Artikel
Punks mit Gipskarton
Berner Metamorphosen: Ein Lagerhaus und ein Bürohaus verwandelten sich in ungewöhnliche Wohnbauten. Zwei Beispiele dafür, wie eine Kultur des Erhaltens und Umbauens zu ganz neuen Ideen führt und Räume mit eigener Ästhetik erzeugt. Ein Besuch bei BHSF Architekten in der Schweiz.
26. August 2024 - Maik Novotny
Die Stahlbetonstütze ist von Aufklebern übersät: Eat the Rich, Klimademo Bern, Alpakas gegen Nazis. An der Wand daneben ein Wegweiser durch das Haus: im Erdgeschoss die Politische Bibliothek und ein Restaurant ohne Konsumzwang. Hohe Hallen mit bunten Hängelampen, freundlich grüßende junge Menschen, auf der Restaurantterrasse klappern Laptoptastaturen und Kaffeetassen, Kinder wuseln umeinander. Mit dem Lift nach oben auf die Dachterrasse: Über die liebevoll gepflegten Wildkräuter hinweg geht der Blick auf die Gipfel des Berner Oberlands.
In 350 Wohnungen auf zwölf Geschossen lebt hier am westlichen Stadtrand der Schweizer Bundeshauptstadt die Genossenschaft Warmbächli, und vor lauter Idylle kann man sich kaum vorstellen, dass sich hier noch vor wenigen Jahren eine Müllverbrennungsanlage und das Kakaobohnenlager eines Schokoladenherstellers befand, der wohl unwohnlichste Ort der Stadt. Und doch stecken 80 Prozent von dessen industrieller Stahlbetonsubstanz im Wohnbau, der in etwa dasselbe Volumen einnimmt. Das ergibt nicht nur Mehrwert im Charakter, sondern auch in Form von 4,50 Meter hohen Räumen und Sieben-Zimmer-Wohnungen, die man sich in einem Neubau nie ausdenken könnte. Zusammen mit den benachbarten, etwas weniger wilden Wohnbauten ergibt das ein Stadtquartier, das sicher weniger vital wäre, wenn man hier Tabula rasa gemacht hätte.
„Unser Haus ist in diesem Ensemble so etwas wie der Punk, der für die Atmosphäre sorgt“, sagt Axel Humpert von BHSF Architekten aus Zürich, die nicht nur für den Umbau des „Warmbächli“ verantwortlich waren, sondern auch für den Masterplan, der den größtmöglichen Erhalt des Bestandes vorsah. Die sozial engagierte Genossenschaft mit Wurzeln in der linken Berner Szene erwies sich als erwartbar experimentierfreudiger Bauherr.
Keine Hochglanzarchitektur
Das Ziel „Umbauen statt neu bauen“ ist aus Klimaschutzgründen heute ins Zentrum der Architektur gerückt, und die Schweiz gilt als Vorreiter dieser Wiederverwertungskultur. BHSF verlegten sich bereits nach der Bürogründung 2007 auf kleine Sanierungen alltäglicher Häuser – das, was sonst niemand machen wollte, sagt Humpert. „Wir haben dabei gelernt, unter welchem Druck die Bauindustrie steht, und soziologisches Wissen durch den Kontakt mit den Bewohnern gesammelt, deren Wohnungen wir sanierten.“ Akzeptiert man den Umbau als Normalität, führt das naturgemäß zu einer völlig anderen Ästhetik, einer Art Baustellen-Bricolage von Alt und Neu.
Die jüngste dieser Metamorphosen vom Unwohnlichen ins Wohnliche wurde Anfang 2024 in Köniz bei Bern bezogen, und ihre Bauherrenschaft könnte nicht weiter entfernt von der progressiven Wildheit des Warmbächli sein. Die AXA Investment Managers Schweiz AG, Teil der AXA Group, verfügte hier über zwei solide Bürohäuser, die erst 2006 fertiggestellt wurden, aber nach wenig mehr als zehn Jahren schon wieder leerstanden. Der Abriss eines kaum volljährigen Gebäudes wäre hier nicht vertretbar gewesen.
Von außen ist die Metamorphose scheinbar oberflächlich: statt nüchtern-einheitlicher Farblosigkeit zwei Häuser in Rosa und Grün, auf dem Dach in lieblicher Schreibschrift die Namen Lise und Lotte. Geschwungene Balkone wurden an die Fassaden geschraubt, die Fenster bekamen kecke kleine Pflanzkästen. So lässt sich auch ein ungewöhnliches Haus an eine Zielgruppe vermarkten, die sich auch für die „Business Hubs“ im Erdgeschoss interessiert.
Aufregende Nahtstellen
Im Inneren werden die Nahtstellen der Metamorphose aufregender und überraschender. „Die für den Bürobau typischen durchgehenden Fensterbänder verleihen den Wohnräumen eine helle Horizontalität“, sagt Axel Humpert. Das selbstgestellte Ziel, so viel wie möglich zu erhalten, ging bis in die Sanitärkeramik. Die WC-Schüsseln wurden gesichert, gereinigt, sauber aufgereiht. In einem Drittel der 80 Wohnungen fand die Weißware ein neu-altes Zuhause. „Es hat für uns mit ganz normalem Menschenverstand zu tun, dass man etwas, das nicht kaputt ist, nicht wegwirft“, sagt der Architekt.
Die neuen Gipskartonplatten für die Trennwände, um die man aus Kostengründen nicht herumkam, ließen die Architekten unverputzt; ein veredelnder Streifen Farbe im unteren Bereich verhinderte, dass die Bauherren nervös um den Wiederverkaufswert ihrer Immobilie bangen mussten. Eine schweizerische Art von Unfertigkeit, bei der auch das Unsaubere sauber aussieht. Mehr noch: Die Briefkästen wurden von BHSF als Gebrauchtware aus verschiedenen Quellen online ersteigert und schmücken nun die Fassade wie eine pragmatische Kunstinstallation – mit der rechtlichen Konsequenz, dass die Architekten die Gewährleistung übernehmen mussten.
So unterschiedlich die beiden Berner Metamorphosen sind, sprechen sie doch von derselben Haltung: einer, die das Bestehende per se als interessant und wertvoll ansieht, auch wenn es nicht den Sanktus des Denkmalschutzes hat. Einer, die in diesem Bestand eine Fülle von Möglichkeiten sieht. Und gewohnt werden kann plötzlich fast überall.
„Der Umbau ist für uns ein Innovationskatalysator“, sagt Humpert. „Er zwingt dazu, eingeübte Konventionen zu hinterfragen, auch unsere eigenen als Architekten.“ Und man müsse das (um)gebaute Ergebnis anders bewerten, nämlich immer in Bezug auf die Rahmenbedingungen und das, was man mit ihnen erreichen könne. Das heißt auch, dass viele Qualitäten nicht fotogen auf den ersten Blick sichtbar sind, sondern gespeichert in sich überlagernden Schichten, die ihre Geschichten erzählen.
In 350 Wohnungen auf zwölf Geschossen lebt hier am westlichen Stadtrand der Schweizer Bundeshauptstadt die Genossenschaft Warmbächli, und vor lauter Idylle kann man sich kaum vorstellen, dass sich hier noch vor wenigen Jahren eine Müllverbrennungsanlage und das Kakaobohnenlager eines Schokoladenherstellers befand, der wohl unwohnlichste Ort der Stadt. Und doch stecken 80 Prozent von dessen industrieller Stahlbetonsubstanz im Wohnbau, der in etwa dasselbe Volumen einnimmt. Das ergibt nicht nur Mehrwert im Charakter, sondern auch in Form von 4,50 Meter hohen Räumen und Sieben-Zimmer-Wohnungen, die man sich in einem Neubau nie ausdenken könnte. Zusammen mit den benachbarten, etwas weniger wilden Wohnbauten ergibt das ein Stadtquartier, das sicher weniger vital wäre, wenn man hier Tabula rasa gemacht hätte.
„Unser Haus ist in diesem Ensemble so etwas wie der Punk, der für die Atmosphäre sorgt“, sagt Axel Humpert von BHSF Architekten aus Zürich, die nicht nur für den Umbau des „Warmbächli“ verantwortlich waren, sondern auch für den Masterplan, der den größtmöglichen Erhalt des Bestandes vorsah. Die sozial engagierte Genossenschaft mit Wurzeln in der linken Berner Szene erwies sich als erwartbar experimentierfreudiger Bauherr.
Keine Hochglanzarchitektur
Das Ziel „Umbauen statt neu bauen“ ist aus Klimaschutzgründen heute ins Zentrum der Architektur gerückt, und die Schweiz gilt als Vorreiter dieser Wiederverwertungskultur. BHSF verlegten sich bereits nach der Bürogründung 2007 auf kleine Sanierungen alltäglicher Häuser – das, was sonst niemand machen wollte, sagt Humpert. „Wir haben dabei gelernt, unter welchem Druck die Bauindustrie steht, und soziologisches Wissen durch den Kontakt mit den Bewohnern gesammelt, deren Wohnungen wir sanierten.“ Akzeptiert man den Umbau als Normalität, führt das naturgemäß zu einer völlig anderen Ästhetik, einer Art Baustellen-Bricolage von Alt und Neu.
Die jüngste dieser Metamorphosen vom Unwohnlichen ins Wohnliche wurde Anfang 2024 in Köniz bei Bern bezogen, und ihre Bauherrenschaft könnte nicht weiter entfernt von der progressiven Wildheit des Warmbächli sein. Die AXA Investment Managers Schweiz AG, Teil der AXA Group, verfügte hier über zwei solide Bürohäuser, die erst 2006 fertiggestellt wurden, aber nach wenig mehr als zehn Jahren schon wieder leerstanden. Der Abriss eines kaum volljährigen Gebäudes wäre hier nicht vertretbar gewesen.
Von außen ist die Metamorphose scheinbar oberflächlich: statt nüchtern-einheitlicher Farblosigkeit zwei Häuser in Rosa und Grün, auf dem Dach in lieblicher Schreibschrift die Namen Lise und Lotte. Geschwungene Balkone wurden an die Fassaden geschraubt, die Fenster bekamen kecke kleine Pflanzkästen. So lässt sich auch ein ungewöhnliches Haus an eine Zielgruppe vermarkten, die sich auch für die „Business Hubs“ im Erdgeschoss interessiert.
Aufregende Nahtstellen
Im Inneren werden die Nahtstellen der Metamorphose aufregender und überraschender. „Die für den Bürobau typischen durchgehenden Fensterbänder verleihen den Wohnräumen eine helle Horizontalität“, sagt Axel Humpert. Das selbstgestellte Ziel, so viel wie möglich zu erhalten, ging bis in die Sanitärkeramik. Die WC-Schüsseln wurden gesichert, gereinigt, sauber aufgereiht. In einem Drittel der 80 Wohnungen fand die Weißware ein neu-altes Zuhause. „Es hat für uns mit ganz normalem Menschenverstand zu tun, dass man etwas, das nicht kaputt ist, nicht wegwirft“, sagt der Architekt.
Die neuen Gipskartonplatten für die Trennwände, um die man aus Kostengründen nicht herumkam, ließen die Architekten unverputzt; ein veredelnder Streifen Farbe im unteren Bereich verhinderte, dass die Bauherren nervös um den Wiederverkaufswert ihrer Immobilie bangen mussten. Eine schweizerische Art von Unfertigkeit, bei der auch das Unsaubere sauber aussieht. Mehr noch: Die Briefkästen wurden von BHSF als Gebrauchtware aus verschiedenen Quellen online ersteigert und schmücken nun die Fassade wie eine pragmatische Kunstinstallation – mit der rechtlichen Konsequenz, dass die Architekten die Gewährleistung übernehmen mussten.
So unterschiedlich die beiden Berner Metamorphosen sind, sprechen sie doch von derselben Haltung: einer, die das Bestehende per se als interessant und wertvoll ansieht, auch wenn es nicht den Sanktus des Denkmalschutzes hat. Einer, die in diesem Bestand eine Fülle von Möglichkeiten sieht. Und gewohnt werden kann plötzlich fast überall.
„Der Umbau ist für uns ein Innovationskatalysator“, sagt Humpert. „Er zwingt dazu, eingeübte Konventionen zu hinterfragen, auch unsere eigenen als Architekten.“ Und man müsse das (um)gebaute Ergebnis anders bewerten, nämlich immer in Bezug auf die Rahmenbedingungen und das, was man mit ihnen erreichen könne. Das heißt auch, dass viele Qualitäten nicht fotogen auf den ersten Blick sichtbar sind, sondern gespeichert in sich überlagernden Schichten, die ihre Geschichten erzählen.
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom