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Pariser Untergrund: Die Geheimnisse der aufgelassenen Métrostationen
Die 125 Jahre alte Pariser Métro birgt so manches Geheimnis: Oft liegen nur wenige Meter unter den lebendigen Boulevards oder neben überfüllten Bahnsteigen Orte, die über Jahrzehnte kaum betreten wurden.
19. Juli 2024 - Harald A. Jahn
Paris arbeitet sich tief in den Boden: Neue Métro- und Schnellbahnlinien wurden rechtzeitig für die Olympischen Spiele 2024 fertig, mit dem gigantischen Projekt Grand Paris Express entstehen in den nächsten Jahren 200 Kilometer neuer Métrostrecken durch die Vororte – sie sollen den Ballungsraum mit seinen fast 12,5 Mio. Einwohnern dezentral vernetzen. Viele neue Forschungs- und Wirtschaftscluster liegen außerhalb der Kernstadt, ebenso die Villes Nouvelles, die Schlafstädte der 1970er-Jahre. Mit jeder neu eröffneten Strecke werden die transportierten Menschenmassen größer, um die Stationen des Grand Paris Express sollen die Vorstädte nachverdichtet werden. Seit der Vereinfachung und Entbürokratisierung der Bauordung ist der Wohnbau dort bereits angesprungen, Zehntausende neue Wohnungen jährlich entlasten den angespannten Wohnungsmarkt im Großraum.
Zurück zur bald 125 Jahre alten Métro: In der Station Haxo ist es völlig still, kein Zug bewegt sich, kein Fahrgast steht auf dem trüb beleuchteten Bahnsteig. Die Haltestelle sucht man auf dem Netzplan vergebens, sie gehört zu den seltsamen Kuriositäten der Pariser U-Bahn. Ebenso wie Porte Molitor wurde sie zwar unterirdisch fertiggestellt, wegen Planungsänderungen liegt sie wie ihr Pendant aber an einer nicht befahrenen Strecke. Erreichbar sind beide nur mit den Sonderzügen, die in diesen Tunneln abgestellt werden. Ein dunkles Erdloch gähnt an der Stelle, an der sonst die Treppe ins Sperrengeschoß führt; die Aufgänge zur Straße wurden nie gebaut, trotzdem ist die Haltestelle wie üblich weiß verfliest.
Minütlich durch das Adernsystem der Stadt
Ebenso dauerhaft verborgen liegen viele alte Verbindungsgleise, heute Ziel der Urban Explorer und Graffitisprayer; eine obsolet gewordene Gleisschleife unter dem Parc Monceau war lang ein besonderer Anziehungspunkt – hier stellte der Verein Ademas, der sich um den Erhalt historischer Métrowagen kümmert, seine Schätze ab.
Auch der Tunnel ist eine Zeitkapsel: Man passiert eine Gasschleuse aus der Kriegszeit, die Schleife wurde damals zu einem Luftschutzbunker umgebaut, später als Schulungszentrum genützt. Eine staubige Leiter führt zu einem großen Gewölbe oberhalb des Tunnels, Standort eines unterirdischen Umspannwerks, heute sind die Trafos entfernt, die Wände schwarz von Staub. Ein Ventilator brummt im Hintergrund, ein Kranhaken hängt an uraltem Räderwerk – ein Bild wie aus einem dystopischen Film, nur in der Ferne ist das Grollen der Züge zu hören, die im Minutentakt durch das Adernsystem der Stadt pulsieren.
Die erste Linie wurde 1900 zur Weltausstellung eröffnet; die floral gestalteten Eingänge von Hector Guimard wurden zum Symbol der Stadt, obwohl es nun nur noch 88 davon gibt. Von den eingehausten Abgängen, deren ausladendes Glasdach an eine Libelle erinnert, ist nur ein einziger verblieben. Er ist ein passender Startpunkt zu einer Reise in die Welt unter der Lichterstadt und führt in die Endstation der Linie 2, Porte Dauphine. Für den aufmerksamen Passagier beginnt hier eine Fahrt mit kurzen Einblicken in die unzugänglichen Strukturen: Bei der Haltestelle Victor Hugo durchfährt der Zug eine aufgelassene Station, deren verlassene Bahnsteige ohne Aufschriften seit vielen Jahrzehnten keinen Passagier mehr begrüßt haben, bevor er sich durch das Tunnellabyrinth unter dem Place de l’Étoile schlängelt.
Getreues Abbild der Straßen
Es gibt eine ganze Handvoll solcher Haltestellen, die an befahrenen Strecken liegen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Betrieb genommen wurden, da die Frequenz zu gering war. Manche werden heute als Lager genützt; die größte derartige Station, Saint-Martin an den Linien 8 und 9, hat zeitweise betreute Schlafplätze für Clochards beherbergt.
Zur Bauzeit hatten die Ingenieure mit einem viel älteren Tunnelsystem zu kämpfen, das unter der Métro liegt: Das uralte Netz der unterirdischen Steinbrüche ist teilweise ein getreues Abbild der Straßen darüber, Schilder aus Stein oder blauem Email bezeichnen die Adressen über dem Boden. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Baumaterial für die Häuser der Stadt tief unter ihren Kellern beschafft, oft ohne sich um die Statik zu kümmern – bis der Abbau ab den 1780er-Jahren eingestellt wurde: Die Häuser über den Steinbrüchen neigten dazu, an ihren Ursprungsort zurückzukehren, ganze Straßenzüge stürzten ein oder versanken im Boden.
Ein kleiner Teil des Hunderte Kilometer langen Gangsystems kann heute besucht werden: Eine Steintafel mit den Worten „Halt! Hier beginnt das Reich des Todes“ begrüßt Touristen am Eingang zu den Katakomben, sie sind seit dem 18. Jahrhundert die berühmteste Nachnutzung der Stollen. Daneben arbeiteten Gewerbebetriebe wie Brauereien oder Champignonzüchter in den Bergwerken. Im Zweiten Weltkrieg bauten nicht nur die Vichy-Regierung und die Résistance hier geheime Unterstände, auch die deutschen Besatzer richteten sich in Räumen ein, die um 1215 in der Gegend des Jardin de Luxembourg in den Stein getrieben worden waren. Heute streunen illegale „Kataphiles“ durch die Dunkelheit, erforschen vergessene Seitenschächte oder feiern Partys und liefern damit den Behörden – den „Kataflics“, der Bergbaupolizei – ein Katz-und-Maus-Spiel.
Bei Bauvorhaben oder Hauskäufen muss mit einem speziellen Atlas die Stabilität des Bodens nachgewiesen werden; die Ingenieure der Métro, die an etlichen Stellen das Steinbruchsystem durchfährt, musste die Station Danube praktisch als unterirdische Brücke in einer riesigen Kaverne anlegen – als Fahrgast sieht man in der Station nichts davon.
Zirpen von Grillen im Untergrund
Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Métro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“. Heute ist der Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko passender: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel.“ In den jüngsten Jahrzehnten wurde die Métro laufend modernisiert, trotzdem hat sie manche ihrer Eigenheiten behalten: die weiß verfliesten labyrinthischen Gänge, die oft im Einbahnsystem geführt werden, oder den holzig-öligen Geruch auf einigen Strecken.
Eine akustische Kuriosität ist aber verschwunden: Lang hörte man in den ruhigeren Abendstunden das Zirpen von Grillen, die im Gleisschotter lebten. Sie verschwanden mit dem Rauchverbot, ihre Nahrungsquelle war der Tabak der Zigarettenstummel. Die Designer der RATP (Régie autonome des transports Parisiens) haben ihnen ein Denkmal gesetzt: An Bahnsteigen mit größerem Abstand zum Wagen hört man keine Entsprechung zum Londoner „Mind the gap“ – aus den Lautsprechern unter der Bahnsteigkante tönt subtiles Grillenzirpen.
Zurück zur bald 125 Jahre alten Métro: In der Station Haxo ist es völlig still, kein Zug bewegt sich, kein Fahrgast steht auf dem trüb beleuchteten Bahnsteig. Die Haltestelle sucht man auf dem Netzplan vergebens, sie gehört zu den seltsamen Kuriositäten der Pariser U-Bahn. Ebenso wie Porte Molitor wurde sie zwar unterirdisch fertiggestellt, wegen Planungsänderungen liegt sie wie ihr Pendant aber an einer nicht befahrenen Strecke. Erreichbar sind beide nur mit den Sonderzügen, die in diesen Tunneln abgestellt werden. Ein dunkles Erdloch gähnt an der Stelle, an der sonst die Treppe ins Sperrengeschoß führt; die Aufgänge zur Straße wurden nie gebaut, trotzdem ist die Haltestelle wie üblich weiß verfliest.
Minütlich durch das Adernsystem der Stadt
Ebenso dauerhaft verborgen liegen viele alte Verbindungsgleise, heute Ziel der Urban Explorer und Graffitisprayer; eine obsolet gewordene Gleisschleife unter dem Parc Monceau war lang ein besonderer Anziehungspunkt – hier stellte der Verein Ademas, der sich um den Erhalt historischer Métrowagen kümmert, seine Schätze ab.
Auch der Tunnel ist eine Zeitkapsel: Man passiert eine Gasschleuse aus der Kriegszeit, die Schleife wurde damals zu einem Luftschutzbunker umgebaut, später als Schulungszentrum genützt. Eine staubige Leiter führt zu einem großen Gewölbe oberhalb des Tunnels, Standort eines unterirdischen Umspannwerks, heute sind die Trafos entfernt, die Wände schwarz von Staub. Ein Ventilator brummt im Hintergrund, ein Kranhaken hängt an uraltem Räderwerk – ein Bild wie aus einem dystopischen Film, nur in der Ferne ist das Grollen der Züge zu hören, die im Minutentakt durch das Adernsystem der Stadt pulsieren.
Die erste Linie wurde 1900 zur Weltausstellung eröffnet; die floral gestalteten Eingänge von Hector Guimard wurden zum Symbol der Stadt, obwohl es nun nur noch 88 davon gibt. Von den eingehausten Abgängen, deren ausladendes Glasdach an eine Libelle erinnert, ist nur ein einziger verblieben. Er ist ein passender Startpunkt zu einer Reise in die Welt unter der Lichterstadt und führt in die Endstation der Linie 2, Porte Dauphine. Für den aufmerksamen Passagier beginnt hier eine Fahrt mit kurzen Einblicken in die unzugänglichen Strukturen: Bei der Haltestelle Victor Hugo durchfährt der Zug eine aufgelassene Station, deren verlassene Bahnsteige ohne Aufschriften seit vielen Jahrzehnten keinen Passagier mehr begrüßt haben, bevor er sich durch das Tunnellabyrinth unter dem Place de l’Étoile schlängelt.
Getreues Abbild der Straßen
Es gibt eine ganze Handvoll solcher Haltestellen, die an befahrenen Strecken liegen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Betrieb genommen wurden, da die Frequenz zu gering war. Manche werden heute als Lager genützt; die größte derartige Station, Saint-Martin an den Linien 8 und 9, hat zeitweise betreute Schlafplätze für Clochards beherbergt.
Zur Bauzeit hatten die Ingenieure mit einem viel älteren Tunnelsystem zu kämpfen, das unter der Métro liegt: Das uralte Netz der unterirdischen Steinbrüche ist teilweise ein getreues Abbild der Straßen darüber, Schilder aus Stein oder blauem Email bezeichnen die Adressen über dem Boden. Seit dem zwölften Jahrhundert wurde das Baumaterial für die Häuser der Stadt tief unter ihren Kellern beschafft, oft ohne sich um die Statik zu kümmern – bis der Abbau ab den 1780er-Jahren eingestellt wurde: Die Häuser über den Steinbrüchen neigten dazu, an ihren Ursprungsort zurückzukehren, ganze Straßenzüge stürzten ein oder versanken im Boden.
Ein kleiner Teil des Hunderte Kilometer langen Gangsystems kann heute besucht werden: Eine Steintafel mit den Worten „Halt! Hier beginnt das Reich des Todes“ begrüßt Touristen am Eingang zu den Katakomben, sie sind seit dem 18. Jahrhundert die berühmteste Nachnutzung der Stollen. Daneben arbeiteten Gewerbebetriebe wie Brauereien oder Champignonzüchter in den Bergwerken. Im Zweiten Weltkrieg bauten nicht nur die Vichy-Regierung und die Résistance hier geheime Unterstände, auch die deutschen Besatzer richteten sich in Räumen ein, die um 1215 in der Gegend des Jardin de Luxembourg in den Stein getrieben worden waren. Heute streunen illegale „Kataphiles“ durch die Dunkelheit, erforschen vergessene Seitenschächte oder feiern Partys und liefern damit den Behörden – den „Kataflics“, der Bergbaupolizei – ein Katz-und-Maus-Spiel.
Bei Bauvorhaben oder Hauskäufen muss mit einem speziellen Atlas die Stabilität des Bodens nachgewiesen werden; die Ingenieure der Métro, die an etlichen Stellen das Steinbruchsystem durchfährt, musste die Station Danube praktisch als unterirdische Brücke in einer riesigen Kaverne anlegen – als Fahrgast sieht man in der Station nichts davon.
Zirpen von Grillen im Untergrund
Für den futuristischen Maler Gino Severini war die Métro „ein illuminierter Körper, der durch einen abwechselnd dunklen und erleuchteten Tunnel fließt“. Heute ist der Satz des russischen Fotografen Alexander Rodtschenko passender: „Die Zukunft ist unser einziges Ziel.“ In den jüngsten Jahrzehnten wurde die Métro laufend modernisiert, trotzdem hat sie manche ihrer Eigenheiten behalten: die weiß verfliesten labyrinthischen Gänge, die oft im Einbahnsystem geführt werden, oder den holzig-öligen Geruch auf einigen Strecken.
Eine akustische Kuriosität ist aber verschwunden: Lang hörte man in den ruhigeren Abendstunden das Zirpen von Grillen, die im Gleisschotter lebten. Sie verschwanden mit dem Rauchverbot, ihre Nahrungsquelle war der Tabak der Zigarettenstummel. Die Designer der RATP (Régie autonome des transports Parisiens) haben ihnen ein Denkmal gesetzt: An Bahnsteigen mit größerem Abstand zum Wagen hört man keine Entsprechung zum Londoner „Mind the gap“ – aus den Lautsprechern unter der Bahnsteigkante tönt subtiles Grillenzirpen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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