Land brauchen. Das fehlt komplett.

Standard: Welche Nutzungen schlagen Sie vor?

Schultz: In Luckenwalde im ehemaligen Ostdeutschland wurde ein ehemaliger Bahnhof in eine Bücherei umgebaut. Im Odenwald haben wir viele gastronomische und touristische Betriebe. Das geht immer. Vor allem aber träume ich von verschiedenen Formen des Miteinanderlebens – beispielsweise von klassischen Wohngemeinschaften, aber auch von Jugend- und Senioren-WGs, die das Thema der Vereinsamung, des Wegsterbens und des kulturellen Verödens aktiv und kreativ in die Hand nehmen. Dieses Wohnangebot fehlt am Land komplett.

Standard: Schrumpfende Gemeinden in Deutschland gehen mittlerweile dazu über, Bauland zu verschenken. Ist das eine Lösung?

Schultz: Das ist eine sehr kurzfristig gedachte Strategie, um Neubürger anzuziehen. Ich lehne das total ab. Es muss den Menschen etwas wert sein, aufs Land zu ziehen. Immerhin sprechen wir hier von Qualitäten. Mit dem Verschenken von Grund und Boden und mit dem Verkauf zu Dumpingpreisen geht das letzte Fünkchen Wertschätzung verloren. Es ist die Aufgabe von uns Architektinnen, Stadtplanern und Raumplanern, aber auch von Investoren, Betreibern und Vermietern, auf diese Qualitäten aufmerksam zu machen und sie nicht zu verschenken. Meine Forderung lautet: Kein Bauen ohne Prozess! Sowohl die Spekulation als auch der Ausverkauf in dörflichen Strukturen gehören dringend verboten!

Standard: Wie lautet Ihre Vision vom Land?

Schultz: Meine Vision wäre, Landschaft und räumliche Freiheit zu einem Alleinstellungsmerkmal und Entscheidungskriterium auszubauen. Derzeit sind wir am besten Weg, das Gegenteil zu erreichen. Da reicht nur ein Blick auf die Baulandbevorratung, Bodenversiegelung und Zunahme von großstrukturellen Betrieben. Das ist der Weg in die Hölle – und zwar nicht nur im FAZ- Jargon.

Standard: Was kommt nach der Hölle?

Schultz: Nach der Hölle geht’s bergauf.

21. Oktober 2017 Der Standard

Vom Schweinestall zum Kindergarten: Leerstand im Fokus

Konferenz in Osttirol widmete sich Bauernhöfen

Innervillgraten – In Europa schließen jedes Jahr 350.000 Bauernhöfe. Allein in Österreich sind jährlich rund 2400 Landwirte gezwungen, ihren Betrieb aufzugeben oder zu verkaufen. Die Folge: Während die ländlichen Lebensmittelproduzenten immer größer und größer werden (1970 ernährte ein österreichischer Bauer im Durchschnitt zwölf Menschen, 2016 bereits mehr als 80), nimmt der ländliche Leerstand kontinuierlich zu. Doch was tun mit den leerstehenden Bauernhöfen?

Dieser Frage widmete sich kürzlich die sechste Leerstandskonferenz in Innervillgraten, die unter dem Motto „Leerstand ab Hof! Strategien für einen Umbau in der Landwirtschaft“ stand. Die vom Architekturbüro Nonconform organisierte Veranstaltung lockte fast 200 Besucher in die Osttiroler Berge, wo allein rund um Lienz derzeit mehr als hundert Bauernhöfe leer stehen und auf eine Nachnutzung warten. Im Fokus der Konferenz standen Best-Practice-Beispiele aus den deutschsprachigen Ländern, das gemeinsame Brainstormen zu möglichen Nachnutzungsideen sowie die Analyse funktionaler Möglichkeiten und raumplanerischer und baujuristischer Unmöglichkeiten.

„Aus architektonischer Sicht mag die Umnutzung alter Bauernhöfe sehr stimmig und reizvoll erscheinen, aber aus raumplanerischer Sicht muss man sich sehr genau ansehen, ob das Gebäude im Grünland oder in einem Siedlungsgebiet steht“, erklärte die Wiener Raumordnungsexpertin Gerlind Weber und brachte mit dieser Aussage die größte Krux leerstehender landwirtschaftlicher Betriebe auf den Punkt. „So hart das auch klingen mag, aber wo die nötige Infrastruktur nicht vorhanden ist, haben Wohnen, Tourismus und Gewerbe nichts verloren.“

Dass selbst die schwierigste Lage im Einzelfall zu interessantesten Ergebnissen führen kann, zeigten etwa der zu einem Apartmenthaus umgebaute Giatla-Hof in Innervillgraten, eine revitalisierte alte Hofkäserei in Südtirol oder ein ehemaliger Schweinestall am Münchner Stadtrand, der heute ein Kindergarten ist. Trostpflaster: Wenn die Lage nicht taugt, hilft im Notfall immer noch der Adresswechsel. Nicht wenige Bauernhöfe und Scheunengebäude wurden ab- und an anderer Stelle wieder neu aufgebaut. (woj)

14. Oktober 2017 Der Standard

Das Haus als mentales Kraftwerk

Vor kurzem wurde der Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit vergeben. Die fünf ausgezeichneten Projekte beweisen, dass die Symbiose von Baukultur und sozialen, technischen sowie ökologischen Überlegungen immer selbstverständlicher wird.

Angefangen hat alles mit der Suche nach neuen, größeren Räumlichkeiten fürs eigene Architekturbüro. Doch dann stieß der Salzburger Architekt Simon Speigner durch Zufall auf ein stillgelegtes Sägewerk am Ortsrand von Thalgau, für das schon seit den 1980er-Jahren eine Bewilligung zur Errichtung eines Kleinwasserkraftwerks bestand. Und so entwickelte sich das Immobilienprojekt zu einem interdisziplinären, umfassenden Energiecluster mit Bürohaus, Turbinenhaus und angrenzender Fischtreppe.

„Hätte ich inseriert, dass ich ein Grundstück suche, auf dem man neben einem Bürohaus auch ein Kraftwerk errichten darf, wäre die Suche gewiss erfolglos geblieben“, sagt Speigner (SPS Architekten). „Aber so fügte sich das eine zum anderen, und ich konnte das Projekt in Personalunion als Investor, Architekt und Nutzer realisieren.“ Entwickelt und errichtet wurde das Projekt mit Fördermitteln im Rahmen des Programms „Haus der Zukunft Plus“.

Hinter der schlichten Lärchenschindelfassade verbirgt sich ein warmes, wohnliches Arbeitsrefugium mit handelsüblichen OSB-Platten, innenliegenden Lehmputzwänden und baulich integrierter Wandheizung. Durch das eigene Wasserkraftwerk, das die nötige Energie für Heizung, Warmwasser und Elektroautos bereitstellt, und die ins Dach eingebettete Photovoltaikanlage erreicht das Haus Plusenergie-Standard. Der überschüssige Strom wird ins öffentliche Netz gespeist.

Letzte Woche wurde das dreigeschossige Experimentallabor namens oh456 – als eines von insgesamt fünf Projekten – mit dem Österreichischen Staatspreis für Architektur und Nachhaltigkeit ausgezeichnet. Auslober des Preises, der heuer bereits zum fünften Mal vergeben wurde, ist das Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft (BMLFUW).

Mehrfach nachhaltig

„Der biennal vergebene Preis richtet sich an gesamtheitlich geplante Bauwerke, die sich sowohl durch hochwertige Architektur als auch durch soziale, funktionale und vor allem ökologische Nachhaltigkeit auszeichnen“, sagt der Juryvorsitzende Roland Gnaiger, Professor an der Kunstuniversität Linz, im Gespräch mit dem Standard . „Der Fokus liegt auf der Symbiose von Baukultur und Technik. Es braucht die höchste Zustimmung von beiden Seiten.“

Unter den 76 Einreichungen finden sich Projekte aus ganz Österreich, wobei Wien, Tirol und Vorarlberg deutlich dominieren. Zum Teil schlägt sich die geografische Verteilung auch in den fünf Preisträgern nieder: Neben dem Bürohaus oh456 in Thalgau sind dies das Obdachlosenwohnheim Neunerhaus in Wien-Landstraße (Pool Architektur), die Sanierung des Gemeindeamts Zwischenwasser (Hein Architekten), die Erweiterung der Volksschule Edlach in Dornbirn (Dietrich Untertrifaller Architekten) sowie das Kultur- und Veranstaltungszentrum Montforthaus in Feldkirch aus der Feder des Berliner Büros Hascher Jehle und der Bludenzer Mitiska Wäger Architekten. Letztere drei Preisträger stammen allesamt aus dem Ländle.

Das für Vorarlberger Verhältnisse ungewöhnlich futuristische, organisch geschwungene Montforthaus vor den Toren der Feldkircher Altstadt besticht nicht nur in funktionaler und städtebaulicher Hinsicht, sondern überzeugte die sechsköpfige Jury vor allem durch seine inneren – weil haustechnischen – Werte. Das umfassende Nachhaltigkeitskonzept beinhaltet ein dichtes Paket an energie- und ressourcenschonenden Maßnahmen, ein eigenes Produkt- und Chemikalienmanagement sowie eine konsequente Abwärme- und Energierückgewinnung. So wird beispielsweise die Bremsenergie der Aufzüge in elektrische Energie umgewandelt und ins hauseigene Stromnetz gespeist.

Auch bei der Sanierung des Gemeindeamts Zwischenwasser spielten ökologische Überlegungen eine große Rolle: Die Energieversorgung kommt vom gemeindeeigenen Biomasseheizkraftwerk sowie von der Photovoltaikanlage auf dem Dach des benachbarten Kindergartens. Statt eines herkömmlichen Wärmedämmverbundsystems wurde das Gebäude innen mit Calziumsilikatplatten und Lehmputz verkleidet. Die Summe der ergriffenen Maßnahmen bescherte dem Projekt bei der Zertifizierung nach dem Vorarlberger Kommunalgebäudeausweis 980 von 1000 möglichen Punkten – die beste Bewertung, die ein Gebäude je erzielt hat.

Auch die Erweiterung der Volksschule in Edlach in Dornbirn erreichte dank Fernwärme, kontrollierter Lüftung mit Wärmerückgewinnung und eigener Photovoltaikanlage, die 22 Prozent des Energiebedarfs der Schule abdeckt, eine sehr hohe Punkteanzahl. Die Anreize im Ländle jedenfalls sind groß: Seit 2011 gibt es in Vorarlberg für kommunale Projekte, die in den Kategorien Prozess- und Planungsqualität, Energie und Versorgung, Gesundheit und Komfort sowie Baustoffe und Konstruktion mindestens 600 von 1000 Punkten erreichen, erhöhte Bedarfszuweisungen vom Land. Je besser der Wert, desto höher der Prozentsatz der Förderung.

Nicht zu vernachlässigen sind zudem die sozialen Aspekte: Während sich die Volksschule durch den Verzicht von Klassen und die Anordnung von Lernclustern auszeichnet, „die förmlich nach Bildungsreform schreien“, wie dies der Juryvorsitzende Roland Gnaiger formuliert, wartet das Neunerhaus in Wien mit insgesamt 73 Kleinstwohnungen auf, mit denen ehemalige Obdachlose wieder eine Starthilfe ins sogenannte normale Leben genießen können.

Ermutigung zur Nachahmung

„In den Anfangsjahren war es noch schwer, Projekte zu finden, die sowohl architektonisch als auch im Bereich der Nachhaltigkeit überzeugen konnten“, sagt Robert Lechner, Jurymitglied und Leiter des Österreichischen Ökologie-Instituts. „In seiner fünften Auflage jedoch hat der Staatspreis deutlich an Reife und Glaubwürdigkeit dazugewonnen. Die Projekte werden immer vielschichtiger und komplexer und leisten einen ernst zu nehmenden Beitrag zu Energieeffizienz und Klimaschutz.“ Da solle noch jemand sagen, dass es einen Widerspruch zwischen Architektur und Ökologie gebe, so Lechner.

23. September 2017 Der Standard

Neue Grätzelzellen für Grazer Grätzel

Am Donnerstag wurde der Science Tower eröffnet. Der 60 Meter hohe Büroturm versteht sich als Visitenkarte und Technologielabor für das Forschungsprojekt „Smart City Graz“, das hier bis 2024 realisiert werden soll.

Auf dem Stundenplan stehen heute Englisch, Geschichte und Urban Smartness. Wie jede Woche lernen die Schüler dabei, wie Stadt funktioniert und wie die Zukunft der Stadt im Kontext von Mensch, Verkehr, Baukultur, Wirtschaft und Technologie geplant und optimiert werden kann. Was heute noch utopisch klingt und wie aus einer fernen Schulwelt anmutet, könnte bald Realität sein. Der erste Baustein des Forschungs- und Stadtverdichtungsprojekts „Smart City Graz“ wurde vorgestern feierlich eröffnet.

Unscheinbar und auch befremdlich technoid ragt der 60 Meter hohe Science Tower in den Grazer Himmel. „Der Science Tower ist mehr als nur ein klassischer Büroturm“, sagt der Architekt und Projektinitiator Markus Pernthaler. „Er ist in erster Linie ein Beispiel dafür, wie Architektur in Zukunft nicht nur Energie verbrauchen, sondern auch selbst produzieren kann. Wir haben das Haus mit den neuesten, derzeit am Markt erhältlichen Systemen und Technologien ausgestattet. Und ich kann mir gut vorstellen, dass wir das eine oder andere Detail in ein paar Jahren schon nachrüsten werden.“ Pernthaler sieht das Projekt als eine Art Labor in progress.

Und tatsächlich ist der Turm, der über Geothermie gespeist wird und weder über Heizkörper noch Klimageräte verfügt, die Summe von Innovationen und weltweiten Premieren. Es fängt bei der braun-orangen Glasfassade an, die sich wie ein Gruß aus den Siebzigerjahren um den Turm wickelt und gleich einem geblähten Segel nach oben ragt. Was auf den ersten Blick wie ein mäßig geglücktes Stilzitat anmutet, ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein kleines Kraftwerk, das in der Lage ist, mittels technisch nachgebildeter Fotosynthese Strom zu produzieren.

Im Gegensatz zu herkömmlicher Photovoltaik nämlich wird bei der sogenannten Grätzelzelle das Sonnenlicht nicht etwa über Silizium oder andere Halbleiter absorbiert, sondern über organische und synthetische Farbstoffe. Die von Michael Grätzel 1992 entwickelte und patentierte Technologie, die mit Chlorophyll, Hibiskusextrakten oder Brombeer-Anthocyanen betrieben wird, hat den Vorteil, dass sie auch bei geringem und indirektem Licht – und sogar unabhängig von der Einstrahlrichtung – funktioniert.

„Noch hat die Grätzelzelle einen sehr geringen Wirkungsgrad“, sagt Pernthaler und beziffert diesen mit sechs Prozent. „Aber früher oder später muss man mal anfangen, neue Technologien einzusetzen und empirische Alltagswerte zu sammeln, sonst findet Entwicklung niemals statt.“ Ursprünglich habe man die Grätzelzellen in den obersten Geschoßen des Turms grün färben, also mit Chlorophyll beschichten wollen, aber das wäre in diesen Dimensionen, in denen die Farbstoffsolarzelle übrigens erstmals zum Einsatz kommt, zu teuer gewesen.

Auch in den unteren Etagen hat der 16 Millionen Euro teure Science Tower, in dem unter anderem Forschungsbetriebe und Start-up-Unternehmen aus dem Bereich Green Technologies eingemietet sind, ein Novum zu bieten. Die vom steirischen Unternehmen SFL Technologies entwickelte, doppelschalige Glasfassade besteht aus hauchdünnen, chemisch gehärteten Gläsern. Durch das besondere Verfahren kann die Glasstärke auf zwei Millimeter (!) reduziert werden. Das entspricht der Stärke von 15 Blatt Papier. Der Strapazierfähigkeit und Belastbarkeit durch Wind und Wetter tut dies keinen Abbruch.

„Langfristig lassen sich auf diese Weise Tonnage, Konstruktionsmaterial und letztendlich auch Baukosten einsparen“, sagt Mario Müller, Geschäftsführer und Prokurist bei SFL Technologies. „Doch es geht nicht nur um Effizienz. Wir sehen den Turm vor allem als Forschungsprojekt, an dem wir unsere eigenen Entwicklungen ausprobieren können, und als Aushängeschild für die Smart City Graz, die hier in den kommenden Jahren errichtet werden soll.“

Bis 2024 soll die Smart City Graz, die sich auf mehr als 400 Hektar über die Bezirke Gries, Lend, Eggenberg und Wetzelsdorf erstreckt, in Zusammenarbeit mit privaten Investoren und öffentlicher Hand Stück für Stück realisiert werden. Geplant sind Wohnungen für mehr als 7000 Menschen, Büros, Schulen, Kindergärten und diverse Nahversorger im Bereich Gewerbe und Gastronomie. Mit sämtlichen Grundstückeigentümern wurde die Vereinbarung getroffen, dass 50 Prozent aller Umwidmungsgewinne in soziale und ökologische Nachhaltigkeit investiert werden müssen. Dieser Ansatz ist radikal. Und er beweist, dass die Privatwirtschaft auch ohne städtebauliche Verträge in die Verantwortung genommen werden kann, wenn es um die Errichtung und Finanzierung städtischer Infrastruktur geht.

Das Planungs- und Forschungskonsortium der Smart City besteht aus zwölf nationalen und internationalen Partnern unter der Führung der Stadt Graz. Neben Architekt Markus Pernthaler und SFL Technologies sind das Holding Graz, Energie Graz, Stadtlabor Graz, TU Graz, AVL und Eco World Styria. Das zu erwartende Investitionsvolumen beläuft sich auf 330 Millionen Euro. Gefördert wird das Mammutprojekt von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) und dem Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie (bmvit) mit 4,2 Millionen Euro.

Über intelligente Städte und die Sinnhaftigkeit von dünnen Gläsern und bunten Solarzellen lässt sich streiten, keine Frage. Doch der hier gewählte Ansatz, das neue Grätzel als verwegenes Experimentallabor für künftige Technologien zu nutzen, ist überzeugender als viele andere Smart-City-Konzepte, die in den letzten Jahren gestartet wurden. All das, so der Plan, soll die kommende Generation hier eines Tages bereits im Schulunterricht vermittelt bekommen.

„Die drei Schwerpunkte der Smart City Graz sind Forschung und Entwicklung, Kunst und Kultur sowie der große Themenbereich der Education“, sagt Kai-Uwe Hoffer, Grazer Stadtbaudirektor und Projektleiter der Smart City Graz, im Gespräch mit dem STANDARD . „Unsere Vision ist ein Stadtquartier, in dem die Zukunft holistisch gedacht, ausprobiert und vermittelt werden kann. Dazu gehört auch Urban Smartness auf dem Stundenplan.“

9. September 2017 Der Standard

Tom Turbo und die Welt der Wunder

Nach drei Monaten schließt die Expo 2017 ihre Pforten. Angedacht war ein weltumspannender Dialog über einen nachhaltigeren Umgang mit Energie. Das Resultat ist zum Schämen. Österreich aber ist ein fröhlicher Lichtblick.

Der kleine Zhomart ist begeistert. Die nicht mehr ganz so junge Benazir ebenso. Wie von der Tarantel gestochen treten die beiden in die Pedale und erzeugen auf diese Weise, so lernt man im österreichischen Pavillon, bis zu 100 Watt Leistung. Je schneller die beiden radeln, desto mehr lösen sich die Pixel auf den Bildschirmen vis-à-vis in immer feinere Kristalle auf, bis sie sich schließlich – die ersten Schweißperlen stehen bereits auf der Stirn – zu einem klaren, scharfen Bild aus der Kaiserschmarrnküche fügen. Willkommen auf der Expo 2017 in Astana, die morgen, Sonntag, nach insgesamt drei Monaten zu Ende geht.

„Über Energie ist schon vieles gesagt worden, und wenn 140 Länder und Organisationen sich zu diesem Thema äußern, dann kann man davon ausgehen, dass viele Kommentare sehr ähnlich ausfallen werden“, sagt Johann Moser, Partner bei BWM Architekten. „Gerade auf einer Weltausstellung, auf der sich alles um Hightech und Innovation dreht und auf der man von Zahlen und Informationen erschlagen wird, wollten wir mit Überraschung und positivem Schock arbeiten. Also haben wir beschlossen, uns der Energie spielerisch anzunehmen.“

Unter dem Titel Mit Hirn, Herz & Muskelkraft bauten die BWM Architekten ein hallenfüllendes Fitnesscenter oder, wie Moser meint, ein „bewegungs- und geräuschintensives Energietheater“. Als Vorbild diente die sogenannte Weltmaschine, an der der steirische Bauer Franz Gsellmann die letzten 23 Jahre seines Lebens bastelte. Im Fokus, so Moser, stehe die Produktion von Freude und Energie und nicht so sehr eine unmittelbare Sinnhaftigkeit, wie man dies von Maschinen sonst kenne.

Und so gibt es neben den schweißtreibenden Fahrrädern eine ganze Batterie an Zugseilen und Wippschaukeln, mit denen man allerhand Materie bewegt: Riesenräder mit Schwarzenegger, Stephansdom und glücklichen Lipizzanern, dutzende Windräder und jede Menge Luftpumpen, die über Schläuche und Orgelpfeifen Musik in den unterschiedlichsten Tönen erzeugen. Eingepackt ist die ganze Maschinerie, die ein bisschen an Thomas Brezinas Wunderfahrrad Tom Turbo erinnert, in bunte Bilder und quietschgrelle Neonfarben. Die perfekte Kakocollage.

„Man kann nicht von jedem Expo-Besucher erwarten, dass er über Österreich bestens Bescheid weiß“, erklärt Rudolf Ruzicka, Expo-Projektleiter in der Wirtschaftskammer Österreich (WKO). „Daher fangen wir bei null an, und somit auch bei ein paar Klischeebildern, die vielleicht jeder kennt.“ Sinn und Zweck sei es, Österreich als innovatives, querdenkendes Land zu positionieren und den Leuten zu vermitteln, dass die allererste Veränderung und Energieoptimierung nicht in einer neuen Technologie, sondern bei uns selbst liege. „Wenn wir auf diese Weise in Erinnerung bleiben, dann ist schon ein großer Teil unseres Auftrags erfüllt“, so Ruzicka.

Loblied auf Wind und Sonne

Und das ist schon mehr, als man von der gesamten Expo behaupten kann. Das heurige Motto „Future Energy. Action for Global Sustainability“, mit dem sich die kasachische Hauptstadt als Austragungsort der Weltausstellung beworben hatte, wäre eine Riesenchance gewesen, sich fundamentalen Fragestellungen zu widmen, die bisherige Energiekultur kritisch zu beleuchten und mögliche Modelle für eine planetenfreundliche Zukunft zu diskutieren. Doch so weit sollte es nicht kommen.

Stattdessen rühmen sich die 114 teilnehmenden Länder in besten Superlativen, präsentieren sich als Hochburg nachhaltiger Energieproduktion, frönen dem heutigen Technikstand in Sachen Wind- und Sonnenkraft und deklinieren fröhlich die Mythen der Ersten Welt auf und ab. Deutschland machte einen auf „Wir wissen, wie’s geht“, Tschechien bietet Einblick in seine Kraftwerke und Pumpenindustrie, Italien gedenkt seines Batterieerfinders Alessandro Volta, Iran, Türkei und Turkmenistan rühren die Werbetrommel für ihre Kraftwerksanlagen, Aserbaidschan stellt Modelle seiner Bohrinseln aus, und Saudi-Arabien holt seine behaupteten Schwerpunkte Bildung, Forschung und Entwicklung vor den Vorhang.

Richtig infam wird es, wenn der bisweilen ahnungslose Expo-Besucher als Marionette der Bau- und Energieindustrie instrumentalisiert wird. Etwa in Monaco, das zuerst einen wunderbar gemachten Film über die so perfekte Koexistenz von Festland und Mittelmeer herzeigt, nur um den solcherart mit fliegenden Walen und Mantarochen eingelullten Besucher gleich im Anschluss für die Pläne des drei Hektar großen Landgewinnungsprojekts „Anse du Partier“ empfänglich zu machen, für das ein großer Teil der Meeresfauna und -flora umgesiedelt werden muss. Auch Frankreich lässt keine Unappetitlichkeit aus und bietet seinen Hauptsponsoren Peugeot, Total und Saint-Gobain eine aufwendig gemachte und konkurrenzlos großartige Werbeplattform.

Doch das alles ist nichts im Vergleich zu China und Russland. Das Reich der Mitte drückt auf die Tränendrüse und lässt auf der Leinwand eine Mutter sterben, um sie wenig später mit der Kraft des Atomkerns wieder zu reanimieren. Und Putinland füllt seinen Pavillon mit einer riesengroßen Kugel, die dank Lichtprojektionen zwischen Erdball und Atömchen oszilliert, und bläst die Fanfare für seine ganz und gar klima- und umweltverträgliche, nuklearbetriebene Eisbrecherflotte. Es ist zum Schämen und zum Heulen.

Viele, viele Lebensbäume

Des Horrors gäbe es noch viel zu zitieren. Da tut es schon mal gut, wenn man die schönen, subtil gestalteten Pavillons von Großbritannien, Israel und der Schweiz betritt oder sich alternativ in Ungarn, Vietnam und Malaysia an den zwar naiv, wiewohl friedvoll inszenierten „Lebensbäumen“ ergötzt. Oder man macht es gleich wie Afrika und Lateinamerika und lockt die Besucher mit einem touristischen Bazar voller Masken, Figuren und Kokosnussöl.

Ilya Urazakov jedenfalls, seines Zeichens International Participiants Department Director der Expo, ist mit der globalen Nabelschau zufrieden. Im Gespräch mit dem Standard erklärt er: „Mit 3,8 Millionen Besuchern in drei Monaten, davon 17 Prozent aus dem Ausland, wurden all unsere Erwartungen übererfüllt. Das Echo war sehr positiv, und ich denke, wir haben viel Publikum für das Thema Energie sensibilisieren können.“

Größenwahn und Muskelkraft

Rund vier Milliarden Euro hat sich Kasachstan die Expo kosten lassen. Ein Großteil davon fließt in die Bebauung des 170 Hektar großen Areals, das bis vor drei Jahren noch Steppe war. Die 80 Meter große Kugel, die als kasachischer Pavillon diente und als größte Glaskugel der Welt gilt, soll als Energiemuseum erhalten bleiben. An der Errichtung war auch das österreichische Photovoltaik-Unternehmen Ertex Solar beteiligt. Alle anderen Pavillons sollen zum Teil an die Nasarbajew-Universität übergeben und zum Teil als Center of Green Technologies sowie als internationales Finanzzentrum genutzt werden.

Die Pläne sind ambitioniert und setzen fort, was die Expo vorexerziert hat: Größenwahn und Muskelkraft. Chancen für einen seriösen Dialog mit der Welt hätte es viele gegeben. Österreichs Denkeinladung, in Zukunft mehr Herz und mehr Hirn einzusetzen, kommt wie gerufen.

2. September 2017 Der Standard

Eine Ahnung von Planung ohne Widerhall

Bei den Alpbacher Baukulturgesprächen sprach man über Weltkulturerbe, Baurecht und Digitalisierung

„Nairobi ist eine riesige Stadt, hat aber ein kaum funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz“, sagte der philippinisch-amerikanische Stadtplaner Benjamin de la Peña. „Aus diesem Grund haben wir die informellen Busse und Taxis, die sogenannten Matatus, vor einigen Jahren digital vernetzt.“ Unter dem Titel Digital Matatu können sich Stadtbewohner und Touristen ein Bild davon machen, auf welchen Routen die Matatus verkehren und wo sich die inoffiziellen Haltestellen befinden.

„Schön und gut“, meinte Adam Greenfield, seines Zeichens Stadtforscher und Autor des Pamphlets Against the Smart City, „aber durch die Registrierung im Netz befinden sich nun sämtliche Matatu-Fahrer auf dem Radar von Steuerbehörde und korrupter Polizei. Das erschwert das Leben einer ganzen Bevölkerungsgruppe. Der technische Fortschritt hat seinen Preis. Er macht die einen glücklich auf Kosten der anderen.“

Kontroversielle Debatte war das heuer gewählte Format der Alpbacher Baukulturgespräche, die am Freitag zu Ende gingen und traditionellerweise das Europäische Forum Alpbach abschlossen. Unter dem Generaltitel Konflikt und Kooperation diskutierten Befürworter und Gegner über die Sonnen- und Schattenseiten der urbanen Digitalisierung sowie über den Umgang mit Bauvorschriften, Weltkulturerbe und dem immer knapper werdenden Grund und Boden.

„Wir reden immer von Stadtplanung“, sagte Architekt Wolf Prix von Coop Himmelb(l)au. „Aber dieser Begriff beinhaltet einen fundamentalen Fehler. Er implementiert, dass Planung immer etwas mit Ahnung zu tun hat. In Wahrheit aber haben wir heute viel zu wenig Vorstellung davon, wie wir morgen wohnen und leben wollen.“ Um das herauszufinden, brauche es mehr Mut. Herwig Spiegl (AWG Architekten) plädierte für „mehr Experimente jenseits der Norm. Doch leider sind wir in einer Zeit angelangt, da keine Fehler und Misserfolge mehr geduldet werden.“

Was kontroversiell begonnen hatte, führte nach zwei Tagen zu einem überraschenden Konsens. Die Diskutanten waren sich darin einig, dass es dringend einer neuen Gesprächskultur und Vernetzungsbereitschaft bedarf. Es sei quasi unmöglich, Architekten, Stadtplaner, Forscher, Projektentwickler, Investoren und Politik an einen Tisch zu bekommen. Die Baukulturgespräche waren symptomatisch dafür. Die Entscheider und Gesetzgeber konzentrierten sich auf die Wirtschafts- und Finanzgespräche und blieben – bis auf wenige Ausnahmen – auch heuer wieder der Baukultur fern. Da kann man sich den Mund fusselig reden. Wenn die Verantwortlichen fehlen, verpufft jeder noch so wertvolle Konsens ohne Widerhall über den Tiroler Alpen.

26. August 2017 Der Standard

Stadt der Angsträume

Nach dem terroristischen Anschlag in Barcelona letzte Woche stellt sich die Frage: Welche Auswirkungen haben Angst und Gewalt auf die Zukunft unserer Städte? Wird der Terror zum Architekten?

Vor rund einer Woche fuhr ein Attentäter mit einem Lieferwagen über die Fußgängerzone La Rambla und tötete dabei 13 Menschen. Mindestens 119 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Es ist nicht der erste Terroranschlag seiner Art. Auch in Nizza und Berlin raste ein Lkw in eine mal sommerlich ausgelassen, mal weihnachtlich beschaulich feiernde Menschenmenge. Hinzu kommen Terrorattacken in Paris, Brüssel, Stockholm, London, Manchester und Istanbul. Am vorläufigen Ende dieser zwei Jahre dauernden Anschlagserie stellt sich die Frage: Wie können Architekten und Stadtplanerinnen darauf reagieren? Und welche Spuren werden Angst und Terror in der europäischen Stadt langfristig hinterlassen haben?

„Die meisten Städte sind auf die neuen urbanen Terrorangriffe kaum vorbereitet“, sagt Jon Coaffee, Professor für urbane Geografie und Leiter des Resilient Cities Laboratory an der University of Warwick, im Gespräch mit dem STANDARD . „Und das, obwohl der IS schon vor über einem Jahr Leitlinien zum Töten mit Autos und Trucks veröffentlicht hat. Da hilft es auch nicht, die Security an den großen öffentlichen Plätzen zu verstärken. Damit kann man bestenfalls ein, zwei hochfrequentierte Orte einer Stadt sichern. Doch was ist mit dem Rest?“

Die meisten Anschlagsorte werden unmittelbar nach dem Unglück mit Betonblöcken und diversen massiven Rammschutzpollern umzingelt. Meistens, so sind sich Experten einig, ist dies eine vor allem politische Maßnahme, um die Menschen zu beruhigen und das subjektive Sicherheitsempfinden in der Stadt zu stärken. „Kein Terrorist wird am gleichen Ort ein zweites Mal zuschlagen“, so Coaffee, „aber zugleich wird auch keine Stadtregierung diese Garantie abgeben und das Risiko einer ängstlichen und wütenden Bevölkerung auf sich nehmen wollen.“

Die Folge: Immer mehr öffentliche Räume in der Stadt werden mit sichtbaren, tonnenschweren Schutzmaßnahmen umzingelt. Zur „Hostile Vehicle Mitigation“ (HVM), so der Fachausdruck, zählen sogenannte Bremerwände, Jersey-Walls und Texas-Barriers, mobile und immobile Stahlpoller sowie ausfahrbare Rampen, Platten und Nagelsperren. Immer mehr private Anbieter bieten die Antiterrorpoller auch für den Privatbereich an und garantieren, damit einen Lkw mit bis zu 50 km/h aufhalten zu können. Ab 3000 Euro pro Stück ist man mit dabei.

„Ich halte die allmähliche Verpollerung und Betonverkübelung der Stadt für höchst zweischneidig“, erklärt Coaffee. „Einerseits fühlen sich manche Menschen dadurch zwar gut aufgehoben, andererseits aber schrecken mindestens genauso viele Menschen vor diesen Maßnahmen zurück, weil sie damit Angst und Terror assoziieren. Ganz generell stellt sich die Frage, die nicht nur technisch und politisch, sondern auch stadtpsychologisch und gesamtgesellschaftlich beantwortet gehört: Wollen wir wirklich, dass das die Zukunft der westlichen Stadt ist?“

Möbel gegen den Terror

Für die Antiterrorgestaltung auf der Wall Street in New York City – längst haben sich in Fachkreisen die Begriffe „Counterterrorism“ und CPTED („Crime Prevention through Environmental Design“) etabliert – hat das lokale Büro Rogers Partners Architects and Urban Designers eine etwas elegantere Tarnung in Form von kubischen Bronzeskulpturen vorgeschlagen (Foto links) . Die gute Nachricht: Die multifunktionalen Stadtmöbel werden von Brokern und Touristen zum Sitzen, Lehnen und Picknicken verwendet. Die schlechte Nachricht: Ihre primäre Counterterrorism-Funktion vermögen die windschiefen Würfel trotzdem nicht zu verbergen.

Dass es auch anders geht, beweist ein Projekt in Paris: Im Herbst starten die Bauarbeiten für die Sicherheitsmaßnahmen rund um den Eiffelturm. Entlang der Verkehrsachsen wird der österreichische Architekt Dietmar Feichtinger, der aus einem Wettbewerb als Sieger hervorgegangen ist, Stahlpoller und 200 Meter lange, transparente Wände aus schusssicherem Panzerglas aufstellen. Ein Eingriff in die Aura der Eisernen Dame ist das 20 Millionen Euro teure Projekt, das bis Sommer nächsten Jahres abgeschlossen sein soll, dennoch.

„Tatsache ist: Wir müssen uns dem Terror stellen und darauf auf architektonischer und stadtplanerischer Ebene reagieren, denn diese Attacken werden so bald nicht verschwinden“, sagt Daveed Gartenstein-Ross, Professor an der Georgetown University in Washington D.C. und Terroranalyst der Foundation for Defense of Democracies, im Interview mit dem STANDARD . „Mehr noch: Die Terrorangriffe nehmen nicht nur in der Häufigkeit zu, sondern auch in der Brutalität und Unvorhersehbarkeit.“

Als einzig mögliche Antwort darauf nennt Gartenstein-Ross den Begriff „Crisis Architecture“, also eine Architektur, die zwar dem Terrorismus geschuldet ist, sich aber ohne Stacheldraht und Nagelsperren harmonisch ins Stadtbild fügt. Prominentestes Beispiel dafür ist der sich derzeit in Bau befindliche Neubau der US-Botschaft in London (Visualisierung rechts) . Dass sich hinter dem von Kieran Timberlake Architects geplanten Projekt ein noch nie dagewesener Sicherheitsbunker verbirgt, ist dem Haus kaum anzumerken.

Nach dem Vorbild von mittelalterlichen Burgen steht das zwölfstöckige Gebäude auf einem leicht erhabenen Hügel, der rundum von Teichen und Wassergräben umgeben ist. Um hohe Zufahrtsgeschwindigkeiten zu vermeiden, sind sämtliche Wege und Straßen spiralförmig angelegt. Hinzu kommen diverse Geländesprünge, als Sitzbank getarnte Barrieren sowie mit Stahlseilen bespannte Büsche und Hecken. Die 15 (!) Zentimeter dicken Fassadengläser können sogar Schussbomben standhalten.

„Das ist ein gutes Beispiel für „Crisis Architecture“, die ihr Potenzial keineswegs in Form von Pollern und Barrieren mächtig nach außen kehrt“, meint Gartenstein-Ross. „Das ist ein holistischer Ansatz, wie wir unsere Städte auf stadtplanerischer Ebene ertüchtigen können, ohne sie dabei gleichzeitig zu brutalisieren. Wir befinden uns heute in einer Situation, in der solche Maßnahmen unerlässlich sind. Leider.“

Soll Barcelona London werden?

Die City of London ist seit vielen Jahren von einem hochkontrollierten „Ring of Steel“ umgeben. Das Stadtgebiet Greater London ist mit 500.000 Videokameras das am dichtesten bewachte Flächengebiet der Welt. Und schon heute bezeichnen viele Fachleute die Stadt an der Themse als „Fortress of London“. Die neue US-Botschaft als Pionierprojekt und womöglich normatives Best-Practice-Beispiel fügt sich perfekt in diese längst reale Paranoiopolis. Ist London die neue Vorzeigestadt für Nizza, Berlin und Barcelona?

„Architektur ist der Wille einer Epoche, ausgedrückt in Raum“, hat Ludwig Mies van der Rohe einmal gesagt. Die Frage, ob und inwiefern wir den Terror zum Planer unserer Städte ermächtigen wollen, ist noch nicht beantwortet.

12. August 2017 Der Standard

Der Turmbau zu Babel

Mitten in den Schweizer Alpen steht ein 30 Meter hoher Theaterturm. Der blutrote Wahnsinnsbau zählt zu den ungewöhnlichsten Projekten der letzten Jahre.

Ich bin der Sieg, ich bin der Sieg, ich bin der Held im Todesritt“, heißt es. „Und dann ging die Sonne hinab, und der Himmel wurde rot wie Blut, und der Himmel verschwand.“ Die zeitgenössische Oper Apocalypse des Schweizer Komponisten Gion Antoni Derungs handelt von Hunger, Krieg und Tod, vom Fall Babylons, vom infernalen Untergang der Welt. Eindringlich prasseln die Noten aufs Trommelfell, sperrig klingen die mal deutschen, mal lateinischen, mal rätoromanischen Worte. „Noli timere! Und die Trümmer der Stadt krachten in sich zusammen.“

Besser hätte man Ort und Oper nicht zusammenbringen können. Schon die Eröffnungspremiere vor einer Woche brachte die Potenziale dieses so unwirklich wirkenden Theaters an das sich langsam zu Ende neigende Tageslicht. Und es ist mitnichten Zufall, dass Text und Zeit fast auf die Minute genau aufeinander abgestimmt waren. Und der Himmel wurde rot wie Blut, nicht nur drüben in Mesopotamien, sondern auch hüben in den Schweizer Bergen, am Julierpass auf 2284 Meter Seehöhe.

Der Postbus kämpft sich mit 30 km/h die Kehren hoch, mit jeder Kurve wird die Luft kühler und die Landschaft karger, und spätestens, als man nach zwanzig Minuten die Baumgrenze passiert, kann man sich kaum noch vorstellen, dass in diesem gottverlassenen Hochland jemals Heidi über Stock und Stein gehüpft sein soll. Sils, Surlej, Silvaplana und das Millionärsstädtchen St. Moritz sind längst hinter den Bergen verschwunden, als am Horizont plötzlich ein ochsenblutroter Turm auftaucht.

Abweisend. Bedrohlich. Geheimnisvoll. Und von so einer ruhigen, minimalistischen Ästhetik gezeichnet, wie sie nur die Schweizer beherrschen. Nicht von ungefähr erinnert das 30 Meter hohe Objekt mit seinen übereinanderliegenden Rundbogenfenstern an den Turmbau zu Babel. Und als wäre das alles nicht schon genug der schauderhaften Mystik, muss man, als man endlich am Tor angekommen ist und kopfüber in den Himmel hochblickt, an den schwarzen Monolithen denken, der dereinst im Kino-Epos 2001: Odyssee im Weltraum den Affen zum Affen machte.

Mit einem Knarren öffnet sich die Tür. Der tiefrote Pinselstrich ist in der Holzoberfläche noch deutlich zu erkennen. Ein wenig braucht das Auge, um sich an die Enge des Innenraums zu gewöhnen. Nach wenigen Sekunden offenbart sich ein zehneckiges Panoptikum mit Nischen und Bogenfenstern hinaus in die Welt. In der Mitte ist ein großes, leeres Nichts, in dem eine kreisrunde Plattform von der Decke hängt. Während der Vorstellungen kann die mobile Bühne mittels Kettenzugs wie ein Lift auf und ab fahren. Die Ähnlichkeit zum elisabethanischen Globe Theatre in London ist nicht von der Hand zu weisen. Bis zu 220 Personen fasst der Saal.

„In jedem anderen Theaterhaus ist man von der Welt abgeschirmt, und zwischen Publikum und Fiktionsraum hängt ein Vorhang, der das Geschehen noch ferner abrückt und noch distanzierter erscheinen lässt“, sagt Giovanni Netzer. „Doch hier verschmelzen Bühne, Kulisse und Landschaft zu einem grenzenlosen Ganzen. Dieser Raum ist alles andere als ein Guckkasten, alles andere als eine Blackbox. Es ist ein Ort, an dem wir üben können, uns den Naturgewalten zu fügen und mit ihnen zu arbeiten.“

Archaische Themen

Netzer ist Intendant des 2005 gegründeten Theaterfestivals Origen. Wie der Name schon sagt, hat man sich zur Aufgabe gemacht, die darstellenden Künste in ihrer Ursprünglichkeit auf die Bühne zu bringen. Gezeigt werden traditionelle Formate aus dem Engadin, regionale Ressourcen aus den Bereichen Oper, Tanz und Theater, aber auch archaische Themen aus der Historie – mit Vorliebe gregorianische Gesänge, Parabeln über die sieben Todsünden, Apokalyptisches aus dem Alten Testament.

„Ich habe Theologie studiert und kann meine Wurzeln nicht leugnen“, sagt der 50-Jährige. „Doch auch ohne diesen Hintergrund wird man hier oben in den Bergen, an diesem so geschichtsträchtigen Julierpass, über den einst die Seidenstraße verlief und an dem heute noch verschiedene Sprach- und Kulturkreise aufeinanderprallen, einer höheren Gewalt gewahr. Hier kann man über das eigene Leben und die Ewigkeit der Steine nachdenken. In den Städten hat man dafür keine Zeit.“

Doch wozu braucht man inmitten dieser wie auch immer gearteten, weltlichen oder geistlichen Gewalten überhaupt Architektur? „Der Julierturm ist weniger ein Haus als vielmehr ein Bühnenbild, das die Funktionen Bühne, Kulisse und Zuschauerraum in sich vereint“, widerspricht der Gesamtkünstler, der in diesem Projekt höchstselbst in die Rolle des Architekten schlüpfte und sich dem Entwurf in hunderten Skizzen und 80 verschiedenen Kartonmodellen näherte. Wie jedes Schaustück ist auch dieses nur ein temporäres. Nach vier Jahren soll der Julierturm, der auf einem bereits bestehenden Parkplatz neben dem Bergsee errichtet wurde und sich als höchstgelegenes Opernhaus Europas rühmt, abgebaut und das Grundstück wieder renaturiert werden.

„Nichts ist ewig. Nicht auf der Bühne. Und schon gar nicht hier oben in den Bergen, wo der Winter brutal hart ist und der Wind mit bis zu 250 km/h über den Pass fegt“, sagt Netzer. „Der Turm wird so unvollendet bleiben wie jener in Babylon. Denn wenn man hier oben Theater macht, dann muss man auch akzeptieren, dass am Ende die Naturgewalten siegen werden.“ Schon bald, hofft der Theatermacher, wird die ochsenblutrote Lasur die erste Patina angelegt haben. Und tatsächlich ist die Konstruktion nicht für die Ewigkeit bestimmt: Der Graubündner Bauingenieur Walter Bieler baute nach den Plänen Netzers eine einschalige Konstruktion aus zwölf Zentimeter dickem Brettschichtholz, die mittels 28.000 Schrauben zusammengehalten wird. Die einzelnen Module wurden mittels Schwertransporter auf den Pass hochgefahren. Die den Himmel und das Gesteinsmassiv reflektierenden Glasscheiben wurden per Autokran an Ort und Stelle eingehängt. Der Rest ist ein Langzeitprovisorium.

Vier Wochen hat die Bauzeit gedauert – von der Fundamentplatte bis zum letzten Scheinwerfer. Ein paar Details wie etwa Aufzug, Heizung und Bühnentechnik werden sich noch bis in den Herbst ziehen. In Summe wird der Julierturm, der sich ausschließlich über Firmensponsoring, Privatspenden und gestiftete Sitzplätze und Fensterlogen finanziert, drei Millionen Schweizer Franken (2,6 Millionen Euro) gekostet haben. „Ego sum alpha et omega, principium et finis“, heißt es am Ende der Apocalypse. Diesen Wahnsinn muss man gesehen haben.

Der Julierturm wird ganzjährig bespielt. Um den Individualverkehr einzudämmen, ist der Besuch der Aufführungen ausschließlich mit Shuttlebus oder öffentlichem Postbusverkehr möglich. Routen ab Chur und St. Moritz. Die Fahrt ist im Eintrittspreis inbegriffen.

29. Juli 2017 Der Standard

Reden, retten, reparieren

Auf dem ehemaligen Nordbahnhofareal in Wien sollen Stadtplanung und Stadtentwicklung neu gedacht werden. Die Ausstellung „Care + Repair“ macht konkrete Vorschläge, wie das gehen könnte.

Die Wechselkröte ist ein nicht sonderlich hübscher Lurch in militanter Tarnoptik. Doch Bufo viridis hat ein Ass im Schenkel. Das zehn Zentimeter große Tier, eine von rund 700 geschützten, in Wien beheimateten Arten, ist ein regelrechter Baustopper. Schon einmal sorgte es auf den ehemaligen Nordbahnhofgründen, nachdem es sich auf dem sandigen und erdigen Areal bequem gemacht hatte, für eine monatelange Bauverzögerung. Das freute zwar die Naturschützer, mitnichten aber die Baggerfahrer und Bauträgerkonsortien, die hier bis 2025 rund 4500 Wohnungen errichtet wollen.

Wenn das Architekturzentrum Wien (AzW) nun seinen Heimatstandort im Muqua verlässt und in die Leopoldstadt ausrückt, um in der Nordbahnhalle die interaktive Ausstellung Care+Repair zu präsentieren, dann kann das durchaus auch als Rettungsaktion für Quaxi und Konsorten verstanden werden. Sechs Wochen dauert die Aktion, an der sich lokale und internationale Künstler und Architekten beteiligen und in die auch so mancher Bewohner des benachbarten Robert-Uhlir-Hofs miteinbezogen wurde.

„Die produktive Stadt braucht auch etwas Reproduktives“, sagt Angelika Fitz, Direktorin des AzW. Gemeinsam mit der Wiener Kunsttheoretikerin Elke Krasny kuratierte sie die stetig wachsende Ausstellung, die sie selbst als „Arbeitslabor“ bezeichnet und die nun im Rahmen der Vienna Biennale 2017 und des dreijährigen Forschungsprojekts „Mischung: Nordbahnhof“ zu sehen ist. „In den Politik- und Sozialwissenschaften beschäftigt man sich schon seit langer Zeit mit der Pflege, Reinigung und Reparatur des Bestandes. Im Urbanismus jedoch ist diese Idee noch ziemlich neu.“

Oder, wie Co-Kuratorin Krasny meint: „Üblicherweise baut man die Stadt der Zukunft, indem man zunächst all das zerstört, was schon da ist. Wie schon in der Moderne machen wir Tabula rasa, ohne soziale, kulturelle, materielle, ökologische oder wie auch immer geartete Ressourcen zu berücksichtigen.“

Care+Repair, so der Anspruch, macht sich auf die Suche nach jenem unbezahlbaren Schatz namens Geschichte und Identität, der in der Regel von Baggern und Bulldozern zu Tode planiert wird, sobald der Natur wieder einmal ein Stückchen Land abgerungen wird. Architekten, Stadtplaner, Künstler, Kulturtheoretiker, Biologen, Ornithologen, Schriftsteller und Forscher zogen gemeinsam durch die Büsche, spazierten über Gleise und stillgelegte Kohlerutschen und ließen sich in Tunnels, Unterführungen und aufgelassenen Bahnwärterhäuschen nieder, um das Areal des ehemaligen Nordbahnhofs zu erforschen und sich mit seinen dokumentierten und auch undokumentierten Potenzialen vertraut zu machen.

Zissis Kotionis und Phoebe Giannisi aus Volos (Griechenland) studierten die Sprache der Vögel und führten einen ornithologischen Dialog zwischen Federvieh und Aristophanes auf. Cristian Stefanescu reaktivierte eine der Gleisunterführungen und veranstaltete in der sogenannten Zukunfts-Kwizin einen Galabrunch für Anrainer, Migranten und Kulturschaffende. Meike Schalk aus Stockholm konzentrierte sich auf das Thema Gemeinschaftsräume und fragte sich gemeinsam mit den Bewohnern des Robert-Uhlir-Hofs, warum diese so selten angenommen werden. Und Rosario Talevi von der Urban School Ruhr (USR) suchte vor Ort nach bereits bestehenden baulichen Manifestationen von Stadtraum, Infrastruktur und Bühne.

Das vielleicht interessanteste, weil auch zum jetzigen Zeitpunkt greifbarste Projekt stammt vom Brüsseler Büro Rotor. Das interdisziplinäre Kollektiv zog mit Kalkfarbe eine weiße Linie durch die Landschaft und definierte so die künftige Grenze zwischen urbanem Wohnbiotop und unberührter Natur. Und es ist kein Zufall, dass das solcherart markierte Areal mit der sogenannten „Freien Mitte“ zusammenfällt, wie sie im aktuellen städtebaulichen Masterplan von Studio Vlay vorgesehen ist. Innerhalb dieser zwölf Hektar großen „Freien Mitte“, so der Plan, soll die Gstätten Gstätten bleiben dürfen. „Non-Design-Park“ nennt sich das im Fachjargon.

Zudem begab sich Rotor auf Recherche- und Forschungsexpedition durch den österreichischen Osten – zu Altholzhändlern, Pflastersteinfriedhöfen und nostalgisch veranlagten Baustoffsammlern, in deren Lagerhallen Schätze aus Abbruchhäusern der letzten hundert Jahre schlummern. Das Resultat dieser Suche ist eine mehrere tausend Quadratmeter große Sammlung an Parkettholz, Granitplatten und handkolorierten Zementfliesen von anno dazumal, die zu neuem Leben erweckt werden sollen.

„Unser Projektansatz beschäftigt sich sehr stark mit der urbanen Entropie“, sagt Renaud Haerlingen, Mastermind bei Rotor, „mit der Ungleichheit zwischen Alt und Neu, zwischen Groß und Klein, zwischen System und Singularität. Daher haben wir uns bewusst damit beschäftigt, wie wir wieder das Alte, das Kleinteilige, das Unverwechselbare ins Bauen zurückbringen können. Alte, bereits verwendete Baustoffe haben bereits Geschichte und Identität. Im reinen Neubau ist so eine Qualität kaum zu erzielen.“

Die Sammlung ist ein erster Schritt. Damit weiterzuarbeiten, meint Haerlingen, wäre ein absolutes Umdenken in der gesamten Architektur- und Baubranche. Eine Möglichkeit wäre, die Bauträgerwettbewerbe im Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof zu nutzen und die Reusing- und Recyclingansätze in der Ausschreibung zu verankern. Eine andere, weitaus realistischere Variante wird sein, Architekten und Bauträger an einen Tisch zu setzen und mit ihnen eine neue Baustoffkultur auszuhandeln.

„Das sind wunderschöne Ansätze, die unserer Planung sehr entgegenkommen“, meint Lina Streeruwitz auf Anfrage des Standard. Gemeinsam mit dem Stadtplaner Bernd Vlay erstellte sie 2012 den ungewöhnlichen Nordbahnhofmasterplan mit dem Nichts in der Mitte. „Dass wir dafür plädieren, zwölf Hektar Land so zu belassen, wie sie sind und mit alten Baustoffen zu arbeiten, hat nicht nur romantische Gründe. Das ist auch billiger und ressourcenschonender.“ Damit werde viel Budget frei, das man andernorts besser und sinnvoller nutzen könne.

„Es ist so naheliegend, und trotzdem bedarf es irrsinnig viel Anstrengung von allen Seiten, um alte, festgefahrene Gewohnheiten der Stadtentwicklung zu überdenken“, sagt Streeruwitz. „So viel Energie, nur, um das zu retten, was schon da ist. Ist das nicht eigenartig?“ So gesehen ist Care+Repair nicht zuletzt auch ein Reparaturappell an die Baubranche und Verwaltung.

Die Ausstellung „Care + Repair“ schließt morgen, Sonntag. Die Kuratorinnen laden um 19 Uhr zum Abschlussgespräch „Wie weiter?“. Nordbahnhalle beim Wasserturm, Leystraße Ecke Taborstraße.

15. Juli 2017 Der Standard

Allah für alle

Das Werk ist vollbracht: Nach acht Jahren Bauzeit und ewigen Grabenkämpfen vor Gericht ist die Ditib-Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld nun endlich in Betrieb. Es soll ein Ort des Dialogs sein, ein Gotteshaus für alle.

Das allererste Freitagsgebet im neuen Kuppelsaal wurde in einem sechsminütigen Youtube-Video festgehalten. Dass die Amateuraufnahme ausgerechnet in der Kategorie „Komödie“ ins Netz gestellt wurde, ist ein fulminanter Seitenhieb auf die achtjährige Bauzeit, die von Baustopps, Baumängeln, Streitigkeiten, gegenseitigen Anschuldigungen und unzähligen Rechtsanwaltskorrespondenzen geprägt war. Nun, fünf Jahre nach der geplanten Eröffnung, kann Allah erstmals angerufen werden – nicht ohne einen leicht fahlen Nachgeschmack, der nach wie vor in der Luft liegt.

Die Zentralmoschee in Köln-Ehrenfeld hätte einst stolzes Symbol für den interkulturellen und interreligiösen Dialog in Deutschland werden sollen. Und die ersten Schritte schienen vielversprechend. Die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion, kurz Ditib, hatte einen Wettbewerb ausgelobt, den Paul Böhm, Spross einer alten Kölner Kirchenbaudynastie, gewann. Gemeinsam trotzten Bauherr und Architekt den anfänglichen Widerständen der Kölner Konservativen und den in den Folgemonaten aufkeimenden Bürgerprotesten. Immer wieder trat man gemeinsam vor Mikrofone, um den einen Hoffnung zu geben und die anderen zu beschwichtigen.

Doch schon bald tauchten die ersten sprichwörtlichen und buchstäblichen Risse auf. In der Fassade, in der Kuppel, in den Minaretten. Die Fenster wurden morsch, der Betonkanten brüchig, die Stufen am Weg hinauf aufs Plateau wackelig und lose. So mancher Blick aufs Detail ist schauderhaft. Und das bei einer zwar nicht offiziell kommunizierten, aber kolportierten Bausumme von über 40 Millionen Euro.

„Ich werde Ihnen jetzt keine Mängelführung geben, denn dazu ist der Zeitpunkt ein viel zu schöner und viel zu feierlicher“, sagt Ayse Aydin, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der Ditib. „Aber lassen Sie mich nur so viel sagen: Die Liste des gerichtlich bestellten Gutachters umfasst rund 2000 Baumängel, von denen ein Teil bereits behoben und ein Teil wohl nie wieder wirklich repariert werden kann. Es ist nicht lustig. Wir prozessieren.“

Im Abseits des juristischen Hickhacks, das wohl noch Jahre in Anspruch nehmen wird und zu dem sich das Architekturbüro Böhm am Telefon nicht äußern möchte, ist die Kölner Zentralmoschee ein in der Tat überwältigender Bau, der weithin sichtbar zelebriert, wie moderner Islam aussehen kann. 35 Meter hoch ragen die in Sichtbeton belassenen Kuppelschalenfragmente in den Himmel und fügen sich zu einer imposanten Skulptur, die ein bisschen an Darth Vader und ein bisschen an die TV-Verkehrspuppe Helmi erinnert. Ergänzt wird der Bau von zwei 55 Meter hohen, luftig gewickelten Minaretten. Die beiden vergoldeten, scheinbar frei schwebenden Serviettenringe sind ein Zitat der üblicherweise umlaufenden Muezzinbalkone.

Kuppel mit Suren und Sternen

Doch die Neudefinition konzentriert sich in erster Linie auf das Äußere: Während in Berlin-Moabit die deutsche Frauenrechtlerin Seyran Ateş erst kürzlich eine auch inhaltlich revolutionäre Moschee mit gemeinsamem Gebetsraum für Frauen und Männer eröffnete, herrscht in Köln-Ehrenfeld nach wie vor strikte Geschlechtertrennung. Die Männer sitzen unten in unmittelbarer Nähe des Minbars, wie die getreppte Kanzel korrekterweise bezeichnet wird, die Frauen oben auf der Galerie.

Zu diesem konservativen Bild passt auch die Gestaltung des Innenraums. Im Gegensatz zum schlichten, fast schon minimalistischen Außenraum nämlich ist der Kuppelsaal, der bis zu 1200 Menschen Platz bietet, innen ganz klassisch mit Sternornamenten und arabischen Koransuren gesäumt. Die Komposition in Gold, Creme und Türkis stammt vom Istanbuler Künstler und Dekorateur Semih Irteş. Immerhin eine schöne, himmlisch anmutende Abwechslung zum sonst vorherrschenden Rotkanon, den man in vielen anderen Moscheen vorfindet.

„Architektur und Technik dieses Hauses sind sehr modern“, sagt Selim Mercan, Leiter der Ditib-Abteilung für Bauwesen und Liegenschaften, beim Rundgang kurz vor dem Freitagsgebet. „Innen jedoch ist von dieser gestockten Betontechnik, von der Fußbodenheizung und von den vielen Erdsonden, die wir in den Boden gerammt haben, nichts zu spüren. Dieser Raum ist ganz und gar der Schönheit des Gebets gewidmet.“ Eine feine, wohlige Wärme macht sich breit, wenn Mercan von seiner Moschee schwärmt. Oben hängt ein zehnstrahliger Stern am Firmament.

„Wissen Sie, die Architektur ist das eine, aber hier geht es nicht nur darum, wie die Moschee aussieht, sondern auch darum, was sie alles leistet“, erklärt Bekir Alboğa. Schon seit 2004 ist er Abteilungsleiter für interreligiöse Zusammenarbeit und Generalsekretär im Bundesvorstand der Ditib. „Wir sind mehr als nur eine Moschee. Wir sind ein kleines Stadtteilzentrum mit Konferenzräumlichkeiten, Geschäften und Gastronomie. Und zwar nicht nur für Muslime, sondern für alle.“

Das Konferenzzentrum im Erdgeschoß bietet Platz für bis zu 700 Menschen. Und in der in Eichenholz und Marmor gehaltenen Einkaufspassage findet man eine clevere Ergänzung zum brummenden Multikultiviertel Ehrenfeld: Boutique, Buchhandlung, ein Geschäft mit Trockenfrüchten, ein Lokal mit Halal-Gerichten und sogar eine Filiale der kuwaitisch-türkischen KT Bank. Zwei Drittel der insgesamt 20 Geschäftslokale sind bereits vermietet. Zum „modernen, quirligen Bazar“, wie die Passage von den hier tätigen Ditib-Angestellten gerne beschrieben wird, ist es zwar noch ein Weg, aber gewiss kein weiter.

„In Köln leben weit über 120.000 Muslime“, sagt Generalsekretär Alboğa. „Und allein in unserem unmittelbaren Einzugsgebiet haben wir 500 bis 600 regelmäßig praktizierende Mitgliedsfamilien. Hinzu kommen die vielen, vielen Menschen, die uns allein deshalb schon besuchen, weil hier Ortsgemeinde, Landesverband und Bundesverband an einem Ort gebündelt sind.“ Besonders stolz ist Alboğa auf die Kölner Touristenbusse: „Mittlerweile machen die auf ihrer Standardroute sogar einen Bogen, um an uns vorbeizufahren. Wir sind ein Wahrzeichen geworden.“

Bleibt abzuwarten, ob die neue Moschee imstande ist, seine Mission zu erfüllen. „Der Wunsch, ein Gotteshaus zu erstellen, das die unterschiedlichen Kulturen zusammenbringen sollte, ist durch die Streiterei ums Geld nicht mehr realisierbar“, beklagt Gustav Menninger, Baumeister beim von der Ditib ebenfalls geklagten Bauunternehmen Nuha. Die Risse im Beton sind gekittet. Und auch die Wogen in den konservativen Kreisen der Kölner Bevölkerung sind in der Zwischenzeit geglättet. Jetzt geht es darum, die Gräben zwischen den Projektbeteiligten zu schließen und den viel beschworenen Dialog zu starten. Die offizielle Eröffnung der Ditib-Moschee ist für Ende 2017 geplant.

8. Juli 2017 Der Standard

Paolo Piva 1950–2017

Der österreichisch-italienische Architekt und Designer hinterlässt ein umfangreiches Werk im Bereich Möbel- und Industriedesign. In Wien wirkte er seit 1991 auch als Professor an der Universität für angewandte Kunst.

Er war ein Kämpfer, ein Besessener, ein Eroberer der Materie. „Es geht nicht um ein gemütliches Leben“, sagte er. „Es geht um den ständigen Kampf, jemanden zu überzeugen, dass ein Objekt so und so sein muss. Das ist hart. Aber auch eine Besessenheit von der Freude, etwas zu machen.“ Gestern, Freitag, ist der österreichisch-italienische Architekt und Designer Paolo Piva im Alter von 67 Jahren in Wien gestorben. Piva hinterlässt ein recht kleines Architektur-Œuvre, dafür aber ein umso umfangreicheres Werk im Bereich Möbel- und Industriedesign.

Zu seinen regelmäßigen Kunden zählten italienische Möbelhersteller wie Poliform, De Sede und B&B Italia, der italienische Küchenproduzent Varenna sowie die österreichischen Möbelwerkstätten Wittmann. Seine Entwürfe waren meist klassisch und orientierten sich in der Regel an der Moderne beziehungsweise an der Wiener Werkstätte. Immer wieder blitzte als Zitat der Würfel oder die charakteristische Steppnaht durch. Vor allem bei den für Wittmann entworfenen Sitzmöbeln war der mentale Übervater Josef Hoffmann nicht zu übersehen.

Piva, 1950 in Adria geboren, studierte Architektur bei Carlo Scarpa in Venedig und beschäftigte sich mit Architektur und Baukultur im sozialistischen Wien. 1975 macht er in Zusammenarbeit mit dem Institut für Geschichte und Architektur in Venedig und der Akademie für angewandte Kunst in Wien die Ausstellung Vienna rossa (Rotes Wien).

Wenige Architekturprojekte

Es folgen einige wenige Architekturprojekte wie etwa ein Wettbewerb für die Wiener Internationale Gartenschau WIG 74, die kuwaitische Botschaft in Katar (1980), die Corporate-Designs für eine italienische Warenhauskette (1981) sowie die Renovierung des Palazzo Remer in Venedig (1986). Im Hintergrund kümmerte er sich zudem um den Ideenwettbewerb der denkmalgeschützten Fiat-Fabrik Lingotto in Turin.

Doch schon bald kehrt Piva dem großen Maßstab den Rücken und widmet sich fortan dem Innenraum. Viele Fauteuils, viele Sofas, viele Couchtische werden durch seinen strengen Strich zum Leben erweckt. Die genaue Zahl ist nicht bekannt, doch das Werk wird wohl in die Hunderte gehen. „Design“, sagte er, „sei ein kontinuierlicher Prozess, der mit der Bewusstwerdung anfängt. Ein Designer ist jemand, der immer wieder von neuem erfindet. Es geht um eine Art Eroberung des Objekts.“

Seit 1991 war Piva Designprofessor an der Universität für angewandte Kunst in Wien. Für nächstes Jahr, heißt es, habe er geplant, sich aus dem Unterrichten zurückziehen. Unter seinen Absolventen galt er als streng und fordernd. Nicht selten kommentierte er einen Entwurf, wenn er ihn nicht goutierte, mit italienischem Akzent und beharrlichem Fallfehler mit den Worten: „Machen Sie einfach einen Lampe daraus!“

Piva lebte in Wien, in Biella (Piemont) und in Venedig. „In Italien“, sagte er, „profitiere ich von der Vitalität, Österreich hingegen motiviert mich intellektuell.“ Täglich drehte der Herr mit Schnurrbart seinen Spaziergang durch die Wiener Innenstadt – stets elegant gekleidet und meist mit Zigarre in der Hand – und verbrachte viele Stunden in seinem geliebten Kleinen Café am Franziskanerplatz. In einem STANDARD -Interview meinte er vor vielen Jahren: „Jeder soll versuchen, sich mehr oder weniger zu entwurzeln, um dann wieder Wurzeln zu schlagen, die vielleicht in die Luft wachsen.“

1. Juli 2017 Der Standard

Der Architekt als Krisenmanager

Wie ist es um die Zukunft des Bauens bestellt? Gar nicht gut. So zumindest sieht es eine aktuelle Ausstellung in Graz, die acht dystopische Perspektiven auf einem Haufen versammelt.

Es regnet an diesem Nachmittag in Montreal. Die Häuser sind so grau und so farblos wie der heulende Himmel. Doch plötzlich tut sich vor der Baugrube in der Rue Sainte-Catherine ein kleines Paradies auf. Immobilienentwickler bauen gerade an einem neuen Stückchen Luxus für die Superreichen. Mit Efeu, mit Pool, mit wie zufällig über den Liegestuhl drapiertem Badetuch. Unweigerlich blickt man auf den planschenden Bewohner links im Fenster und möchte sofort in eine Zeitmaschine steigen und dieser hässlich verregneten Realität mit Baukran und Parkometer entfliehen.

„Mich faszinieren diese Bautafeln schon seit vielen Jahren“, sagt der kanadische Foto- und Videokünstler Paul Landon, „denn sie transportieren eine Stimmung und eine künftige Wunschwirklichkeit, die so niemals eintreten wird. In diesem Spagat zwischen Sehnsucht und Realität ist meine Arbeit zu Hause.“ Rund 500 Fotografien aus aller Welt hat der 54-Jährige, dessen Fotozyklus kürzlich von der Future Architecture Platform im Rahmen eines internationalen Calls ausgewählt und ausgezeichnet wurde, zusammengetragen: Wohnungen, Penthouses, Luxusapartments, Bürotürme und exklusive Shoppinggalerien.

„Es geht hier nicht nur um eine visualisierte, computergenerierte Vorwegnahme der Architektur, sondern auch um eine ganz bestimmte Konstruktion von Zukunft“, meint Landon, der in seiner Heimatstadt Montreal vor zehn Jahren die atmosphärischen Tricks der Immobilienbranche zu dokumentieren begann und mittlerweile schon einen ganzen Immo-Weltatlas damit füllen könnte. Dissolving Futures, auf Deutsch am besten mit dem Begriff „Zukunftsauflösungen“ zu umschreiben, nennt sich Landons Kompendium.

Country-Chic und Nostalgie

„Es gibt große geografische Unterschiede, denn je größer und je futuristischer die Stadt, desto traditioneller und nostalgischer werden die künftigen Bauprojekte dargestellt“, erzählt der Fotograf. Am stärksten sei dieser Trend in China zu beobachten, wo das neue Wohnen mit Country-Chic und Gipsstuck beworben wird. „Da ist es manchmal schon schwer zu sagen, was das Neue und was das Alte ist. Im Kontext einer wachsenden, sich ständig verändernden Gesellschaft finde ich diese Entwicklung hochgradig verwirrend.“

Vor allem aber, erklärt Landon, habe sich in letzter Zeit die Darstellungsweise gewandelt. Ging es früher um eine lebendige, städtische Stimmung mit Menschen, Bäumen und Schanigärten (im Fachjargon spricht man auch von People-Washing, Green-Washing und Mood-Washing), so dominieren auf den Bautafeln heute Sicherheitsaspekte und Wohnkomfort. „Offenbar haben die Konsumenten nach den politischen Ereignissen der letzten Jahre genug von sozialer Öffentlichkeit. Sie sehnen sich nach kontrolliertem Rückzug, nach Alarmanlage und Videoüberwachung.“ Und die Immobilienbranche reagiert darauf mit entsprechenden Bildern.

„Genau das ist der Punkt“, sagt die Grazer Kuratorin Ana Jeinić. „Die heutige Architektur befindet sich in einer tiefen Krise, weil sie keine Visionen mehr hat, sondern nur noch auf funktionale und kapitalistisch bedingte Scheinbedürfnisse reagiert. Das ist ein Zusammenbruch jeglicher Zukunftsvorstellungen sowie des Zukunftsbegriffs an sich. Wie es scheint, haben wir heute Angst vor zukunftsorientiertem Denken. Wir stehen still.“

Um auf dieses soziale wie auch kulturelle Defizit hinzuweisen, hat Jeinić im Haus der Architektur (HDA) in Graz vor wenigen Tagen eine zum Nachdenken anregende Ausstellung eröffnet. Architecture after the future, so der Titel der Schau, beschäftigt sich mit der Frage, welche Auswirkungen der Stillstand der postfuturistischen Gesellschaft künftig auf Architektur und Städtebau haben wird. Gezeigt werden acht ganz unterschiedliche, teils aktiv gestaltende, teils kritisch beobachtende Arbeiten, die von der Future Architecture Platform – einem europaweiten Netzwerk, dem auch das HDA angehört – aus insgesamt 330 Projekteinreichungen ausgewählt wurden. Paul Landons Fotodokumentation ist eine davon.

Angst vor Amazon

„Wir schrecken davor zurück, die Zukunft in die Hand zu nehmen“, sagt Jeinić. „Viele Architekten bauen nichts mehr, sondern setzen sich nur noch reflexiv oder im besten Fall provisorisch mit der Welt auseinander.“ Und so gibt es in der Ausstellung temporäre Pop-up-Zelte für Menschen in Not, geopolitische Lösungsansätze für den Territorialkonflikt zwischen Chile und Peru und süffisante Gedankenkonstrukte zu einer Archäologie der Europäischen Union. Man muss schon viel Zeit und viel Hirnschmalz in die Ausstellung mitbringen, um im mitunter verkopften Textdschungel den Überblick zu bewahren.

Spannend, weil so naiv wie auch bösartig hinters Licht führend ist Florian Bengerts Entwurf für einen Paketsilo mitten in der Stadt. Unter dem Titel Space in Time. The Future of Logistic Landscapes liefert der 27-jährige Architekt aus Karlsruhe eine zugleich praktische wie auch zutiefst verstörende Antwort auf den zunehmenden Onlinehandel und auf das damit verbundene, bevorstehende Verschwinden traditioneller Handelsstrukturen aus der Stadt. Seine mit Werbung illuminierten Betonsilos, die sogar über Kapelle und Kapselhotel verfügen, sind eine dystopische Reaktion auf Amazon und Zalando.

Und im sehr kontemplativen Projekt I would prefer not to – ein Zitat aus Herman Melvilles Buch Bartleby, The Scrivener – trägt der slowenische Architekt Miloš Kosec unterschiedliche Fälle aus der Vergangenheit zusammen, in denen sich Architekten verweigert haben zu planen und zu bauen. Da gibt es Fassaden, die bewusst nicht entworfen wurden (Jean Nouvel), Häuser, die bewusst nur zur Hälfte errichtet wurden (Alejandro Aravena), oder Platzgestaltungen, bei denen die Architekten bewusst entschieden haben, alles so zu belassen, wie es ist (Lacaton & Vassal).

So nihilistisch wie die zusammengetragenen Projekte ist auch die Ausstellung an sich. Inmitten der inszenierten Verweigerung kriegt man als Besucher früher oder später selbst unweigerlich die Krise. Wie sagt doch Kuratorin Ana Jeinić? „Wenn es tatsächlich stimmt, dass wir uns in einer Zukunftskrise befinden, dann ist der erste Schritt, sich dieser Krise bewusst zu werden.“

17. Juni 2017 Der Standard

„Keine Konkurrenz zwischen Berater und Beratenen“

Vor zehn Jahren wurde der BIG-Architekturbeirat gegründet. BIG-Geschäftsführer Wolfgang Gleissner und die beiratsvorsitzende Architektin Elsa Prochazka reflektieren über Erfolge und Hoffnungen.

Standard: Der BIG-Architekturbeirat (BAB) wurde vor genau zehn Jahren gegründet. Was waren die Beweggründe, ihn einzurichten?

Gleissner: Mit der Zeit und mit den Projekten wird man leicht betriebsblind. Dem wirken wir mit dem Beirat entgegen. Er hält uns den Spiegel vor und ist ein Mittel zur Selbstreflexion, damit wir in unseren Prozessen noch besser werden und noch klarer kommunizieren.

Standard: Nach welchen Kriterien und Statuten gehen Sie im BAB vor?

Prochazka: Unsere wichtigste Aufgabe ist, immer wieder daran zu erinnern, dass die BIG als öffentlicher Auftraggeber auch eine gewisse kulturelle und gesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt. Dazu gehört auch, dass man die Nutzerinnen und Nutzer schon in der Vorbereitung einbezieht.

Gleissner: Eine wichtige Aufgabe, die der BAB wahrnimmt, ist auch die Überlegung, zu welchem Projekt welches Verfahren der Planerfindung am besten passt.

Standard: Wie viele unterschiedliche Verfahren wendet die BIG denn bei ihren Projekten an?

Gleissner: Insgesamt haben wir seit Bestehen des BAB sechs verschiedene Verfahren angewandt, wobei mehr als die Hälfte aller Projekte über einen offenen, einstufigen Realisierungswettbewerb ausgelobt wurden.

Standard: Die BIG investiert jährlich 500 Millionen Euro in Neubauten und Sanierungen. Wie viel Prozent dieses Budgets marschieren über den Beiratstisch?

Gleissner: Seit 2007 haben wir zu 84 Großprojekten Planer gesucht, bei 68 davon haben wir das über den BAB gemacht.

Prochazka: Was ich generell kritisiere, ist, dass viele Projekte – nicht nur bei der BIG, sondern überhaupt – lediglich technisch saniert werden, wie es so schön heißt. Ich halte rein technische Sanierungen für zu kurz gegriffen. Was nützt es mir beispielsweise, wenn ich ein Schulgebäude technisch auf den neuesten Stand bringe, aber damit veraltete pädagogische Konzepte konserviere? Auch bei solchen Aufgaben darf man die kulturelle Gesamtverantwortung nicht außer Acht lassen.

Gleissner: Über 20 Prozent des Bauvolumens der BIG sind reine Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten, die in unseren 2200 Liegenschaften regelmäßig anfallen. Da sind viele Kleinstaufträge dabei. Dazu brauchen wir keinen Architekturbeirat.

Standard: Können Sie sich an ein konkretes Projekt erinnern, das durch den BAB maßgeblich beeinflusst wurde?

Gleissner: Da gab es viele. Spontan fällt mir das Schulzentrum Wien West ein, wo eine aufgelassene, denkmalgeschützte Kaserne ins Schulkonzept integriert wird. Da war der BAB sehr rigoros. Oder die Auslobung und Jurierung der Erweiterung der Johannes-Kepler-Universität in Linz. Ohne den BAB hätten sich diese zwei Projekte ganz anders entwickelt.

Prochazka: Ich bin nicht streng. Wir sind einfach sehr konsequent in unseren ausdiskutierten Grundhaltungen. Aber ich muss auch sagen, dass die BIG ein sehr guter Gesprächspartner ist, der auch vor Konflikten nicht zurückscheut.

Standard: Bei öffentlichen Bauprojekten passiert es immer wieder, dass Kosten und Zeitrahmen überschritten werden. Kann man diese Gefahr mit einem Architekturbeirat schmälern?

Gleissner: Nein. Ein Beirat ist dazu da, um in der Konzeptions- und Planungsphase eine hohe Architekturqualität zu sichern. Die Handschlag- und Ausführungsqualität auf der Baustelle ist ein anderes Kapitel.

Prochazka: Für mich ist der Beirat kein Konkurrenzkampf zwischen dem Berater und den Beratenen, sondern ein Gremium, in dem gemeinsam und auf Augenhöhe Probleme und Herausforderungen bestmöglich gelöst werden können. Ich denke, dass viele Planer und Architektinnen manchmal ein unscharfes Bild von Beiräten haben.

Standard: In Österreich gibt es gerade einmal 50 kommunale und einige weitere gewerbliche Architekturbeiräte. Warum nicht mehr?

Gleissner: Gute Frage. Ich kann nur so viel sagen: Der qualitative Gewinn aufgrund des Beirats ist klar sichtbar. Die Kosten sind gemessen daran ein verschwindend kleiner Teil.

Standard: Was können Sie den Kommunen und Unternehmen mit auf den Weg mitgeben?

Prochazka: Machen Sie! Tun Sie! Gerade kleinere Gemeinden, in denen der Bürgermeister die oberste Bauinstanz ist, verbunden mit Interessenkonflikten oder fachlicher Unsicherheit, können von einem unabhängigen Beirat – vielleicht im regionalen Zusammenschluss – nur profitieren.

10. Juni 2017 Der Standard

Tür an Tür mit Robinson

Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Eine Ausstellung im Vitra-Design-Museum schlägt konkrete Formen gemeinschaftlichen Wohnens vor und trifft damit nicht nur ins Schwarze, sondern auch ins Herz.

Es ist, als hätte man in einer Hotellobby Platz genommen. Das cognacfarbene Leder knarzt und knautscht, die Deckenlampen haben einen schillernden Messingglanz, und jeden Moment, so scheint es, kommt der Kellner mit Keksen und Café crème vorbei. „Nein, das nicht, aber luxuriös ist dieser Raum allemal“, sagt Res Keller. „Doch unser Luxus ist nichts Exklusives, sondern ganz im Gegenteil etwas sehr Inklusives. Hier laufen sich die Bewohnerinnen und Bewohner über den Weg, hier treten sie miteinander in Kontakt. Es gibt viele Menschen, die uns um diesen Raum beneiden.“

Die Lobby ist nicht der einzige Ort, der das Wohnprojekt Kalkbreite in Zürich-Wiedikon auszeichnet. Darüber hinaus gibt es ein kleines Restaurant, eine große Gemeinschaftsküche auf jeder Etage, diverse Werkstätten, mehrere verglaste Waschküchen, individuell anmietbare Bürozimmer sowie ein integriertes Hotel für den Tantenbesuch aus Luzern und St. Gallen. „Doch am häufigsten“, sagt Keller, einer der Projektinitiatoren und ehemaliger Geschäftsführer der Wohnbaugenossenschaft Kalkbreite, „passiert es, dass die Bewohner das Minihotel selbst nutzen, wenn sie mal mit dem Partner Zoff haben oder den pubertierenden Sohn für ein paar Monate ausquartieren wollen.“

Das Wohnhaus Kalkbreite, das vor drei Jahren fertiggestellt und bereits mit etlichen internationalen Auszeichnungen überhäuft wurde, ist eines von insgesamt 27 Projekten, die seit letztem Wochenende in der Ausstellung Together! Die neue Architektur der Gemeinschaft im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein zu sehen sind. Und es ist eine fröhliche, eine extrem lustvolle Ausstellung mit fast schon comic- und cartoonhaften Elementen, die es schafft, dem eigenen thematischen Anspruch gerecht und selbst schon zu einem Ort der Sozialisation zu werden.

„Das ist keine klassische Nabelschau“, sagt Andreas Ruby, Direktor des Schweizer Architekturmuseums und einer der vier Kuratoren der Ausstellung. „Wir wollten eine niederschwellige, ansprechende Ausstellung für interessierte Menschen machen. Bei uns kann man herumflanieren und sich inspirieren lassen, als würde man durch einen Ikea gehen. Mit dem Unterschied, dass es keine Möbel und Haushaltsgegenstände mitzunehmen gibt, sondern Ideen für ein alternatives, kollektives Wohnen.“ Selten hat Ausstellung so viel Freude bereitet wie hier.

Allein, die Idee des gemeinschaftlichen Wohnens – ob in Mitteleuropa, Fernost oder den USA – ist nicht neu. Sie ist ein immer wiederkehrendes Thema, das von Epoche zu Epoche mal mehr, mal weniger dem Diktat der Selbstverwirklichung zu trotzen trachtet. Schon Arthur Schopenhauer erkannte: „Der Mensch für sich allein vermag gar wenig und ist ein verlassener Robinson: Nur in der Gemeinschaft mit den andern ist und vermag er viel.“ Und so verwundert es nicht, dass die ersten Ideen eines kollektiven Miteinander-Wohnens bis ins früher 19. Jahrhundert zurückreichen.

Robert Owen entwarf 1825 eine Mustersiedlung für eine Gemeinschaft ohne Besitz und Eigentumsanspruch. Jean-Baptiste André Godin errichtete in Guise, Frankreich, die sogenannte Familistère, eine rechteckige Wohnhausanlage mit Laubengängen und riesigen Glaskuppeln über den Innenhöfen. Und Samuel und Henrietta Barnett boten in ihrer Toynbee Hall angehenden Akademikern die Möglichkeit, für begrenzte Zeit in einem Armenviertel Londons zu wohnen und sich für die Verbesserung der Wohnverhältnisse der lokalen Bevölkerung zu engagieren.

Hinzu kommen diverse Leuchtturmprojekte des 20. Jahrhunderts wie etwa der Freistaat Christiania in Kopenhagen, die Unité d’Habitation von Le Corbusier in Marseille oder das Edifício Copan von Oscar Niemeyer in São Paulo. Auch Wiener Projekte wie etwa der Karl-Marx-Hof, Harry Glücks Alt-Erlaa oder die kompromisslos orange Sargfabrik, die mit sämtlichen Tabus brach und das Modell Wohnheim ein für alle Mal gesellschaftlich verankerte, haben ihren Platz inmitten der vielen raumfüllenden Wohn- und Gebäudemodelle, in die man am liebsten hineinkriechen und sofort zu wohnen beginnen würde.

Milch und Eier vor der Tür

Das wohl außergewöhnlichste Projekt in dieser Riege ist das 1904 errichtete Wohnhaus The Ansonia am Broadway in New York. Das heute noch bestehende Haus, das vielen anderen Wohnmodellen als Vorbild diente, bestand aus allesamt küchenlosen Apartments. Dafür aber gab es auf jeder Etage große Gemeinschaftsküchen und Gemeinschaftssalons. Auf dem Dach des 15-stöckigen Palais gab es zudem eine Farm mit Enten, Ziegen, Kühen und mehr als 500 Hühnern. Jeden Morgen lieferte ein Hausmeister den Bewohnern Milch und Eier vor die Tür.

Es ist dieser transnationale und transtemporale Blick über das Hier und Jetzt hinaus, der Together! so spannend macht und von bisherigen Ausstellungen über gemeinschaftliches Wohnen unterscheidet. „Ich finde den internationalen Vergleich sehr erkenntnisreich“, so Kurator Ruby. „Denn tatsächlich variiert der Begriff des Gemeinschaftlichen von Land zu Land. In gewisser Weise ist jeder einzelne Ansatz ein wertvolles Lernmodell.“

In japanischen und südkoreanischen Großstädten sind es meist alleinstehende Erwachsene, die immer häufiger Wohngemeinschaften gründen, weil sie weder die hohen Wohnkosten noch die Einsamkeit ertragen. Ganz anders Berlin, wo in den letzten Jahren mehr als hundert Baugruppen entstanden sind, die gemeinsam Grundstücke kaufen und ganze Wohnhausanlagen nach ihren eigenen Plänen und Wohnvorstellungen errichten. Oder etwa Wien, wo die individuelle und partizipative Planung längst zu einem Standardtool im sozialen Wohnbau geworden ist.

„Am meisten jedoch beeindruckt mich die Schweiz“, sagt Ruby. „In einem Land mit einer 100 Jahre alten Wohnbaugenossenschaftskultur ist es gelungen, die eigene Tradition und die eigenen Werte innerhalb von ein, zwei Jahrzehnten völlig neu zu programmieren.“ Das hat nicht zuletzt mit den 68er-Kommunen und der Hausbesetzerbewegung der Achtzigerjahre zu tun. In den meisten Fällen sind es genau diese protestierenden Protagonisten, damals schon für eine leistbarere und lebenswertere Stadt kämpfend, die nun selbst Wohnbaugenossenschaften anführen und damit alternative, innovative Wohnprojekte entwickeln und realisieren. „Und das Schöne“, so Ruby, „ist, dass die Kraft dieser Wohnideen nicht nur auf die Wohnhausanlage beschränkt ist, sondern längst schon in den öffentlichen Straßenraum ausstrahlt. Es tut was mit der Stadt, wenn plötzlich Trauben von Menschen vor dem Haus sitzen und gemeinsam eine Grillparty schmeißen.“ Oder wenn sich, wie im Falle des Wohnhauses Kalkbreite, einige Bewohner zusammentun und einen Koch als Vollzeitkraft einstellen. Dieser schwingt wochentags den Löffel und bereitet Mittags- und Abendmenüs für seine Arbeitgeber zu.

Die Idee Together! ist ein wertvoller Impuls für eine alternde Gesellschaft mit immer mehr Singles und immer mehr Robinsons. Wo die Politik versagt, greift das Kollektiv ein. Das macht Hoffnung.

3. Juni 2017 Der Standard

„Die Spezies Architekt wird aussterben“

Der italienische Architekt und MIT-Forscher Carlo Ratti plädiert für einen offeneren Umgang mit Wissen und Wahrheit. Sein Ziel ist eine kollektiv gelebte Kultur des Teilens. Ein Appell für Open Source Architecture.

Standard: Haben Sie jemals eine Idee geklaut oder gegen das Urheberrecht verstoßen?

Ratti: Das ist eine große Frage für einen Gesprächsbeginn! Intuitiv würde ich sagen: nein. Aber tatsächlich wird es wohl ein Ja sein. Sämtliche Ideen in unserem Büro und auch am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickeln wir im Team. Da kann man nie genau sagen, welche Idee von wem stammt. Ich fürchte, da werden einige Urheberrechtsverletzungen darunter sein.

Standard: Und wie stehen Sie zum Hacken?

Ratti: Hacking ist eine der Kernkompetenzen der MIT-Kultur. Wir alle hacken, und zwar nach Möglichkeit alles. Das ist unser Job. Durch Hacken werden Fehler aufgedeckt und neue Ideen und Mutationen geboren. Hacken und Kreativität sind untrennbar miteinander verbunden. Das ist Evolution!

Standard: Sie machen sich für Crowd Creativity und für eine Öffnung und Lockerung des Copyrights stark. Warum eigentlich?

Ratti: Crowd Creativity hat es immer schon gegeben. Bloß gab es dafür andere Bezeichnungen. In der italienischen Kunstgeschichte sind manche Werke nicht eindeutig einem Meister zuzuordnen. Raffael beispielsweise hatte in seiner Werkstatt so viele Schüler, dass bei einigen Madonnen und Papstbildnissen gar nicht klar ist, was tatsächlich von ihm stammt und was nicht. Und doch sprechen wir immer von Raffael. Eigentlich müssten wir Raffael-Crowd dazu sagen. Das ist Open-Source-Kunst!

Standard: In Ihrem Buch „Open Source Architecture“ schlagen Sie vor, die Architektur und Stadtplanung zu öffnen und ebenfalls in Form von Open Source jedem zugänglich zu machen. Wie genau kann man sich das vorstellen?

Ratti: Ich vergleiche die Idee der Open Source Architecture gerne mit dem Softwareprogramm Linux oder dem Online-Lexikon Wikipedia. Es geht darum, kostenlos und ohne Hürden Wissen zu teilen. Dadurch soll Architektur einer großen Zahl an Menschen zur Verfügung gestellt werden. Auf Wikipedia sind es die User selbst, die Content produzieren.

Standard: Werden wir dann alle zu Architekten?

Ratti: Das ist einer der heikelsten Punkte. Natürlich braucht es hier nicht nur die Wahrheit und Korrektheit von Daten wie im Fall von Wikipedia, sondern auch technisches Know-how und planerische Kompetenz. Ich denke, diese Daten können aus ganz unterschiedlichen Disziplinen kommen – von Architektinnen, Stadtplanerinnen, Soziologen, Ingenieuren und Ökonomen. Aber natürlich braucht es ein gewisses Mindestmaß an Wissen. Die richtige Dosierung zu finden ist eine der großen Herausforderungen für die Zukunft.

Standard: Wo passiert das heute schon?

Ratti: Die bekannteste und medial am häufigsten diskutierte Plattform ist mit Sicherheit WikiHouse. Außerdem gibt es Goteo, Brickstarter, Estate Guru, Open Architecture Network und viele andere. All diese Plattformen bemühen sich um eine Multiplizierung von Wissen und Wahrheit. Es tut sich schon sehr viel, aber noch ist das Thema tabuisiert und zu wenig verbreitet.

Standard: Welche Einsatzgebiete können Sie sich für Open Source Architecture vorstellen?

Ratti: Aus heutiger Sicht sehe ich einen sinnvollen Einsatz im Bereich von Notquartieren, die im Zuge natürlicher und politischer Krisen und Katastrophen benötigt werden. Sehr sinnvoll erachte ich Open Source Architecture im Bereich Entwicklungshilfe. Für die indisch-amerikanische Prajnopaya Foundation haben wir vor einigen Jahren das sogenannte „Tsunami Safe(r) House“ entwickelt. Die Pläne und das technische Know-how werden kostenlos zur Verfügung gestellt. Allein in Sri Lanka wurden auf dieser Basis mehr als 1000 tsunamisichere Häuser errichtet.

Standard: Und was bringt Open Source Architecture außerhalb dieses Katastrophenkontextes?

Ratti: Seit der Industrialisierung und seit der Moderne steigen die Produktionszahlen und der da-mit verbundene wirtschaftliche Druck rasant an – ob das nun im Design, in der Industrie oder in der Baubranche ist. Es wird permanent produziert, und wir haben überhaupt keine Möglichkeit mehr, das Produzierte auf seine Richtigkeit und auf seine Angemessenheit zu überprüfen. Die Öffnung des Wissens wäre für mich ein Mittel zur Reflexion, eine Art Gradmesser, mit dem wir überprüfen könnten, ob wir auf dem richtigen Weg sind.

Standard: Das müssen Sie bitte erklären!

Ratti: Schauen Sie sich nur einmal die Kommentare auf Trip Advisor und die Kundenbewertungen in den vielen Suchmaschinen an, die wir heute im Internet vorfinden! Es ist die Crowd, die beurteilt, ob ein Produkt attraktiv und wettbewerbsfähig ist oder nicht. Diese Qualität, diese interdisziplinäre Kundenkompetenz ist auch auf die Architektur und Stadtplanung übertragbar.

Standard: Und das wird zwangsweise zu besseren Häusern und zu schöneren Städten führen?

Ratti: Ja, davon bin ich überzeugt. Evolution erzeugt Vielfalt und Qualität – und zwar unabhängig davon, ob wir nun von natürlicher oder von künstlicher Selektion sprechen. Diese Evolution würde die gebaute Umwelt massiv bereichern.

Standard: Indem dann jeder sein eigenes Einfamilienhaus in die Landschaft druckt?

Ratti: Gehen Sie davon aus, dass die neuen Technologien in der Baubranche wie etwa Building Information Modeling (BIM), Customized Production und 3D-Druck erst der Anfang sind! Die Entwicklung wird uns noch viele Überraschungsmomente bescheren.

Standard: Laufen wir mit dieser Banalisierung und Egalisierung von Schaffenskraft nicht Gefahr, dass früher oder später die ganze Welt gleich ausschaut?

Ratti: Aber nein! Ganz im Gegenteil. Befragen wir doch einmal Mutter Natur: Wie viele Spezies gab es vor 3,5 Milliarden Jahren? Und wie viele gibt es heute auf der Welt? Na also! Indem wir das Wissen öffnen und die Konsumenten zur Selektion bevollmächtigen, steigern wir die Vielfalt unserer gebauten Umwelt. Es geht ja nicht ums Klonen von einigen wenigen, unveränderlichen – weil urheberrechtlich geschützten – Prototypen, wie uns das die Moderne aufoktroyieren wollte, sondern um Mutation, also um das kontinuierliche, emanzipierte Weiterentwickeln.

Standard: Und was passiert dann mit der Spezies Architekt? Die wird aussterben?

Ratti: Das wird sie sowieso.

Standard: Weil?

Ratti: Gerade mal zwei Prozent des globalen Bauvolumens werden von Architekten geplant. Das ist fast nichts. Es gibt zwar einige wenige Stararchitekten, die Ruhm und Ehre genießen, aber deren Einfluss auf das Bauen ist verschwindend gering. Im Übrigen können wir davon ausgehen, dass durch Robotik und künstliche Intelligenz ein Großteil der heute bestehenden Jobs ohnehin aussterben wird – oder zumindest neu definiert werden wird müssen. Je früher und je aktiver wir das anpacken, desto besser.

Standard: Ihr Buchmanifest „Open Source Architecture“ hat weltweit Beachtung gefunden. Was sind die nächsten Schritte?

Ratti: Ausprobieren und Experimentieren. Die Studierenden und Theoretiker sind von der Abschaffung des Copyrights und der Öffnung im Sinne von Creative Commons sehr angetan. Sie sehen darin einen inspirierenden Handlungsspielraum für die Zukunft. Gleichzeitig jedoch werde ich von Architekten und Professionellen angefeindet, weil sie darin eine Gefährdung ihrer Disziplin sehen. Der nächste Schritt wird sein, zwischen dieser Angst und Euphorie die Wahrheit zu finden.

Standard: Wie lange geben Sie sich dafür Zeit?

Ratti: Bis zur Selbstverständlichkeit von Linux und Wikipedia ist es noch ein weiter Weg.

13. Mai 2017 Der Standard

Die Zukunftsmacherin

Der Film „Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ porträtiert sechs Personen, die beschlossen haben, den Lauf der Dinge selbst zu gestalten. Eine davon ist die Salzburger Lehmbauarchitektin Anna Heringer.

In der 51. Minute springt plötzlich das Rüttelgerät an. Ohrenbetäubender Lärm macht sich im Kinosaal breit. Anna Heringer, eine schlanke Gestalt mit Salzburger Dialekt, Muckis an den Oberarmen, Arbeitsschuhen, zerrissenen Jeans und um die Hüfte geknotetem Pulli, stopft den patzigen, noch feuchten Lehm in die Schalung. Erst wird die Stampflehmwand mit der Maschine verdichtet, später dann noch einmal manuell mit Rüttelstangen nachgestochen.

„Wenn wir so weitertun, wie wir tun, dann sind die Ressourcen bald einmal zu Ende“, sagt Heringer vor der Kamera. „China zum Beispiel hat in den letzten drei Jahren so viel Zement und Beton verbraucht wie die USA im ganzen 20. Jahrhundert. Das sind Dimensionen, die man sich nur schwer vorstellen kann.“ Mit den Sand- und Schottermafias, wie sie beispielsweise in China, Indien und den Vereinigten Arabischen Emiraten tätig sind, hat sich zuletzt sogar ein eigener Berufszweig etabliert, der unentwegt auf der Suche nach chemisch passenden Zuschlagstoffen für die Betonindustrie ist. Und diese werden immer rarer. Damit, so Heringer, müsse man sich dringend befassen.

Die 40-jährige Architektin ist eine von insgesamt sechs Personen, die im soeben angelaufenen Dokumentarfilm Die Zukunft ist besser als ihr Ruf in all ihrem Tun und Machen porträtiert werden. Gezeigt werden Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit, für partizipative Demokratie, für innovative wirtschaftliche Denkmodelle sowie für nachhaltige Lösungen in der Gastronomie und Lebensmittelversorgung engagieren. Der größte gemeinsame Nenner der Protagonisten ist der Glaube und die Überzeugung, den Lauf der Dinge selbst mitgestalten zu können. Die Salzburger Spezialistin für Lehmbau und lokale Rohstoffe ist damit in bester Gesellschaft.

Prominent ignoriert

Ein paar Wasserbüffel, vier Bohrmaschinen, Bambus aus den umliegenden Hainen und der buchstäbliche Dreck unter den Füßen – mit diesen Ressourcen hat Anna Heringer vor 13 Jahren ihr allererstes Projekt realisiert. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Eike Roswag und einem Dutzend Handwerker aus dem Dorf hat sie in Rudrapur, Bangladesch, eine 500 Quadratmeter große Schule aus Lehm hochgezogen. Das Projekt wurde unter anderem mit dem Aga Khan Award, einem der renommiertesten und höchstdotierten Architekturpreise der Welt, ausgezeichnet.

„Fast drei Milliarden Menschen auf der Welt leben in Lehmbauten“, sagt Heringer im Gespräch mit dem Standard. „Hauptsächlich sind dies Menschen in Entwicklungsländern beziehungsweise Menschen aus unteren sozialen Schichten. Aus diesem Grund ist dieser – älteste – Baustoff der Welt leider stark stigmatisiert. Er wird prominent ignoriert. Und das ist in sozialer, ökologischer und auch wirtschaftlicher Hinsicht ziemlich tragisch.“

Im Gegensatz zu Lehm nämlich, sagt Heringer, die an der Kunstuniversität studiert hat und mittlerweile als Unesco-Honorarprofessorin für Lehmbau, Konstruktionskultur und nachhaltige Entwicklung tätig ist, seien die imagemäßig höher situierten und somit häufig angestrebten Baustoffe Ziegel und Beton in der Produktion deutlich energie-, rohstoff- und CO2-intensiver. Doch dieses Argument wird von der globalen Baustoffindustrie und ihren potenten Lobbys massiv überschattet. Die in Bollywood produzierte Traumwelt der Reichen und Schönen tut ihr Übriges.

54. Minute. Anna Heringer wandert über die Baustelle. Greift mit der Hand in die Erde hinein. Zerreibt das Material zu kleinen klebrigen Brocken. „Der eigene Hausbau ist für jede Familie die größte Investition in ihrem Leben. Und das ist ein Potenzial. Das Budget kann man so anwenden, dass irgendwelche Großfirmen davon profitieren, oder man kann es so anwenden, dass möglichst viele Menschen im eigenen Umfeld profitieren. Wenn man das im Kopf behält, dann ist es möglich, mit Architektur viel Veränderung zu bewirken.“

So wie zum Beispiel in Baoxi, Ostchina, rund 400 Kilometer südwestlich von Schanghai. Erst kürzlich stellte Heringer dort im Rahmen der Longquan International Biennale eine Jugendherberge aus Lehm und Bambus fertig. Die drei Bambushäuser, die wie überdimensionale Reiskörbe in der Landschaft stehen, sind nicht nur eine Anknüpfung an die Bautradition der Region, sondern auch ein Beitrag zur lokalen Wertschöpfung. Im Inneren der bis zu 18 Meter hohen Bambushüllen verbergen sich mehrgeschossige zylindrische Lehmtürme. Über eine Wendeltreppe gelangt man direkt zu den Schlafkojen, die wie stoffverkleidete Waben an der Lehmfassade hängen.

„Es gibt in China eine sehr reichhaltige Tradition für Lehm- und Bambusbau“, so Heringer. „Die Longquan International Biennale soll dazu beitragen, diese Kultur zu erhalten und in die Zukunft weiterzutragen. Und ich denke, das macht sie mit Erfolg. Mittlerweile kommen viele Schüler, Studierende und Architekten nach Baoxi, um die Bauten zu besichtigen und zu studieren.“ Und auch, um in einer der hängenden Schlafkojen, die sich im Land längst herumgesprochen haben, zu übernachten.

Langfristig, so der Plan der Architektin und der Biennale-Initiatoren, soll in Baoxi die Lehmbau- und Korbflechtkunst zelebriert werden. Und zwar auf eine Art und Weise, die sicherstellt, dass die damit eingenommenen Gelder in der Region bleiben. 57. Minute: „Man kann etwas Schönes bauen und damit gleichzeitig die lokale Wirtschaft ankurbeln und das Image von lokalen Baumaterialien verbessern. Das macht Mut und stärkt das Selbstvertrauen. Das ist Wertschöpfung in ihrer menschlichsten Form.“

Anna Heringer sitzt in ihrem Studio im Salzburger Oberndorf, direkt an der österreichisch-bayrischen Grenze, drei Gehminuten von der Salzach entfernt. Sie nimmt ein Tonmodell zur Hand, drückt mit dem Finger in die Oberfläche hinein. „Ich will kompostierbare Architektur schaffen“, sagt sie mit strahlenden Augen. „Wenn ein Gebäude nicht mehr gebraucht wird, kann es wieder in die Erde zurück. Von der Idee, dass meine Häuser bis in die Ewigkeit stehen, habe ich mich schon lange verabschiedet. So wichtig sind wir nicht.“

„Die Zukunft ist besser als ihr Ruf“ von Teresa Distelberger, Niko Mayr, Gabi Schweiger und Nicole Scherg ist derzeit im Kino zu sehen. Am Dienstag, den 16. Mai, um 19.30 wird der Film im Wiener Gartenbaukino gezeigt. Mit Livemusik von Federspiel.

Publikationen

2024

Wien Museum Neu

Der Band ist eine visuelle und essayistische Reflexion über ein bedeutendes Kultur-Bauprojekt an einem der zentralen Orte Wiens in unmittelbarer Nachbarschaft zu Karlskirche, Künstlerhaus und Musikverein.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Müry Salzmann Verlag

2022

mittendrin und rundherum
Reden, Planen, Bauen auf dem Land und in der Stadt Ein nonconform Lesebuch

Seit über 20 Jahren ist nonconform in Deutschland und Österreich in der räumlichen Transformation tätig. Architektur ist für das interdisziplinäre Kollektiv nie bloß ein fertiges, fotogenes Resultat, sondern immer auch ein lustvoller, horizonterweiternder Prozess, in den die Bürger:innen einer Gemeinde,
Hrsg: Wojciech Czaja, Barbara Feller
Verlag: JOVIS

2022

Brick 22
Ausgezeichnete internationale Ziegelarchitektur

Vom handgemachten Ziegelstein zum hoch entwickelten modernen Produkt: Das Bauen mit gebrannten Tonblöcken schöpft heute aus einem Erbe von neun Jahrtausenden Baugeschichte und dank ihrer vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, ihrer konstruktiven Qualitäten und ihrer Nachhaltigkeit sind Ziegel bis heute
Hrsg: Wienerberger AG
Autor: Wojciech Czaja, Anneke Bokern, Christian Holl, Matevž Celik, Anna Cymer, Isabella Leber, Henrietta Palmer, Anders Krug
Verlag: JOVIS

2021

Frauen Bauen Stadt

Wie weiblich ist die Stadt von morgen? Im Jahr 2030 werden weltweit 2,5 Milliarden Frauen in Städten leben und arbeiten. Traditionell war die Arbeit am Lebenskonzept Polis in ihrer Beauftragung, Planung und Ausführung jedoch männlich dominiert. Frauen Bauen Stadt porträtiert 18 Städtebauerinnen aus
Hrsg: Wojciech Czaja, Katja Schechtner
Verlag: Birkhäuser Verlag

2020

Almost
100 Städte in Wien

Was macht ein Reisender, wenn er nicht reisen kann? Er reist trotzdem. Wojciech Czaja setzte sich im Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 aus Frust auf die Vespa und begann, seine Heimatstadt Wien zu erkunden. Er fuhr in versteckte Gassen, unbekannte Grätzel und fernab liegende Adressen am Rande der Stadt
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2018

Hektopolis
Ein Reiseführer in hundert Städte

Jede Stadt ist anders. Jede Stadt hat ihren eigenen Charakter, aber auch ihre ganz eigenen Geschichten. Der vielreisende Stadtliebhaber Wojciech Czaja widmet sich in seinem Buch Hektopolis genau diesen ortsspezifischen, feinstofflichen Beobachtungen, Erlebnissen und Anekdoten. Porträtiert werden hundert
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Edition Korrespondenzen

2017

Motion Mobility
Die neue ÖAMTC-Zentrale in Wien

In einem von der Grundstückssuche bis zur Fertigstellung interdisziplinären Prozess planten Pichler & Traupmann Architekten, FCP Fritsch, Chiari & Partner als Ingenieure und das Beratungsunternehmen M.O.O.CON in Zusammenarbeit mit der Agentur Nofrontiere Design und SIDE Studio für Information Design
Autor: Wojciech Czaja, Matthias Boeckl
Verlag: Park Books

2012

Wohnen in Wien
20 residential buildings by Albert Wimmer

Wie wohnen die Wienerinnen und Wiener? Inwiefern decken sich architektonisches Konzept und gelebter Alltag? Der Architekturjournalist Wojciech Czaja und die Fotografin Lisi Specht werfen gemeinsam einen Blick hinter die Fassaden des geförderten Wiener Wohnbaus und bitten die Mieter und Eigentümerinnen
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: SpringerWienNewYork

2012

Zum Beispiel Wohnen
80 ungewöhnliche Hausbesuche

Wohnen ist eine zutiefst persönliche Sache. Kein Raum in unserem Leben steht uns so nahe wie unsere eigene Wohnung, wie unser eigenes Haus. Die beiden Autoren Wojciech Czaja und Michael Hausenblas reisen quer durch Österreich und sind zu Besuch bei Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wirtschaft. Die
Autor: Wojciech Czaja, Michael Hausenblas
Verlag: Verlag Anton Pustet

2007

91° More than Architecture

Architektinnen und Architekten sind Arbeitstiere. Viele von ihnen arbeiten zehn Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 50 Wochen im Jahr. Die wenige Zeit, die zwischen den dichten Arbeitsstunden noch übrig bleibt, ist wie ein Heiligtum und muss als solches respektiert werden. In diesem Sinne ist 91°
Hrsg: Wojciech Czaja, Eternit Österreich, Dansk Eternit Holding
Verlag: Birkhäuser Verlag

2007

Periscope Architecture
gerner°gerner plus

Vor zehn Jahren haben Andreas und Gerda Gerner mit einem Einfamilienhaus begonnen: „Für ein erstes Projekt ist das Haus Hinterberger sehr unkonventionell. Wir haben uns permanent gefragt: Trauen wir uns das? Seitdem hat man sich oft aus dem Fenster gelehnt“ Entstanden ist das schwebende Haus Südsee in
Hrsg: GERNER GERNER PLUS.
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Verlag Holzhausen GmbH

2005

Wir spielen Architektur
Verständnis und Missverständnis von Kinderfreundlichkeit

Was ist eigentlich ein Kind? Der Jurist wird uns darauf eine andere Antwort geben als der Soziologe, der Pädagoge eine andere als der Philosoph. Und der Architekt? Wird er schweigen und weiterbauen?
Autor: Wojciech Czaja
Verlag: Sonderzahl Verlag