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Die Schweiz ist hässlich: Unterwegs in einem Land voller architektonischer Verbrechen
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Das Land wird zugepflastert mit trostlosen Siedlungen, die Profitwut erzeugt Eintönigkeit. Die meisten Neubauten sind in Beton gegossener Durchschnitt. Ginge es nicht anders?
24. August 2024 - Sacha Batthyany, Peer Teuwsen
Es ist wieder Wanderzeit in diesem Land, und an den Bahnhöfen frühmorgens treffen sich Klettverschlussjacken tragende Menschen, die sich wenig später im Zug gegenübersitzen und durchs Fenster blicken, während sie ihre ersten Sandwiches auspacken. Sie sehen auf Siedlungen entlang der Gleise, die Städte fransen aus, erste Lagerhäuser aus Wellblechschalen wechseln sich ab mit Autodiscountern.
Nach vielleicht einer Stunde steigen die meisten aus, die Wanderstöcke in der Hand, das Postauto wartet schon.
Wieder diese anonymen Siedlungsklötze, während der gelbe Bus den Provinzbahnhof verlässt, die Schweiz wird immer gleichförmiger fad, dass einem das Sehen vergeht.
Lauter Nagelstudios und Handyanbieter in der Einkaufspassage, dafür gibt es in der verwaisten Industriezone am Rand des Orts neuerdings eine Trampolinhalle und ein Fashion-Outlet-Center im Chaletstil.
Jetzt kommen schon die ersten frechgelben Einfamilienhäuser mit Thujahecken am Hang, erste Kühe bimmeln, noch mehr Häuser mit Steingärten und Doppelgarage, bis der Bus sich in Serpentinen durch den aufgeräumten Wald kämpft und die Gruppe auf einer Anhöhe ausspuckt, worauf sich alle umblicken und sagen: Ach, wie schön es hier doch ist. Und diese Luft!
Natürlich ist die Schweiz ein schönes Land. Aber eben auch ein ganz schön hässliches.
Denn bis die Gruppe den Ausgangspunkt ihrer Wanderung erreicht, muss sie unzählige Bausünden hinter sich lassen, eine Abfolge visueller Ohrfeigen verkraften, einen Brei aus ideen- und seelenlosen Überbauungen ertragen.
Was in der Schweiz so an Gebäuden herumsteht, ist oft nur mit einem Wort zu beschreiben: Verbrechen. Wie ein Krebs frisst sich im Zuge der Verdichtung und der Profitmaximierung eine beeindruckende Eintönigkeit in die Hügel und Wiesen; erst waren davon nur die Orte neben der Autobahn befallen, aber jetzt metastasiert die Unart, Häuser mit guter Substanz abzureissen und durch Belangloses zu ersetzen, das aber die maximale Ausnutzungsziffer beansprucht, auch in bis anhin verschonte Gegenden.
Wir sind alle gut darin geworden, diese neugeschaffenen Nichtorte zu verdrängen auf unseren Ausflügen zu den Postkartendestinationen. Denn täten wir es nicht, wären wir am Ziel unserer Reise vor lauter in Beton gegossener Durchschnittsware regelrecht erschlagen.
Pierre de Meuron, einer der bekanntesten Architekten des Landes, antwortet auf die Frage, warum viele Gebäude optisch so unerträglich seien, er möge Städte lieber bei Nacht, weil dann all das Mediokre, das einem den Blick trübe, vom Dunkel zugedeckt werde. Und Jacques Herzog, sein Partner, sagt: «Nicht nur die Gebäude sind hässlich, sondern auch der Zwischenraum. Die Strassen, Plätze, Resträume.»
Ginge das nicht anders in einem Land, in dem jeder Quadratmeter zählt, weil es viele nicht sind?
Bomben aufs Land
In einem Newsletter dieser Zeitung mit dem etwas martialischen Titel «Was würden Sie gerne in die Luft jagen?» wurden die Leserinnen und Leser vor ein paar Monaten gefragt, welche Gebäude sie sich weggebombt wünschten, weil sie deren Anblick nicht länger ertrügen. Und die Antworten kamen im Sekundentakt.
Mal waren es Einzelgebäude, wie das Kongresshaus in Biel, das dem Erdboden gleichgemacht werden sollte.
Das Stadthaus von Olten.
Der Neumarkt in Brugg.
Der Flughafen Basel-Mülhausen.
Mal waren es all die erschreckend einfallslosen Bürohäuser rund um die Bahnhöfe mit ihren Brezelkönigfilialen, oder alle Neubaukirchen aus Sichtbeton.
Jemand schrieb: «Ganz Oftringen!» Ein anderer: «Alles, was nach 1960 gebaut wurde.»
Höchste Zeit, mit Experten und Expertinnen durchs Land zu reisen – mit der Frage im Gepäck, was denn genau Hässlichkeit ist. Und was ist schön?
Philip Ursprung, 61, ist Kunsthistoriker und Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH. Regelmässig entflieht er mit seinen Studentinnen und Studenten der Enge der Seminarräume in Zürich und bereist ausgewählte Orte.
Er wandert durch Täler Sloweniens, durch Industriezonen im amerikanischen Rust-Belt oder entlang der Autobahn im Schweizer Mittelland, um nicht nur zu verstehen, warum gebaut wird, wie eben gebaut wird, sondern um sich auch zu fragen, was die je spezifische Art der Gebäude mit uns macht.
Denn natürlich ist es nicht egal, wie wir wohnen und worauf wir blicken, wenn wir aus den Fenstern sehen. «Zuerst prägt der Mensch den Raum, dann prägt der Raum den Menschen», hat Winston Churchill einmal gesagt.
Man vergass die Menschen
Ursprung nimmt uns mit nach Flims, Graubünden, ein ehemaliges Bauerndorf, das seit den sechziger Jahren einen Wandel vollzog, den viele Orte in den Bergen kennen: Es musste gebaut werden für die nach holzgetäferten Zweitwohnungen lechzenden Stadtfamilien mit Golden Retriever im Gepäck und neonbunten Mountainbikes auf dem Autodach.
An den Hängen stehen die Stockwerkeigentumschalets in Reih und Glied und recken ihre Balkone wie Sonnenblumen ihre Blütenkörbe zum Licht. Aber ein eigentliches Zentrum fehlt, weil man in der ganzen Bauwut vielleicht vergass, dass Menschen nicht nur unter sich bleiben wollen, sondern sich auch gerne austauschen. Es gibt in Flims keine Treffpunkte, ausser ein paar Beizen, das macht den Ort so austauschbar.
Als am 6. Dezember 2018 nach vierjähriger Bauzeit die Stenna Flims eröffnet wurde, wollte man nachholen, was im Wachstum übersehen wurde: Ein «gemeinsamer Mittelpunkt» sollte entstehen, wie es in der Ausschreibung hiess, eine Begegnungs- und Einkaufszone «für die ganze Region»; ein Wahrzeichen – nebst der Landschaft – für ein neues Flimser Selbstverständnis: Wir sind mehr als ein Bergort, wollte man sagen, wir können auch Designhotel, Supermarkt, Gastronomie, Wellness und bisschen Grossstadtflair mit Avocadobowls – alles unter einem Dach.
Doch Philip Ursprung, der Architekturprofessor, ist sich da nicht so sicher. Kopfschüttelnd schaut er von aussen auf den Bau, der aussieht wie eine plattgedrückte Mundharmonika und wirkt, als hätte man einen rumänischen Provinzflughafen aus Ceausescus Zeiten in den Berg hineingerammt.
«Hässlichkeit hat mit Grössenverhältnissen zu tun. Und damit, wie das Gebäude in der Landschaft liegt», sagt er, während wir einmal um die Stenna streifen.
Die Flem rauscht unter dem Gebäude hindurch, nur leider hört man sie nur. Der Blick auf den Bach und das imposante Tobel, durch das sich das eiskalte Wasser frisst, ging bei der Planung, tja, vergessen.
«Man hätte einen tollen Bau errichten können, der die beiden Ortshälften verbindet», sagt Ursprung. Schönheit müsse nicht teuer sein, «aber hier ging alles in die Hose: von der Holzverschalung des Hotels, die auf gemütlich macht, bis hin zum Platz hinter dem Haus, den niemand nutzt. Dabei sollte dieser Bach doch eigentlich das Thema sein.»
Woran das liege? Zu viele verschiedene Ansprüche, gekoppelt mit dem Renditedruck. In der Schweiz müsse «jeder Zentimeter Geld abwerfen».
Dazu geselle sich eine Angst, sich zu exponieren, auch bei der Vergabe solch grosser Projekte: Weil ein Jurysystem entscheide, versinke am Ende alles im Schlamm der Mehrheitsfähigkeit, deshalb sei Beige so beliebt, sagt Ursprung, cosmic latte, der Farbton, der keinen stört, aber eben auch niemanden schert.
Die Konsensneurose dieses Landes führt in der Architektur dazu, dass überall austauschbare Einheitsware entsteht. Es ist dieses Mittelmass, von dem Pierre de Meuron sprach, das er nur in der Abenddämmerung erträgt. «Experimente werden kaum gewagt», sagt auch Ursprung, «der Pragmatismus hat das Sagen.»
«Autos zerstören alles»
Kommen wir zurück zu unserer imaginären Wandergruppe, die müde vom Laufen und leicht verschwitzt am Nachmittag mit dem Zug zurück nach Hause fährt und in der man sich gegenseitig Trockenfrüchte anbietet.
Die meisten von ihnen werden am Ende dieses Spätsommertages ihre Haustür irgendwo in der Agglomeration aufschliessen, dort wohnt die Mehrheit der Menschen – je nach Definition bis zu achtzig Prozent.
Die Schweiz, die sich gerne als ländliche Idylle inszeniert und sich mit ein paar kopfsteinpflastrigen Städten wie Luzern oder Bern brüstet, ist in Wahrheit ein einziger mehr oder weniger verdichteter und miteinander verbundener Vorstadtwurm.
Nehmen wir Wallisellen. Ein Vorort von Zürich, im ganzen Land eines Kinderreims und eines Einkaufszentrums wegen bekannt.
Einzelne Gebäude unter die Lupe zu nehmen und zu kritisieren, wäre hier fehl am Platz, vielmehr geht es um den Gesamteindruck eines solchen Ortes.
Denn die Agglomeration zeichnet sich im Unterschied etwa zu einer historischen Altstadt dadurch aus, dass alles kreuz und quer nebeneinandersteht, als hätten Kleinkinder eine Stadt mit Buntstiften gemalt: Ein scheinbar konzeptloses Müesli an verschiedenen Bauten, mal hoch und schmal, mal lang und geduckt; dann eine viel zu grosse Villa neben einem Flachdachhaus aus den siebziger Jahren, in dessen Erdgeschoss sich ein Tierfutterdiscounter einmietete.
Wie entsteht so etwas?
Und: Hat da niemand ein Auge drauf?
Der renommierte Architekt Peter Zumthor hat in einem Interview über seinen Wohnort in Graubünden etwas Ähnliches festgestellt: «Städtebau scheint ein Fremdwort zu sein», sagte er dem «Süddeutsche Zeitung Magazin». «Ganz weit hinten in der Talenge sitzt das mittelalterliche Chur, und davor breitet sich ein konzeptloser Brei von Häusern aus.» Man habe den Eindruck, so Zumthor: «Wenn es um die architektonische Form der Stadt als eines Ganzen geht, hat sich hier niemand auch nur für fünf Rappen etwas überlegt.»
Regula Lüscher beschäftigt sich ihr ganzes Arbeitsleben mit solchen Überlegungen. Sie war vierzehn Jahre als Senatsbaudirektorin in Berlin tätig und zuständig für 1700 Mitarbeitende. Die Baslerin hat den Alexanderplatz geprägt, die Europacity am Berliner Hauptbahnhof, die Umnutzung des Flughafens Tegel. Sie hat Kritik einstecken müssen, wie jeder, der sich exponiert, denn beim Stadtbild verhält es sich wie beim Grillen: Jeder weiss es besser.
Jetzt steht sie in Wallisellen am Bahnhof. Seit sie sich entschieden hat, Berlin den Rücken zu kehren, lebt und arbeitet sie in Winterthur als Beraterin in Managementfragen, für Architektur und Stadtentwicklung, hat hier aber auch ein Atelier, in dem sie malt.
Sie kennt den Ort gut und sagt, während wir hoch zur Kirche laufen: «Es gibt Schlimmeres als Wallisellen.»
Fehlende Hingabe
Gemeinden stünden verschiedene Planungsinstrumente zur Verfügung, ein städtebauliches Leitbild, ein räumliches Entwicklungskonzept, Bau- und Zonenordnungen. «In den Verwaltungen sitzen Fachleute, die das Wachstum steuern, die auf Naturräume Rücksicht nehmen, sich für mehr Verdichtung einsetzen», sagt Lüscher.
In unzähligen Sitzungen also, so stellt man es sich zumindest vor, wird diskutiert, beraten und verbessert. Menschen, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als Pläne zu studieren und Grünflächen zu vermessen.
Doch steht man dann auf einer beliebigen Kreuzung, etwa an der Zentralstrasse, und blickt um sich, von links nach rechts und zurück, stellt man fest: Davon, dass hier irgendwer einen Überblick haben soll, dass hier jemand plant und analysiert, ist nichts zu spüren.
Es ist ein Ort, wie es in der Schweiz unendlich viele gibt. Regula Lüscher zeigt auf beide Strassenseiten: «Wir sehen ältere, dreigeschossige Häuser mit Vorgarten und ausladenden Satteldächern zur Rechten; zur Linken niedrige Neubauten, lieblose Fertighäuser ohne Sockel. Die Schmuckelemente, die man von alten Häusern kennt, kann man gar nicht mehr bezahlen», so Lüscher.
Vieles, was heute gebaut werde, entstünde industriell: vorgefertigte Wände, Kunststofffenster, Styropor mit billigem Verputz. Auch das zeichne Hässlichkeit aus, sagt Lüscher, die fehlende Liebe und Hingabe zum Detail, die renditeorientierte Massenproduktion und der Grad, wie die Gebäude in einer Strasse zueinanderpassten und Bezug aufeinander nähmen.
Man dürfe zwar auf seinem Privatgrundstück nicht einfach bauen, was man wolle. Der Verwaltung stehe der sogenannte Einordnungsparagraf zur Verfügung, der die Farbgebung eines Gebäudes und die Volumetrie mitbestimme. Aber am Ende suche man immer einen Kompromiss, auch deshalb herrsche in der Agglomeration der Eindruck, es sei alles zusammengewürfelt.
Zur hässlichen Wahrheit gehört auch: Jede Abweichung von der Norm, seien es ungewöhnliche Fassaden oder Konstruktionsweisen, zieht einen Bewilligungsmarathon bei den Behörden nach sich. Am Anfang vieler Bauprojekte war durchaus ein Wille vorhanden, etwas optisch Reizvolleres zu kreieren, was dann nicht nur am Geld, sondern an den Auflagen scheiterte.
Hat jeder Ort eine Seele? Lüscher: «Es ist die Aufgabe der Architektur, sie herzustellen.»
«Als Orte wie Wallisellen in den Nachkriegsjahren zu boomen begannen, hat ein anderer Zeitgeist geherrscht», beginnt Lüscher ihren Monolog über die Schweizer Städtebaugeschichte.
Man wollte autogerechte Städte, Einkaufsmöglichkeiten mit Parkfeldern, keine verkehrsberuhigten Zonen wie heute. «Die sechziger Jahre haben ihre Wurzeln im Städtebau der Moderne mit viel Licht, Luft und Grünräumen.» Die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen galt als miefig.
Es war die Zeit der funktionalen Entflechtung, die Orte wurden in Wohn- und Industriezonen unterteilt. Deshalb haben Vorstädte wie Wallisellen keine Zentren, wie wir sie von italienischen Dörfern so schätzen, keine Piazze mit Cafés, an denen man sich trifft, an denen sich Leben und Arbeiten vermischt.
Auch das trägt zur Hässlichkeit von Orten wie Wallisellen bei. Es wird einem gewahr, während man den Schnellstrassen entlang in Richtung Bahnhof schlendert, dass man sich nie zurechtfindet, sich nirgends geborgen und willkommen fühlt, es sei denn, man rettet sich ins Einkaufszentrum.
Plötzlich plätschern die Brunnen, aus den Lautsprechern singen die Vögel, man sitzt unter Plastikbäumen und isst Pizza. Das ist auch eine Lösung, dass man das schöne Leben und die menschlichen Begegnungen in die Malls verlagert, weil draussen die Stimulanzien fehlen. Aber wer will schon in Las Vegas leben?
Regula Lüscher steht jetzt am Bahnhof und sagt: «Wer mit dem Zug in Wallisellen ankommt, der steht als Erstes vor einer Kreuzung.»
Das sage viel über solche Orte aus: «Es sind immer die Autos, die alles zerstören. Sie mindern die Aufenthalts- und Lebensqualität und tragen zur Verschandelung bei.»
Die Hüslischweiz
Von Flims über Wallisellen geht es weiter nach Biel, einmal quer durchs Land. Benedikt Loderer, Architekt und Stadtwanderer, wohnt in einer 400 Jahre alten Wohnung in der verwinkelten Altstadt. Das Haus stülpt seine Geschichte nach aussen, man sieht nachträgliche Aufstockungen und zusätzliche Mauern, die infolge von Erbteilungen eingezogen wurden.
Seit 1950 hat es in diesem Quartier nur drei Neubauten gegeben. Schön und preisgünstig konnte es bleiben, weil der Bahnhof relativ weit weg ist. Wo der Bahnhof ist, ist die Kaufkraft. Deshalb ist die Gegend gut durchmischt, etwas, von dem Zürich nur träumen kann.
Loderer lebte, seit er aus dem Elternhaus auszog, in den Altstädten von Bern, Zürich und, seit ihn vor fünfzehn Jahren die Liebe und seine erste Heirat im Alter von 60 Jahren in den Westen verschlagen haben, eben in Biel.
«Die Altstadt ist das Vorbild für alles: fürs Soziale, für die Verdichtung, für die Wärmeisolation. Und ich kann in den Finken in die Apotheke. Nicht unwichtig in meinem Alter. So müsste es überall sein. Ist es leider ganz und gar nicht», sagt er.
Das Hässliche, den Standard in diesem Land, das will uns der Architekt, Gründer der Zeitschrift «Hochparterre» und heute, als Pensionist und Grüner, Parlamentspräsident in Biel, auf einem kleinen Ausflug zeigen. Es soll etwas sein, was seinen Satz illustriert: «Im Hüsli muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.» Das meint Loderer durchaus ironisch.
Wir fahren in den Jura, nach Bassecourt. Dort will uns der 78-Jährige seinen «persönlichen Albtraum» vorführen. Vierzig Minuten dauert die Zugfahrt. Loderer erzählt währenddessen von seinem Trauma.
Aufgewachsen ist er in Spiegel bei Bern, in einer Genossenschaftssiedlung der damaligen PTT. Sein «Père» konnte dort 1942 als Lückenbüsser eines der letzten Einfamilienhäuser erwerben. Für 42000 Franken.
Vor sieben Jahren, nach dem Tod der Eltern, verkauften die fünf Kinder das Haus für fast eineinhalb Millionen Franken. Es habe zwei Lösungen gegeben, sagt Loderer: «Die freisinnige, also so teuer wie möglich zu verkaufen. Oder die sozialdemokratische, das Haus an eine Familie mit Kindern zu geben. Zu unserem Glück hatte die freisinnige Lösung Kinder.»
Das war aber auch das einzige Glück, das das «Hüsli» Loderer brachte. Seine Kindheit und Jugend, die er in diesem Einfamilienhausquartier verbrachte, empfand er als «beengend» und «unfrei».
Und jetzt geht es wieder in so ein Quartier, wo sich der Traum des eigenen Hauses Bahn gebrochen hat. Doch im Gegensatz zu früher liegt dieser Traum weit draussen auf dem Land, weil es in der Stadt zu teuer wurde, so dass man lange Autofahrten auf sich nehmen muss.
«Aber die Menschen lieben das Pendeln mit dem Auto. Da dürfen sie in der Nase bohren, furzen und über die andern schimpfen. Das Auto ist für viele der letzte Ort der Freiheit – wie eben auch das eigene Häuschen. Dafür nehmen sie alles auf sich – und zerstören den letzten Rest des Bodens, den wir noch haben.»
Wir gehen durch die baulichen Jahrringe von Bassecourt: Der Kern besteht aus ein paar alten Bauten, doch in die Zwischenräume wurde diese gesichtslose Betonarchitektur gerammt.
Dann folgt der zweite Ring mit versprengten Villen und Einfamilienhäusern aus den 1950er, den 1960er Jahren und aus späteren Jahrzehnten. Allein über die Bedeutung und den Wandel des Balkons oder über das Aufkommen des Pizzaofens, dieses steingewordenen Schweizer Traums von Italianità, könnte man eine Doktorarbeit schreiben.
Dann steht man davor, Loderers Albtraum. Ein Einfamilienhaus neben dem andern, frisch aus dem Boden gestampft; die Bauparzellen sind klein und maximal ausgenutzt.
Auch wenn fast alle auf den ersten Blick verschieden aussehen, sind sie mit denselben Standards versehen: Doppelgaragen, Terrassen, die mit Sitzgruppe und Gasgrill verstellt sind, kleine Gärten, die von einem Rasenroboter bestellt werden. An den Aussenwänden hängen die Kästen der Klimaanlage.
Und wer Kinder hat, und das sind hier fast alle, hat ein Trampolin und ein Spielhäuschen aus Plastik draussen auf dem sehr begrenzten Grün parkiert. Immer auch dabei: das Insektenhotel, Zeichen mittelständischer Naturverbundenheit.
«Dem sagt man dann Individualismus», sagt Loderer. «Dabei ist das einfach nur hässlich, eintönig und billig. Das Zeug hält fünfzig Jahre, dann kann man es abreissen.» Er schüttelt den Kopf.
«Und um das zu finanzieren, haben sie einen Erbvorbezug gemacht, die Pensionsgelder verpfändet und eine riesige Hypothek aufgenommen. Ist ein freier Mensch, wer Hypothekarschulden hat, durch die Infrastruktur vom Staat schwer subventioniert ist und genauso wohnt wie der Nachbar?»
Es ist ein Wort, das das Leben und den Glauben Loderers zusammenfasst: Freiheit. Auch deshalb hat er keine Kinder, auch deshalb ist ihm dieses Neubaugebiet ein Graus. Die überraschende Begegnung findet hier nicht statt. «Dieser scheinbare Individualismus löst die Gesellschaft auf. Denn man ist nur unter seinesgleichen. Das Andere, das einen bereichern könnte, hält man sich vom Leib.»
Bevor er wieder zurück in seine Altstadt fährt, fragen wir noch etwas Letztes: Kann es eine schöne Schweiz mit steigender Bevölkerung geben mit all diesen Hüsli?
«Ja», sagt Loderer und entwirft sogleich eine Vision für die optimale Einfamilienhäuschen-Schweiz der Zukunft: «Wir müssen dort verdichten, wo es dünn ist: im Hüsliland. Das bedeutet: Wir erlauben das Ausbauen und das Aufstocken. Wir heben die Grenzabstände auf und erlauben das Zusammenbauen.»
Die Hüslimenschen, so Loderer, begännen dadurch die Ausnützungsreserven auszuschöpfen. «Die Eltern stocken auf und wohnen oben, die junge Familie der Tochter unten. Und für den Sohn gibt es vielleicht noch Platz für ein weiteres Hüsli.» Auch der Nachbar baue an. Die Hüslihalde werde aufgefüllt, sie wird schön, weil wild wie ein mediterranes Städtchen. «Und es gibt nur noch ein Verbot: Kein Hüsli darf abgerissen werden.»
Leben statt Rendite
Bleibt nur übrig, nach so viel Hässlichem auch das Schöne zu suchen, um zu verstehen, wie es anders ginge. Wo Schatten ist, ist Licht.
Fasst man die Spaziergänge mit den Experten und Expertinnen zusammen, müsste es ein Bau sein, der etwas wagt, der gut in der Landschaft liegt, mit Seele und Liebe zum Detail.
Eine Siedlung, die die Bewohner je nach ihren Vorlieben gestalten. Ein Ort, an dem nicht die Rendite zählt, sondern das Leben.
Um diesen Ort zu finden, muss man zurück nach Wallisellen in die Agglomeration, zum Richti-Areal: weisse Fassaden mit doppelgeschössigem Eingang, der so grosszügig wirkt, dass man sich in Mailand wähnt. Es braucht nicht viel, ein paar Bäume und Wege aus Kopfsteinpflaster, und plötzlich hebt sich die Stimmung: Es ist die Magie der Architektur.
Zwanzig Jahre lang war das eine Industriebrache, ein Niemandsland zwischen dem Glattzentrum und dem Bahnhof Wallisellen. Bis im Jahr 2014 Wohnungen und Geschäfte für über 1200 Menschen entstanden, gebaut nach einem Masterplan des italienischen Architekten Vittorio Magnago Lampugnani, der an der ETH lehrte und der beim Bau des Richti-Areals an die Menschen dachte, nicht die Autos.
Das Herz des Baus ist der Innenhof, eine grosse Blumenwiese mit Spielplatz und Bänken für die Älteren.
Die Wohnungen haben offene Balkone, es sind Fortsetzungen der Wohnräume, auf denen am Abend gegessen und gefeiert wird. Nachbarn prosten sich zu und zünden abends Kerzen an und farbige Lampions, die im lauen Nachtwind in alle Richtungen baumeln.
Na bitte, geht doch.
Nach vielleicht einer Stunde steigen die meisten aus, die Wanderstöcke in der Hand, das Postauto wartet schon.
Wieder diese anonymen Siedlungsklötze, während der gelbe Bus den Provinzbahnhof verlässt, die Schweiz wird immer gleichförmiger fad, dass einem das Sehen vergeht.
Lauter Nagelstudios und Handyanbieter in der Einkaufspassage, dafür gibt es in der verwaisten Industriezone am Rand des Orts neuerdings eine Trampolinhalle und ein Fashion-Outlet-Center im Chaletstil.
Jetzt kommen schon die ersten frechgelben Einfamilienhäuser mit Thujahecken am Hang, erste Kühe bimmeln, noch mehr Häuser mit Steingärten und Doppelgarage, bis der Bus sich in Serpentinen durch den aufgeräumten Wald kämpft und die Gruppe auf einer Anhöhe ausspuckt, worauf sich alle umblicken und sagen: Ach, wie schön es hier doch ist. Und diese Luft!
Natürlich ist die Schweiz ein schönes Land. Aber eben auch ein ganz schön hässliches.
Denn bis die Gruppe den Ausgangspunkt ihrer Wanderung erreicht, muss sie unzählige Bausünden hinter sich lassen, eine Abfolge visueller Ohrfeigen verkraften, einen Brei aus ideen- und seelenlosen Überbauungen ertragen.
Was in der Schweiz so an Gebäuden herumsteht, ist oft nur mit einem Wort zu beschreiben: Verbrechen. Wie ein Krebs frisst sich im Zuge der Verdichtung und der Profitmaximierung eine beeindruckende Eintönigkeit in die Hügel und Wiesen; erst waren davon nur die Orte neben der Autobahn befallen, aber jetzt metastasiert die Unart, Häuser mit guter Substanz abzureissen und durch Belangloses zu ersetzen, das aber die maximale Ausnutzungsziffer beansprucht, auch in bis anhin verschonte Gegenden.
Wir sind alle gut darin geworden, diese neugeschaffenen Nichtorte zu verdrängen auf unseren Ausflügen zu den Postkartendestinationen. Denn täten wir es nicht, wären wir am Ziel unserer Reise vor lauter in Beton gegossener Durchschnittsware regelrecht erschlagen.
Pierre de Meuron, einer der bekanntesten Architekten des Landes, antwortet auf die Frage, warum viele Gebäude optisch so unerträglich seien, er möge Städte lieber bei Nacht, weil dann all das Mediokre, das einem den Blick trübe, vom Dunkel zugedeckt werde. Und Jacques Herzog, sein Partner, sagt: «Nicht nur die Gebäude sind hässlich, sondern auch der Zwischenraum. Die Strassen, Plätze, Resträume.»
Ginge das nicht anders in einem Land, in dem jeder Quadratmeter zählt, weil es viele nicht sind?
Bomben aufs Land
In einem Newsletter dieser Zeitung mit dem etwas martialischen Titel «Was würden Sie gerne in die Luft jagen?» wurden die Leserinnen und Leser vor ein paar Monaten gefragt, welche Gebäude sie sich weggebombt wünschten, weil sie deren Anblick nicht länger ertrügen. Und die Antworten kamen im Sekundentakt.
Mal waren es Einzelgebäude, wie das Kongresshaus in Biel, das dem Erdboden gleichgemacht werden sollte.
Das Stadthaus von Olten.
Der Neumarkt in Brugg.
Der Flughafen Basel-Mülhausen.
Mal waren es all die erschreckend einfallslosen Bürohäuser rund um die Bahnhöfe mit ihren Brezelkönigfilialen, oder alle Neubaukirchen aus Sichtbeton.
Jemand schrieb: «Ganz Oftringen!» Ein anderer: «Alles, was nach 1960 gebaut wurde.»
Höchste Zeit, mit Experten und Expertinnen durchs Land zu reisen – mit der Frage im Gepäck, was denn genau Hässlichkeit ist. Und was ist schön?
Philip Ursprung, 61, ist Kunsthistoriker und Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH. Regelmässig entflieht er mit seinen Studentinnen und Studenten der Enge der Seminarräume in Zürich und bereist ausgewählte Orte.
Er wandert durch Täler Sloweniens, durch Industriezonen im amerikanischen Rust-Belt oder entlang der Autobahn im Schweizer Mittelland, um nicht nur zu verstehen, warum gebaut wird, wie eben gebaut wird, sondern um sich auch zu fragen, was die je spezifische Art der Gebäude mit uns macht.
Denn natürlich ist es nicht egal, wie wir wohnen und worauf wir blicken, wenn wir aus den Fenstern sehen. «Zuerst prägt der Mensch den Raum, dann prägt der Raum den Menschen», hat Winston Churchill einmal gesagt.
Man vergass die Menschen
Ursprung nimmt uns mit nach Flims, Graubünden, ein ehemaliges Bauerndorf, das seit den sechziger Jahren einen Wandel vollzog, den viele Orte in den Bergen kennen: Es musste gebaut werden für die nach holzgetäferten Zweitwohnungen lechzenden Stadtfamilien mit Golden Retriever im Gepäck und neonbunten Mountainbikes auf dem Autodach.
An den Hängen stehen die Stockwerkeigentumschalets in Reih und Glied und recken ihre Balkone wie Sonnenblumen ihre Blütenkörbe zum Licht. Aber ein eigentliches Zentrum fehlt, weil man in der ganzen Bauwut vielleicht vergass, dass Menschen nicht nur unter sich bleiben wollen, sondern sich auch gerne austauschen. Es gibt in Flims keine Treffpunkte, ausser ein paar Beizen, das macht den Ort so austauschbar.
Als am 6. Dezember 2018 nach vierjähriger Bauzeit die Stenna Flims eröffnet wurde, wollte man nachholen, was im Wachstum übersehen wurde: Ein «gemeinsamer Mittelpunkt» sollte entstehen, wie es in der Ausschreibung hiess, eine Begegnungs- und Einkaufszone «für die ganze Region»; ein Wahrzeichen – nebst der Landschaft – für ein neues Flimser Selbstverständnis: Wir sind mehr als ein Bergort, wollte man sagen, wir können auch Designhotel, Supermarkt, Gastronomie, Wellness und bisschen Grossstadtflair mit Avocadobowls – alles unter einem Dach.
Doch Philip Ursprung, der Architekturprofessor, ist sich da nicht so sicher. Kopfschüttelnd schaut er von aussen auf den Bau, der aussieht wie eine plattgedrückte Mundharmonika und wirkt, als hätte man einen rumänischen Provinzflughafen aus Ceausescus Zeiten in den Berg hineingerammt.
«Hässlichkeit hat mit Grössenverhältnissen zu tun. Und damit, wie das Gebäude in der Landschaft liegt», sagt er, während wir einmal um die Stenna streifen.
Die Flem rauscht unter dem Gebäude hindurch, nur leider hört man sie nur. Der Blick auf den Bach und das imposante Tobel, durch das sich das eiskalte Wasser frisst, ging bei der Planung, tja, vergessen.
«Man hätte einen tollen Bau errichten können, der die beiden Ortshälften verbindet», sagt Ursprung. Schönheit müsse nicht teuer sein, «aber hier ging alles in die Hose: von der Holzverschalung des Hotels, die auf gemütlich macht, bis hin zum Platz hinter dem Haus, den niemand nutzt. Dabei sollte dieser Bach doch eigentlich das Thema sein.»
Woran das liege? Zu viele verschiedene Ansprüche, gekoppelt mit dem Renditedruck. In der Schweiz müsse «jeder Zentimeter Geld abwerfen».
Dazu geselle sich eine Angst, sich zu exponieren, auch bei der Vergabe solch grosser Projekte: Weil ein Jurysystem entscheide, versinke am Ende alles im Schlamm der Mehrheitsfähigkeit, deshalb sei Beige so beliebt, sagt Ursprung, cosmic latte, der Farbton, der keinen stört, aber eben auch niemanden schert.
Die Konsensneurose dieses Landes führt in der Architektur dazu, dass überall austauschbare Einheitsware entsteht. Es ist dieses Mittelmass, von dem Pierre de Meuron sprach, das er nur in der Abenddämmerung erträgt. «Experimente werden kaum gewagt», sagt auch Ursprung, «der Pragmatismus hat das Sagen.»
«Autos zerstören alles»
Kommen wir zurück zu unserer imaginären Wandergruppe, die müde vom Laufen und leicht verschwitzt am Nachmittag mit dem Zug zurück nach Hause fährt und in der man sich gegenseitig Trockenfrüchte anbietet.
Die meisten von ihnen werden am Ende dieses Spätsommertages ihre Haustür irgendwo in der Agglomeration aufschliessen, dort wohnt die Mehrheit der Menschen – je nach Definition bis zu achtzig Prozent.
Die Schweiz, die sich gerne als ländliche Idylle inszeniert und sich mit ein paar kopfsteinpflastrigen Städten wie Luzern oder Bern brüstet, ist in Wahrheit ein einziger mehr oder weniger verdichteter und miteinander verbundener Vorstadtwurm.
Nehmen wir Wallisellen. Ein Vorort von Zürich, im ganzen Land eines Kinderreims und eines Einkaufszentrums wegen bekannt.
Einzelne Gebäude unter die Lupe zu nehmen und zu kritisieren, wäre hier fehl am Platz, vielmehr geht es um den Gesamteindruck eines solchen Ortes.
Denn die Agglomeration zeichnet sich im Unterschied etwa zu einer historischen Altstadt dadurch aus, dass alles kreuz und quer nebeneinandersteht, als hätten Kleinkinder eine Stadt mit Buntstiften gemalt: Ein scheinbar konzeptloses Müesli an verschiedenen Bauten, mal hoch und schmal, mal lang und geduckt; dann eine viel zu grosse Villa neben einem Flachdachhaus aus den siebziger Jahren, in dessen Erdgeschoss sich ein Tierfutterdiscounter einmietete.
Wie entsteht so etwas?
Und: Hat da niemand ein Auge drauf?
Der renommierte Architekt Peter Zumthor hat in einem Interview über seinen Wohnort in Graubünden etwas Ähnliches festgestellt: «Städtebau scheint ein Fremdwort zu sein», sagte er dem «Süddeutsche Zeitung Magazin». «Ganz weit hinten in der Talenge sitzt das mittelalterliche Chur, und davor breitet sich ein konzeptloser Brei von Häusern aus.» Man habe den Eindruck, so Zumthor: «Wenn es um die architektonische Form der Stadt als eines Ganzen geht, hat sich hier niemand auch nur für fünf Rappen etwas überlegt.»
Regula Lüscher beschäftigt sich ihr ganzes Arbeitsleben mit solchen Überlegungen. Sie war vierzehn Jahre als Senatsbaudirektorin in Berlin tätig und zuständig für 1700 Mitarbeitende. Die Baslerin hat den Alexanderplatz geprägt, die Europacity am Berliner Hauptbahnhof, die Umnutzung des Flughafens Tegel. Sie hat Kritik einstecken müssen, wie jeder, der sich exponiert, denn beim Stadtbild verhält es sich wie beim Grillen: Jeder weiss es besser.
Jetzt steht sie in Wallisellen am Bahnhof. Seit sie sich entschieden hat, Berlin den Rücken zu kehren, lebt und arbeitet sie in Winterthur als Beraterin in Managementfragen, für Architektur und Stadtentwicklung, hat hier aber auch ein Atelier, in dem sie malt.
Sie kennt den Ort gut und sagt, während wir hoch zur Kirche laufen: «Es gibt Schlimmeres als Wallisellen.»
Fehlende Hingabe
Gemeinden stünden verschiedene Planungsinstrumente zur Verfügung, ein städtebauliches Leitbild, ein räumliches Entwicklungskonzept, Bau- und Zonenordnungen. «In den Verwaltungen sitzen Fachleute, die das Wachstum steuern, die auf Naturräume Rücksicht nehmen, sich für mehr Verdichtung einsetzen», sagt Lüscher.
In unzähligen Sitzungen also, so stellt man es sich zumindest vor, wird diskutiert, beraten und verbessert. Menschen, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als Pläne zu studieren und Grünflächen zu vermessen.
Doch steht man dann auf einer beliebigen Kreuzung, etwa an der Zentralstrasse, und blickt um sich, von links nach rechts und zurück, stellt man fest: Davon, dass hier irgendwer einen Überblick haben soll, dass hier jemand plant und analysiert, ist nichts zu spüren.
Es ist ein Ort, wie es in der Schweiz unendlich viele gibt. Regula Lüscher zeigt auf beide Strassenseiten: «Wir sehen ältere, dreigeschossige Häuser mit Vorgarten und ausladenden Satteldächern zur Rechten; zur Linken niedrige Neubauten, lieblose Fertighäuser ohne Sockel. Die Schmuckelemente, die man von alten Häusern kennt, kann man gar nicht mehr bezahlen», so Lüscher.
Vieles, was heute gebaut werde, entstünde industriell: vorgefertigte Wände, Kunststofffenster, Styropor mit billigem Verputz. Auch das zeichne Hässlichkeit aus, sagt Lüscher, die fehlende Liebe und Hingabe zum Detail, die renditeorientierte Massenproduktion und der Grad, wie die Gebäude in einer Strasse zueinanderpassten und Bezug aufeinander nähmen.
Man dürfe zwar auf seinem Privatgrundstück nicht einfach bauen, was man wolle. Der Verwaltung stehe der sogenannte Einordnungsparagraf zur Verfügung, der die Farbgebung eines Gebäudes und die Volumetrie mitbestimme. Aber am Ende suche man immer einen Kompromiss, auch deshalb herrsche in der Agglomeration der Eindruck, es sei alles zusammengewürfelt.
Zur hässlichen Wahrheit gehört auch: Jede Abweichung von der Norm, seien es ungewöhnliche Fassaden oder Konstruktionsweisen, zieht einen Bewilligungsmarathon bei den Behörden nach sich. Am Anfang vieler Bauprojekte war durchaus ein Wille vorhanden, etwas optisch Reizvolleres zu kreieren, was dann nicht nur am Geld, sondern an den Auflagen scheiterte.
Hat jeder Ort eine Seele? Lüscher: «Es ist die Aufgabe der Architektur, sie herzustellen.»
«Als Orte wie Wallisellen in den Nachkriegsjahren zu boomen begannen, hat ein anderer Zeitgeist geherrscht», beginnt Lüscher ihren Monolog über die Schweizer Städtebaugeschichte.
Man wollte autogerechte Städte, Einkaufsmöglichkeiten mit Parkfeldern, keine verkehrsberuhigten Zonen wie heute. «Die sechziger Jahre haben ihre Wurzeln im Städtebau der Moderne mit viel Licht, Luft und Grünräumen.» Die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen galt als miefig.
Es war die Zeit der funktionalen Entflechtung, die Orte wurden in Wohn- und Industriezonen unterteilt. Deshalb haben Vorstädte wie Wallisellen keine Zentren, wie wir sie von italienischen Dörfern so schätzen, keine Piazze mit Cafés, an denen man sich trifft, an denen sich Leben und Arbeiten vermischt.
Auch das trägt zur Hässlichkeit von Orten wie Wallisellen bei. Es wird einem gewahr, während man den Schnellstrassen entlang in Richtung Bahnhof schlendert, dass man sich nie zurechtfindet, sich nirgends geborgen und willkommen fühlt, es sei denn, man rettet sich ins Einkaufszentrum.
Plötzlich plätschern die Brunnen, aus den Lautsprechern singen die Vögel, man sitzt unter Plastikbäumen und isst Pizza. Das ist auch eine Lösung, dass man das schöne Leben und die menschlichen Begegnungen in die Malls verlagert, weil draussen die Stimulanzien fehlen. Aber wer will schon in Las Vegas leben?
Regula Lüscher steht jetzt am Bahnhof und sagt: «Wer mit dem Zug in Wallisellen ankommt, der steht als Erstes vor einer Kreuzung.»
Das sage viel über solche Orte aus: «Es sind immer die Autos, die alles zerstören. Sie mindern die Aufenthalts- und Lebensqualität und tragen zur Verschandelung bei.»
Die Hüslischweiz
Von Flims über Wallisellen geht es weiter nach Biel, einmal quer durchs Land. Benedikt Loderer, Architekt und Stadtwanderer, wohnt in einer 400 Jahre alten Wohnung in der verwinkelten Altstadt. Das Haus stülpt seine Geschichte nach aussen, man sieht nachträgliche Aufstockungen und zusätzliche Mauern, die infolge von Erbteilungen eingezogen wurden.
Seit 1950 hat es in diesem Quartier nur drei Neubauten gegeben. Schön und preisgünstig konnte es bleiben, weil der Bahnhof relativ weit weg ist. Wo der Bahnhof ist, ist die Kaufkraft. Deshalb ist die Gegend gut durchmischt, etwas, von dem Zürich nur träumen kann.
Loderer lebte, seit er aus dem Elternhaus auszog, in den Altstädten von Bern, Zürich und, seit ihn vor fünfzehn Jahren die Liebe und seine erste Heirat im Alter von 60 Jahren in den Westen verschlagen haben, eben in Biel.
«Die Altstadt ist das Vorbild für alles: fürs Soziale, für die Verdichtung, für die Wärmeisolation. Und ich kann in den Finken in die Apotheke. Nicht unwichtig in meinem Alter. So müsste es überall sein. Ist es leider ganz und gar nicht», sagt er.
Das Hässliche, den Standard in diesem Land, das will uns der Architekt, Gründer der Zeitschrift «Hochparterre» und heute, als Pensionist und Grüner, Parlamentspräsident in Biel, auf einem kleinen Ausflug zeigen. Es soll etwas sein, was seinen Satz illustriert: «Im Hüsli muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.» Das meint Loderer durchaus ironisch.
Wir fahren in den Jura, nach Bassecourt. Dort will uns der 78-Jährige seinen «persönlichen Albtraum» vorführen. Vierzig Minuten dauert die Zugfahrt. Loderer erzählt währenddessen von seinem Trauma.
Aufgewachsen ist er in Spiegel bei Bern, in einer Genossenschaftssiedlung der damaligen PTT. Sein «Père» konnte dort 1942 als Lückenbüsser eines der letzten Einfamilienhäuser erwerben. Für 42000 Franken.
Vor sieben Jahren, nach dem Tod der Eltern, verkauften die fünf Kinder das Haus für fast eineinhalb Millionen Franken. Es habe zwei Lösungen gegeben, sagt Loderer: «Die freisinnige, also so teuer wie möglich zu verkaufen. Oder die sozialdemokratische, das Haus an eine Familie mit Kindern zu geben. Zu unserem Glück hatte die freisinnige Lösung Kinder.»
Das war aber auch das einzige Glück, das das «Hüsli» Loderer brachte. Seine Kindheit und Jugend, die er in diesem Einfamilienhausquartier verbrachte, empfand er als «beengend» und «unfrei».
Und jetzt geht es wieder in so ein Quartier, wo sich der Traum des eigenen Hauses Bahn gebrochen hat. Doch im Gegensatz zu früher liegt dieser Traum weit draussen auf dem Land, weil es in der Stadt zu teuer wurde, so dass man lange Autofahrten auf sich nehmen muss.
«Aber die Menschen lieben das Pendeln mit dem Auto. Da dürfen sie in der Nase bohren, furzen und über die andern schimpfen. Das Auto ist für viele der letzte Ort der Freiheit – wie eben auch das eigene Häuschen. Dafür nehmen sie alles auf sich – und zerstören den letzten Rest des Bodens, den wir noch haben.»
Wir gehen durch die baulichen Jahrringe von Bassecourt: Der Kern besteht aus ein paar alten Bauten, doch in die Zwischenräume wurde diese gesichtslose Betonarchitektur gerammt.
Dann folgt der zweite Ring mit versprengten Villen und Einfamilienhäusern aus den 1950er, den 1960er Jahren und aus späteren Jahrzehnten. Allein über die Bedeutung und den Wandel des Balkons oder über das Aufkommen des Pizzaofens, dieses steingewordenen Schweizer Traums von Italianità, könnte man eine Doktorarbeit schreiben.
Dann steht man davor, Loderers Albtraum. Ein Einfamilienhaus neben dem andern, frisch aus dem Boden gestampft; die Bauparzellen sind klein und maximal ausgenutzt.
Auch wenn fast alle auf den ersten Blick verschieden aussehen, sind sie mit denselben Standards versehen: Doppelgaragen, Terrassen, die mit Sitzgruppe und Gasgrill verstellt sind, kleine Gärten, die von einem Rasenroboter bestellt werden. An den Aussenwänden hängen die Kästen der Klimaanlage.
Und wer Kinder hat, und das sind hier fast alle, hat ein Trampolin und ein Spielhäuschen aus Plastik draussen auf dem sehr begrenzten Grün parkiert. Immer auch dabei: das Insektenhotel, Zeichen mittelständischer Naturverbundenheit.
«Dem sagt man dann Individualismus», sagt Loderer. «Dabei ist das einfach nur hässlich, eintönig und billig. Das Zeug hält fünfzig Jahre, dann kann man es abreissen.» Er schüttelt den Kopf.
«Und um das zu finanzieren, haben sie einen Erbvorbezug gemacht, die Pensionsgelder verpfändet und eine riesige Hypothek aufgenommen. Ist ein freier Mensch, wer Hypothekarschulden hat, durch die Infrastruktur vom Staat schwer subventioniert ist und genauso wohnt wie der Nachbar?»
Es ist ein Wort, das das Leben und den Glauben Loderers zusammenfasst: Freiheit. Auch deshalb hat er keine Kinder, auch deshalb ist ihm dieses Neubaugebiet ein Graus. Die überraschende Begegnung findet hier nicht statt. «Dieser scheinbare Individualismus löst die Gesellschaft auf. Denn man ist nur unter seinesgleichen. Das Andere, das einen bereichern könnte, hält man sich vom Leib.»
Bevor er wieder zurück in seine Altstadt fährt, fragen wir noch etwas Letztes: Kann es eine schöne Schweiz mit steigender Bevölkerung geben mit all diesen Hüsli?
«Ja», sagt Loderer und entwirft sogleich eine Vision für die optimale Einfamilienhäuschen-Schweiz der Zukunft: «Wir müssen dort verdichten, wo es dünn ist: im Hüsliland. Das bedeutet: Wir erlauben das Ausbauen und das Aufstocken. Wir heben die Grenzabstände auf und erlauben das Zusammenbauen.»
Die Hüslimenschen, so Loderer, begännen dadurch die Ausnützungsreserven auszuschöpfen. «Die Eltern stocken auf und wohnen oben, die junge Familie der Tochter unten. Und für den Sohn gibt es vielleicht noch Platz für ein weiteres Hüsli.» Auch der Nachbar baue an. Die Hüslihalde werde aufgefüllt, sie wird schön, weil wild wie ein mediterranes Städtchen. «Und es gibt nur noch ein Verbot: Kein Hüsli darf abgerissen werden.»
Leben statt Rendite
Bleibt nur übrig, nach so viel Hässlichem auch das Schöne zu suchen, um zu verstehen, wie es anders ginge. Wo Schatten ist, ist Licht.
Fasst man die Spaziergänge mit den Experten und Expertinnen zusammen, müsste es ein Bau sein, der etwas wagt, der gut in der Landschaft liegt, mit Seele und Liebe zum Detail.
Eine Siedlung, die die Bewohner je nach ihren Vorlieben gestalten. Ein Ort, an dem nicht die Rendite zählt, sondern das Leben.
Um diesen Ort zu finden, muss man zurück nach Wallisellen in die Agglomeration, zum Richti-Areal: weisse Fassaden mit doppelgeschössigem Eingang, der so grosszügig wirkt, dass man sich in Mailand wähnt. Es braucht nicht viel, ein paar Bäume und Wege aus Kopfsteinpflaster, und plötzlich hebt sich die Stimmung: Es ist die Magie der Architektur.
Zwanzig Jahre lang war das eine Industriebrache, ein Niemandsland zwischen dem Glattzentrum und dem Bahnhof Wallisellen. Bis im Jahr 2014 Wohnungen und Geschäfte für über 1200 Menschen entstanden, gebaut nach einem Masterplan des italienischen Architekten Vittorio Magnago Lampugnani, der an der ETH lehrte und der beim Bau des Richti-Areals an die Menschen dachte, nicht die Autos.
Das Herz des Baus ist der Innenhof, eine grosse Blumenwiese mit Spielplatz und Bänken für die Älteren.
Die Wohnungen haben offene Balkone, es sind Fortsetzungen der Wohnräume, auf denen am Abend gegessen und gefeiert wird. Nachbarn prosten sich zu und zünden abends Kerzen an und farbige Lampions, die im lauen Nachtwind in alle Richtungen baumeln.
Na bitte, geht doch.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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