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Bei einem Ja zur Biodiversitätsinitiative droht erst recht eine Baublockade
Neue Zürcher Zeitung

Schweizweit werden Bauvorhaben wegen des rigiden Ortsbildschutzes verzögert und gestoppt. Bald könnte es noch viel schlimmer kommen.

1. August 2024 - David Vonplon
Zürich wächst rasant und braucht dringend mehr Wohnungen. Doch in den nächsten Jahren droht in der Stadt ein Baustillstand, wovor der Hochbauvorsteher André Odermatt (SP) vor wenigen Wochen warnte. Sein Kollege im Stadtrat, Filippo Leutenegger (FDP), nannte die Lage gar eine «planungsrechtliche Katastrophe».

Auf die Palme bringen den Zürcher Stadtrat die Richtlinien des sogenannten Isos. Die Abkürzung steht für das Bundesinventar der schützenswerten Schweizer Ortsbilder. Es ergänzt den Denkmalschutz der Gemeinden und Kantone und erfasst etwa historische Dorfkerne, Strassen oder Plätze. Weil die Stadt Zürich aus vielen hochwertigen Siedlungen besteht, befinden sich seit 2016 rund 75 Prozent des Stadtgebiets unter Isos-Schutz. Und immer häufiger werden Bauprojekte verzögert oder verhindert, weil die Schutzvorschriften direkt angewandt werden. Die von der Stadt beabsichtigte bauliche Verdichtung droht sich zu verflüchtigen.

Biodiversitätsinitiative ist auch eine Heimatschutzinitiative

Derzeit sucht die Stadt Zürich händeringend nach Wegen, um die Blockade wegen des rigiden Ortbildschutzes abzuwenden. Doch am Horizont taucht bereits der nächste Gefahrenherd auf: die Biodiversitätsinitiative. Was vielen Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern nicht bekannt sein dürfte: Das Volksbegehren beschränkt sich nicht darauf, den Schutz der biologischen Vielfalt in der Schweiz zu sichern. Vielmehr könnte es genauso gut Heimatschutzinitiative heissen. Schliesslich soll mit ihm auch der bestehende Schutz von Ortsbildern sowie von Denkmälern zementiert und weiter ausgebaut werden.

Für die kommunalen und kantonalen Behörden wie auch die Bauwirtschaft heisst das: Die bestehenden Probleme mit den Isos-Vorgaben würden sich bei einer Annahme noch einmal akzentuieren. «Die Biodiversitätsinitiative verschärft die Gefahr eines Baustillstands massgeblich und gefährdet die notwendige Siedlungsentwicklung nach innen, in Zürich genauso wie überall sonst in der Schweiz», sagt Matthias Engel vom Schweizerischen Baumeisterverband. Es sei klar, dass ein Ja an der Urne für diverse Bauprojekte «das direkte Aus» bedeuten würde.

Was die Baubranche besonders umtreibt: Mit dem Volksbegehren soll neu auch das baukulturelle Erbe ausserhalb der Schutzobjekte im Ist-Zustand belassen werden – sprich: überall. Was ausserhalb des Isos zum baukulturellen Erbe gehören würde, bleibt dabei völlig unklar. Zudem wären «erhebliche» Eingriffe in Schutzobjekte des Bundes (Isos) nur noch dann zulässig, wenn «überwiegende Interessen von gesamtschweizerischer Bedeutung» vorliegen, wie es im Initiativtext heisst. Schliesslich müsste auch der Kerngehalt der geschützten Objekte ungeschmälert erhalten bleiben. Auch dies würde den Handlungsspielraum bei Bauprojekten weiter einschränken.

Ähnlich sieht man dies beim Bund. «Ich kann bestätigen, dass bei einer Annahme der Initiative die Anwendung des Isos strenger würde», sagt Maria Lezzi, Direktorin des Bundesamtes für Raumentwicklung (ARE). Dies gelte nicht zuletzt für kantonale Aufgaben. Sie verweist auf die rechtliche Auslegung des Bundesrates. Diese kommt zu dem Schluss, dass vor allem die Kantone durch die neue Regelung beim Schutz der Ortsbilder stärker in die Pflicht genommen würden. Die Landesregierung lehnt die Initiative unter anderem ab, weil sie die Kompetenzordnung zwischen Bund und Kantonen verändern und die Handlungsspielräume verengen würde.

Das Isos war ursprünglich gedacht als ein Element unter vielen, die bei der Abwägung mehrerer Interessen in einem Bauprojekt berücksichtigt werden müssen. Angesichts der Initiative befürchtet insbesondere die Bauwirtschaft, dass eine echte Interessenabwägung, in der der Wohnungsbau und weitere ökologische, gesellschaftliche und ökonomische Aspekte gleich hoch gewichtet werden wie der Denkmalschutz, bald nicht mehr möglich wäre. Dabei zeigt sich bereits heute, dass bei vielen Bauprojekten die kommunalen und kantonalen Vorgaben vom Isos übersteuert werden. Was dazu führt, dass Projekte auch dann blockiert werden können, wenn sie die lokalen Kriterien erfüllen.

Grund dafür ist, dass sich die Behörden vermehrt mit Rekursen gegen Bauprojekte konfrontiert sehen, die sich auf die sogenannte Isos-Direktanwendung berufen. Gemeint ist damit, dass ein Bauprojekt auf einer inventarisierten Parzelle eine Bundesaufgabe tangiert, etwa den Grundwasserschutz, Photovoltaikanlagen oder Zivilschutzräume. In solchen Fällen müssen übergeordnete Gremien die Projekte beurteilen, etwa die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission oder die Kommission für Denkmalpflege. Im Zentrum stehen dann aber nicht die kommunalen oder kantonalen Interessen, sondern die nationalen denkmalpflegerischen.

Umstrittene Gutachten der Wächtergremien

In den letzten Jahren führten die Gutachten dieser mächtigen Wächtergremien zu schwer nachvollziehbaren Entscheiden. Im Kanton Solothurn zum Beispiel sollte eine Umfahrung um das Städtchen Klus dafür sorgen, dass die Bevölkerung nicht länger Lärm und Luftverschmutzung ausgesetzt ist und der geschichtsträchtige Ort aufgewertet wird. Die Ortschaft liegt im engen Einschnitt der ersten Jurakette und versinkt täglich im Stau.

Doch das Solothurner Verwaltungsgericht hob im Mai 2022 den Erschliessungsplan des Regierungsrates auf, weil er den Vorgaben des Heimatschutzes widersprach. Entscheidend für das Urteil war ein Gutachten der Kommission für Denkmalschutz. Die «zu erwartende Verbesserung» zum Schutz der Bevölkerung vor Lärm und Luftverschmutzung würde den «schweren Eingriff» ins Ortsbild nicht rechtfertigen, hiess es darin. Eine Beschwerde der Solothurner Regierung wies das Bundesgericht später ab. Und das, obwohl das Solothurner Stimmvolk sich im September 2021 mit 59 Prozent der Stimmen für das 74-Millionen-Projekt ausgesprochen hatte. Nun staut sich der Verkehr in der Ortschaft weiterhin täglich und macht nach und nach das Städtchen kaputt.

Eine ähnliche Erfahrung machte die Bündner Regierung in Santa Maria im Val Müstair. Im engen Dorfkern, wo grössere Fahrzeuge nicht kreuzen können, staut sich jeweils während der Hauptreisezeit der Verkehr, was für die Einwohnerinnen und Einwohner Lärm, Abgase und Erschütterungen zur Folge hat. Eine Umfahrung sollte Besserung bringen. Doch die Eidgenössische Natur- und Heimatschutzkommission und die Kommission für Denkmalpflege lehnten die beiden Umfahrungsvarianten des Kantons ab. Sie würden eine Beeinträchtigung des Isos wie auch des Bundesinventars für historische Verkehrswege von nationaler Bedeutung darstellen, hiess es im Gutachten.

Es ist die Häufung solcher Fälle, die dazu führt, dass das Parlament nun auf eine Abschwächung des Heimatschutzes drängt. Vergangenen Februar sprach sich nach dem Ständerat auch der Nationalrat für einen Vorstoss von Jakob Stark aus. Dieser fordert, dass die Interessenabwägung bei kantonalen und kommunalen Aufgaben auf Augenhöhe erfolgen kann – die Interessen von Städten, Gemeinden und Kantonen als genauso bedeutend taxiert werden wie das nationale Interesse am Ortsbild. Das Isos sei mittlerweile zu einem unverrückbaren Axiom geworden, das für sämtliche Planungsprozesse als unantastbar vorgegeben werde, kritisierte der Thurgauer SVP-Ständerat Stark.
Parlament will Lockerung der Isos-Regelung

Dem widerspricht Martin Killias, Präsident des Schweizer Heimatschutzes. Massvolle Eingriffe seien auch heute möglich, die Motion Stark ziele jedoch darauf ab, den Kerngehalt der Inventare national geschützter Landschaften und Ortsbilder auszuhebeln. Mit der Biodiversitätsinitiative wolle man just solchen Angriffen auf das baukulturelle Erbe einen Riegel schieben. «Die Bundesinventare der Landschaften, Ortsbilder und historischen Verkehrswege stehen politisch unter grossem Druck», sagt der Jurist. Viele fänden intakte Landschaften und Ortsbilder zwar schön, möchten aber nicht, dass sie ihnen im Wege stehen, wenn sie dort Blöcke hinstellen möchten. Könnten aber lokale Bauinteressen nationale Schutzobjekte aushebeln, seien diese Inventare wirkungslos. «Deshalb wollen wir diesen Schutz in der Verfassung verankern.»

Killias stellt in Abrede, dass die Isos-Problematik in der Stadt Zürich bei Annahme der Biodiversitätsinitiative noch verschärft würde. Vielmehr böte diese die Chance, dass die Zuständigkeiten von Bund, Kantonen und Gemeinden bei der Beurteilung von Bauvorhaben in einem neuen Gesetz besser geregelt würden. So könnten etwa grössere Eingriffe durch den Bund, kleinere dagegen durch die kommunalen Stellen bewilligt werden. «Wie etwa Stadt und Kanton Bern vorgemacht haben, liessen sich die Probleme der Stadt Zürich relativ einfach entschärfen», sagt Killias.

Die zuständigen Behörden von Stadt und Kanton Zürich halten sich derweil mit einer Stellungnahme zur Biodiversitätsinitiative zurück. Wie sich ein Ja auf die Siedlungsentwicklung auswirken würde, sei schwierig abzuschätzen, sagt Isabelle Rüegg, Sprecherin der Baudirektion des Kantons Zürich.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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