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Stadtgestaltung in Wien: So kleinlich darf man nicht planen
Spectrum
9. August 2024 - Wolfgang Freitag
Jahrzehntelang wirkte Erich Raith, Wiener des Jahrgangs 1954, am Planungsgeschehen in Wien an zentraler Stelle mit: als Universitätslehrer und zuletzt Vorstand des Instituts für Städtebau und Raumplanung an der TU Wien, als konzeptiver Zuarbeiter des Magistrats. Kürzlich kündigte er überraschend an, seine beruflichen Agenden stillzulegen. Anlass für ein Gespräch.

Die Presse: Man wird vielleicht nicht als Architekt geboren, aber wenn man’s einmal ist, bleibt man’s üblicherweise bis ins Grab. Warum dieser Rückzug?

Erich Raith: Ich gehöre wohl nicht zu jenen, die den letzten Atemzug unbedingt an der Kante des Zeichentisches machen wollen. Als junger Architekt, wenn man noch glaubt, über unerschöpflich viel Zeit und Kraft zu verfügen, stürzt man sich ja voll Sportsgeist in jeden Wettbewerb, kämpft auch lustvoll gegen Windmühlen und versucht, Kopf voran manche Wand zu durchbrechen. Später lernt man dann notgedrungen, sich genauer zu überlegen, in welche Projekte man Zeit, Aufmerksamkeit und Herzblut investiert. Und ja, ich glaube, ich hätte schon noch einiges einzubringen an Wissen und Erfahrung.

Sind Sie frustriert über aktuelle Entwicklungen der Stadt?

Es wäre naiv anzunehmen, dass sich Expertenmeinungen immer hundertprozentig durchsetzen müssen. Da können ja mittlerweile auch Virologen und Immunologen ein Lied davon singen. Auch die Stadtentwicklung gehört zu jenen Themenfeldern, die zu wichtig sind, um sie allein Expertinnen zu überlassen. Außerdem ist Wien gerade wieder zur lebenswertesten Stadt weltweit gekürt worden. Das ist sicher nicht allein das Verdienst der Stadtplanung – ganz unschuldig wird sie daran aber auch nicht sein. Ich denke, dass es nicht zuletzt der Praxis der sanften Stadterneuerung zu verdanken ist, dass Wien eine im internationalen Vergleich herausragende urbane Qualität entwickeln konnte.

Über die Meriten der Stadterneuerung hört man aber nicht sehr viel.

Die gesetzlichen Grundlagen für den speziellen Wiener Weg der Stadterneuerung, für den Wien immerhin im Jahr 2010 von der UNO-Weltorganisation für Siedlungswesen und Wohnbau mit dem weltweit wichtigsten Preis in diesem Bereich ausgezeichnet wurde, stammen aus dem Jahr 1974. Die Stadterneuerung feiert also heuer das 50-Jahr-Jubiläum. Zum 30-Jahr-Jubiläum gab es 2004 noch große Veranstaltungen, bei denen sich auch die politische Prominenz entsprechend feiern ließ. Heuer zeichnet sich nichts dergleichen ab. Das ist erstaunlich und irgendwie beschämend. Die Stadt ist sich offenbar ihrer eigenen Verdienste nicht mehr bewusst. Ich bedaure auch, dass die – mittlerweile betagten – Persönlichkeiten, die diese großartige Entwicklung auf Schiene gebracht und ständig weiterentwickelt haben, nicht angemessen vor den Vorhang geholt werden.

Nehmen wir Ihre Studie über das Wiental, erstellt 2021 im Auftrag des Magistrats: Da haben Sie ziemlich genau das Gegenteil von dem empfohlen, was jetzt mit der Naschmarkthalle passiert.

Das Wiental ist die wichtigste Frischluftschneise Wiens, vom Westen her bis ins Stadtzentrum. Für die gesamte Kernstadt wäre es immens wichtig, diesen Großraum insgesamt als Kaltluftbahn zu optimieren. Im gegenwärtigen Zustand aber ist das Wiental der effizienteste Luft-Durchlauferhitzer, den man sich vorstellen kann. Wenn der frische Wind aus dem Wienerwald beim Naschmarkt angelangt ist, ist er bereits zu einem heißen Wüstenwind geworden. Hier mit einigen Baumsetzungen und Wasserspielen zu reagieren mag zwar zu kleinräumig spürbaren Verbesserungen beitragen, für die Aufenthaltsqualität in der Innenstadt sind diese Maßnahmen zu zentrumsnah und sowieso unzureichend. Im Hinblick auf die bedrohliche Entwicklung des Stadtklimas wird leider viel zu kleinlich gedacht. Dass man dann bei einem Projekt, das zwar aus einem Wettbewerbsverfahren siegreich hervorgegangen, aber dennoch stadtstrukturell problematisch ist – auch, weil es zu einer Barriere für die Luftströme werden kann –, ein paar Quadratmeter Dachbegrünung anbietet, steht geradezu symbolisch für diese konzeptionelle Kleinlichkeit.

Was müsste stattdessen geschehen?

Man müsste die spektakuläre Transformationsgeschichte des Wientals mutig und offensiv fortschreiben. So wie zu Otto Wagners Zeiten eine vorindustriell überformte, aber immer noch grüne Tallandschaft radikal in eine zeittypische steinerne Infrastrukturtrasse verwandelt wurde – mit einem stadtbaukünstlerischen Zugriff, der bis heute beeindruckt, und den man sich in dieser Großzügigkeit längst nicht mehr zutraut –, so sollte das Wiental jetzt ebenso grundlegend in eine zukunftsweisende Stadtlandschaft des 21. Jahrhunderts umgebaut werden.

Gibt es schon Studien dazu? Weiß man, was in diesem Sinn zum Beispiel ein Aufstauen des Wienflusses bewirken könnte? Gibt es Überlegungen zur Nutzung der enormen Kaltluftreserven im Wienflussgewölbe, zu einer konsequenteren Überplattung und Begrünung der U-Bahntrasse? Kennt man die Flächenpotenziale für eine klimaeffiziente Stadtbegrünung, die wirklich stadtstrukturelle Dimensionen erreicht? Gibt es ein visionäres Gesamtbild, das mehr ist als ein kleinteiliges Flickwerk?

Was passiert stattdessen: Man versiegelt im Vorfeld von Schönbrunn einen Großparkplatz, der bereits vorliegenden Wettbewerbsergebnissen diametral widerspricht und auch mit Blick auf das Welterbe Schönbrunn falsch ist. Statt einer ernst zu nehmenden Strategie in Sachen Stadtklima gibt es diesen Tortenstreusel aus kleinen Grün- und Wasserelementen, den man undifferenziert und flächig über die Stadt verteilt. Da kriegt dann halt auch der Michaelerplatz ein paar blaue und grüne Flankerln ab, die hier leider völlig deplatziert sind, woanders aber schwächelnde Grünstrukturen sinnvoll stärken könnten. In Wahrheit müsste man sich überlegen: Wie gesundheitsfördernd, nahrhaft und wohlschmeckend kann denn zukünftig die Torte unter dem Streusel sein?

Und wieso geschieht das nicht?

Die Stadt Wien hat das Klimathema bis vor wenigen Jahren kaum wahrgenommen. Vor etwa zehn Jahren gab es zum Beispiel den Wettbewerb zum Areal Wiener Eislaufverein/Hotel Intercontinental. In der Wettbewerbsauslobung hat das Klimathema noch keine Rolle gespielt. Entsprechend ist auch das Wettbewerbsergebnis. Wenn man mitbekommt, wie unglaublich verkrampft da bis heute mit dem Unesco-Weltkulturerbe über die Höhenentwicklung gestritten und dabei das Projekt immer fragwürdiger wird, dann tut das fast schon körperlich weh. Erstaunlicherweise wird aber nicht darüber diskutiert, dass die Fläche des Eislaufplatzes die großräumig etablierte Bebauungskante an der Außenseite des Glacis unzulässig überspringt und als Hitzeinsel stadtklimatisch kaum beherrschbar sein wird. Für mich wären diese Themen mindestens so relevant wie der Canaletto-Blick.

Dann gab es Jahre später plötzlich wissenschaftlich fundierte Klimaprognosen für Wien, die zu Recht einen Schock ausgelöst haben. Wien steht nämlich diesbezüglich schlechter da als die meisten anderen europäischen Städte.

Der Stadtplanung ist das Problem natürlich bewusst, ich sehe nur nicht die angemessenen konzeptionellen Konsequenzen. Auf der Planungsebene schlägt sich das im Moment vor allem in Gestalt des grünblauen Tortenstreusels nieder: ein paar Wasserspiele da, ein paar Kräuterbeete dort, ein paar begrünte Fassaden und Dächer. Und man kann nur hoffen, dass das wunderbare Wiener Hochquellwasser ausreichen wird, um das alles zu bewässern. In Zukunft wird ja wahrscheinlich jeder Stadtbaum wie ein Patient in der Intensivstation an versorgenden Schläuchen hängen und permanent überwacht werden müssen.

Tatsächlich müssten wir die enormen Herausforderungen, die auf die Stadt zukommen, auf einer viel grundsätzlicheren Ebene angehen. Es geht um eine andere Energieversorgung und in letzter Konsequenz darum, dass wir unsere alltäglichen Lebensprozesse anders im Raum organisieren müssen – Stichwort: 15-Minuten-Stadt. Die gute Nachricht ist: Die gründerzeitlichen Teile der Stadt werden sich da wahrscheinlich wieder ganz gut bewähren, wahrscheinlich besser als die gering verdichteten, monofunktionell spezialisierten und in der Gebäudestruktur zu kleinteiligen und zu starren Wohnbauten des vergangenen Jahrhunderts.

Alt schlägt Neu: wieso?

Zum Beispiel, weil ältere Stadthäuser in der Regel erlauben, dass im selben Haus gleichzeitig auf unterschiedliche Weise gewohnt und auf ebenso unterschiedliche Weise gearbeitet werden kann und im Erdgeschoß vielleicht noch ein Wirtshaus sein kann oder ein Geschäft. Besonders wichtig ist dabei, dass die Gebäudestrukturen Umnutzungen, Veränderungen und ständige Anpassungen an sich verändernde Lebensbedingungen ausreichend zulassen. Diese „strukturelle Offenheit“ ist ein wesentlicher Schlüssel für das Entstehen und die ständige Auffrischung vitaler Urbanität.

Wenn ich mir aber die funktionell spezialisierten Wohnbauten anschaue, wie sie noch heute meistens errichtet werden, mit einem Wohngeschoß auf Nullebene oder einem gerade etwas über zwei Meter hohen Erdgeschoß, das gerade für die Garageneinfahrt und den Müllraum reicht, dann leistet das einfach zu wenig für den öffentlichen Raum und für ein lokales Stadtleben. Darüber gibt es dann immer gleiche Regelgeschoße, wo immer an der gleichen Stelle im Grundriss das Doppelbett mit den zwei Nachtkästchen stehen muss, weil es räumlich gar nicht anders geht. Das hat doch mit unserer aktuellen – und erst recht mit einer zukünftigen – gesellschaftlichen Realität und der explodierenden Vielfalt an Lebensentwürfen nichts mehr zu tun.

Und wenn man dann Wettbewerbe für große Stadterweiterungsgebiete durchführt, wo die Auslobung den Planerinnen abverlangt, dass 90 Prozent der Bebauung als reiner Wohnbau dieser Art vorzusehen ist, dann ist das höchst problematisch und rückwärtsgewandt, dann erklärt sich das vielleicht aus der Trägheit des mächtigen Systems Wohnbau in Wien und vielleicht auch daraus, dass sich die Stadtplanung auf eine pragmatische Haltung zurückzieht und vielleicht eigene Ansprüche unterordnet. Nachhaltige Raumentwicklung stelle ich mir jedenfalls anders vor.

Woran fehlt es?

Wir stehen vor der Herausforderung, diese Stadt wieder einmal gründlich umrüsten zu müssen, um nächsten Generationen einen zukunfts- und entwicklungsfähigen Lebensraum mit historischer Tiefe, aber auch mit ausreichenden Innovationspotenzialen hinterlassen zu können. Diesem Umbauerfordernis steht viel an Trägheit, an Beharrungskräften entgegen. Wobei ich glaube, dass man gerade in Wien durch die Erfolgsgeschichte der Stadterneuerung einen gewaltigen Wissens- und Erfahrungsschatz hätte, auf den man zugreifen sollte. Nur: Das interessiert offenbar niemanden – schon gar nicht beim Neubauen am Stadtrand.

Dieser einfache Gedanke, dass das, was man heute neu baut, für die nächste Generation ein Erneuerungs- und Anpassungsproblem darstellen wird, dieser Gedanke wird nicht gedacht und schon gar nicht konzeptionell und konstruktiv umgesetzt.

Wir können heute unmöglich prognostizieren, welche räumlichen Ansprüche man in 30 Jahren im Hinblick auf das Wohnen oder das Arbeiten haben wird, und ob es diese Begriffe angesichts solcher Megatrends wie der Digitalisierung überhaupt noch geben wird. Wir wollen aber, dass die Stadtquartiere und Gebäude, die wir heute errichten, eine lange Lebensdauer haben und langfristig gut brauchbar und attraktiv sein werden. Wieso bauen wir aber dann immer noch mehrheitlich Wohnungstypen wie für eine alte Industriegesellschaft, für die das Wohnen und das Arbeiten zeitlich und räumlich ganz streng getrennt waren? Wegen der meistens gewählten konstruktiven Struktur der Gebäude werden diese starren Raumangebote auch kaum nachkorrigiert werden können. Das ist eine urbanistische Erbsünde.

Dabei hätte gerade Wien alle Voraussetzungen, wieder so einen Innovationssprung zu machen, wie es der Wohnbau des Roten Wien in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war, nur diesmal müsste es darum gehen, den monofunktionalen Wohnbau zu überwinden. Das „System Wohnbau“ hat zwar in den vergangenen 100 Jahren viele, auch große und qualitätsvolle Wohnsiedlungen hervorgebracht, aber nie eine wirklich urbane Stadt. Es ist mittlerweile eine historische Erfahrung, dass das mit dieser Art von Wohnbau auch nicht geht. Urbanität ist aber die Schlüsselqualität und die unverzichtbare Voraussetzung, wenn man in Zukunft mit den vorhandenen Ressourcen an Fläche, Raum, Energie und Material auskommen will.

Wir werden sehen, was zu diesen Themenbereichen im nächsten Wiener Stadtentwicklungsplan stehen wird, der ja spätestens im kommenden Jahr beschlossen werden soll. Ich habe bislang nicht mitbekommen, wie da der Stand der Dinge ist. Im Unterschied zu früher wird jetzt offenbar lieber hinter verschlossenen Türen über die Zukunft der Stadt diskutiert.

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