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Der neue Kiesler-Preisträger Junya Ishigami: ein Visionär mit Wirklichkeitssinn
Spectrum

Zum 13. Mal wurde heuer der Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst verliehen – an den Japaner Junya Ishigami.

2. August 2024 - Christian Kühn
Bühnenbildner, Möbeldesigner, Ausstellungsgestalter, Bildhauer, Architekt: Friedrich Kiesler, eine der schillerndsten Figuren der Architektur- und Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, entzieht sich jeder Zuordnung. Im Jahr 1890 in Czernowitz geboren, verließ er Österreich 1926 in Richtung New York, wo er sich rasch als Künstler und Architekt etablierte. Ende der 1930er-Jahre war er Professor an der Columbia University, an der er einen wissenschaftsaffinen, biotechnischen Architekturansatz verfolgte, den er unter dem Namen „Correalismus“ zu verbreiten suchte.

Die Nähe zum Surrealismus, zu dessen Exponenten Kiesler beste Kontakte pflegte, war kein Zufall. In den späten 1940er-Jahren begann Kieslers Arbeit am „Endless House“, einer Raum­idee, charakterisiert durch organische Formen, die er in Modellen und Skizzen immer weiter ausarbeitete. Sie repräsentieren eine „magische“ Architektur, als deren Schöpfer und Schamane sich Kiesler in stilistisch imposanten Fotoserien inszenierte. Gebaut wurde das „Endless House“ nie. Das einzig erhaltene Bauprojekt Kieslers ist der „Shrine of the Book“, ein vergleichsweise konventioneller Rundbau, den er mit Armand Bartos in den 1950er-Jahren in Jerusalem re­alisiert hat.

1998 wurde Frank Gehry ausgezeichnet

Kieslers umfangreicher Nachlass gelangte 1998 auf Initiative des Kunsthistorikers Dieter Bogner nach Wien. Der Kaufpreis von damals drei Millionen Dollar wurde über eine Stiftung aufgebracht, an der sich die Republik, die Stadt Wien, die Nationalbank und private Sponsoren beteiligten. Die Witwe Kieslers verzichtete auf ein Drittel des Kaufpreises; im Gegenzug sagten die Stadt Wien und die Republik zu, alle zwei Jahre den Österreichischen Friedrich-Kiesler-Preis für Architektur und Kunst auszuloben und mit 750.000 Schilling zu dotieren.

Dieser Preis wurde bisher 13-mal verliehen und ist eine Art umgekehrte Ahnengalerie Kieslers geworden, deren Exponenten manchmal mehr und manchmal weniger mit dem Namensgeber des Preises zu tun haben. Der erste Preisträger, Frank Gehry, war keine Überraschung. Mit dem großen Namen sollte das ­Niveau des Preises hoch angesetzt werden. Bei den weiteren Preisträgern gibt es einige, die eindeutig der Kunst zuzuordnen sind, wie etwa Bruce Nauman und Judith Barry, die meisten sind aber echte Grenzgänger, die in manchen Fällen auch in der Wahl der Grenzen über ­Architektur und Kunst hinausgehen. Nicht alle haben die Chuzpe, ihr Atelier Office for Political Innovation zu nennen, wie der Preisträger des Jahres 2016, Andrés Jaque; aber zu den meisten würde die Bezeichnung gut passen: Cedric Price, Yona Friedman, Ólafur Elíasson, Theas­ter Gates.

Bekanntheit seit der Biennale 2008

Mit Junya Ishigami, nach Toyo Ito der zweite Japaner unter den bisherigen Preisträgern, hat die Jury eine besonders glückliche Wahl getroffen. Ishigami wurde international durch seine Gestaltung des japanischen Pavillons bei der Architekturbiennale in Venedig 2008 bekannt, bei der er dessen Umfeld in eine Gartenlandschaft mit exotischen Pflan­zen verwandelte. Durchdrungen wurde diese Landschaft von einem Gerüst aus extrem zarten, weiß lackierten Stahlprofilen, die im Lauf der Ausstellung von den sorgfältig ausgewählten Pflanzen erobert werden sollten. Wer wollte, konnte hier den Kontrast zwischen japanischer Gartenkunst mit ihrer Ästhetik des kontinuierlichen Wandels und „westlicher“ Rationalität dargestellt finden.

Bei genauerer Betrachtung geht ­Ishigami aber über diesen Kontrast hinaus. Die Position der vertikalen Profile folgte keinem simplen Raster, sondern einer eigenen, von der Pflanzenwelt inspirierten Logik. Für sein erstes größeres, ebenfalls 2008 realisiertes Projekt, ein eingeschoßiges Werkstättengebäude für das Kanagawa Institute of Technology (KIT), skalierte Ishigami diese Idee nach oben und konzipierte die Werkstätte als Säulenwald aus extrem dünnen Stahlprofilen, deren Lage und Ausrichtung minutiös geplant sind. Im scheinbaren Chaos entstehen dabei flexibel nutzbare Zonen, die sich die Studierenden als Arbeitsplatz aneignen.

Werte bezeichnen die Weite

Für Ishigami ist diese Indifferenz gegenüber einer funktionellen und typo­logischen Vorherbestimmtheit der Ausgangspunkt für eine neue Beziehung zwischen der Architektur und der Welt, in der es keine allgemein anerkannten Werte mehr gebe: „Werte bezeichnen eine fast unendlich erscheinende Weite, in der die Welt als Ganze versucht, das Gleichgewicht zu halten, während sie sich ständig entscheidet, was sie annehmen oder ablehnen soll, und dabei blindlings im Dunkeln tappt, sich in die eine oder andere Richtung bewegt, ohne ihr Ziel zu erkennen.“

Entsprechend vielfältig und überraschend sind die Projekte, die Ishigami bisher umgesetzt hat. Dazu zählen die „Caféteria“ für das KIT, eine horizontal über eine Fläche von 80 mal 120 Meter gespannte Membran aus einem knapp einen Zentimeter starken Stahlblech mit zahlreichen quadratischen Öffnungen, durch die Licht und Regen fallen. Je nach Temperatur schwankt die Höhe dieses Meditationsraums um bis zu 80 Zentimeter. Den Goldenen Löwen für die beste Einzelarbeit gewann Ishigami bei der Biennale 2010 mit der Installation „Architecture as Air“, die ein architektonisches Volumen von vier mal acht mal 20 Metern aus nur einen Millimeter starken Karbonfasern nachzeichnete, die von Fäden mit einer Stärke von 0,02 Millimetern stabilisiert waren.

Eine spektakuläre Gartengestaltung realisierte Ishigami für ein Hotel in Tochigi, indem er den Wald, der dem Hotelprojekt weichen musste, Baum für Baum in einen Wassergarten transplantieren ließ, dessen Kontur sich je nach Wasserstand kontinuierlich verändert. Die Ausstellung, die in den Räumen der Kiesler-Privatstiftung in der Mariahilfer Straße bis Oktober zu sehen ist, zeigt zwei aktuelle Projekte Ishigamis in Zeichnungen und Modellen: ein Museum, das über einen Kilometer Länge zur Hälfte in einem künstlichen See versenkt ist, und ein unterirdisches Restaurant, dessen durch mehrfaches Aushöhlen und Ausgießen eines Erdkörpers entstandene Geometrie stark an Kieslers „Endless House“ erinnert.

Die Idee, Kieslers Nachlass nach Wien zu holen und auf dieser Basis die internationale Rezeption Kieslers zu fördern, ist aufgegangen. Kiesler ist international präsent, durch Leihgaben der Stiftung für zahlreiche Ausstellungen und durch den Preis, der einer kleinen, aber wichtigen Randgruppe der Architekturszene die Aufmerksamkeit schenkt, die sie verdient: den im Realen geerdeten Visionären. „Form folgt nicht der Funktion, Form folgt der Vision“, hat Kiesler einmal gesagt und ergänzt: „Vision folgt der Wirklichkeit.“

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