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Sie planten gross und schauten nicht zurück – bis alles Geld weg war. Der Fall des Zürcher Kinderspitals
Die Geschichte hinter der Rettungsaktion für das grösste Kinderspital des Landes.
23. April 2024 - Marius Huber
Martin Vollenwyder steht plötzlich am Pranger. Der 70-jährige ehemalige Finanzvorsteher der Stadt Zürich ist das Gesicht des grössten Kinderspitals des Landes. Seit Anfang April bekanntgeworden ist, dass der Kanton die 150 Jahre alte Institution vor dem Kollaps retten muss, wird Vollenwyder an der Tramhaltestelle erkannt. Ein wildfremder Mann beschimpfte ihn dort kürzlich lauthals als Lügner. Andere ereifern sich über den pompösen Neubau oder fordern den Rücktritt der unfähigen Führung.
Wenn Monumente wanken, werden Menschen wütend. Das war bei der Swissair so, bei der Credit Suisse – und nun auch beim Kinderspital.
Umso wichtiger ist es, die Frage des Warum zu klären. Wie ist es so weit gekommen, dass das Kinderspital mit einer dreistelligen Millionensumme vom Staat gerettet werden musste?
1. Der Stararchitekten-Vorwurf
Ein wichtiger Teil der Geschichte spielt im Winter 2012: Im alten Zürcher Zeughaus sind die Mitglieder einer Fachjury versammelt, die auch Vertreter des Spitals umfasst. Es geht um eine zentrale Weichenstellung: den Neubau für das Kinderspital.
Seit Tagen, Wochen und Monaten hat sich die Jury immer wieder über Zeichnungen und Gipsmodelle gebeugt. Von ursprünglich fünfundzwanzig Teilnehmern des Architekturwettbewerbs sind noch fünf übrig – und unter diesen gibt es einen klaren Favoriten.
Noch ahnt ausserhalb dieses Raumes niemand, dass die Basler Stararchitekten Herzog & de Meuron das neue Spital bauen werden. Und erst recht nicht, dass der Betrieb wegen dieses Vorhabens zwölf Jahre später in bedrohliche Schieflage geraten würde.
Nun erhebt sich im Zwielicht des Zeughauses Martin Meuli. Das hat selbst hier den Effekt, als betrete er eine Bühne. Er ist eine imposante Erscheinung. Lange bevor er zum gefeierten Chefchirurgen am Kinderspital wurde, hatte er eine Karriere am Opernhaus in Aussicht – die Statur und das Theatralische sind ihm geblieben.
Jetzt wolle er doch einmal sehen, ob dieses neue Spital, das es erst auf dem Papier gibt, in der Praxis etwas tauge, sagt er in seinem Churer Dialekt. Er postiert sich vor den aufgehängten Plänen, bewegt sich im Geist durch die Räume, wendet sich hierhin und dorthin und greift nach Operationsbesteck, das nicht da ist. Dann dreht er sich zum Saal um. Letzter Akt, der Moment der Entscheidung.
Für die Architekten im Raum ist der Fall klar: Herzog & de Meuron schlagen die anderen um Längen. Einleuchtende Betriebsabläufe, eine heimelige, kindgerechte Atmosphäre mit viel Holz und Pflanzen, eine unverwechselbare Erscheinung – Sieger in allen Kategorien. Und weil ihr Entwurf obendrein kompakter ist als alle anderen, sollte er laut der Kostenschätzung eines Experten auch der günstigste sein.
«So eindeutig ist das nur selten», erinnert sich Patrick Gmür, der damalige Zürcher Stadtbaumeister, der die Jury präsidierte. «Es war, als ob Real Madrid in der Schweizer Super League angetreten wäre.»
Gmür ist es auch, der erzählt, wie der Chefchirurg Meuli an jenem Tag aus seiner imaginären Operation auftauchte und sein verblüfftes Urteil abgab: Auch er finde am Projekt von Herzog & de Meuron keinen Fehler. Die Jury entscheidet einstimmig.
Zwölf Jahre später klingt alles anders: Das Kinderspital habe sich aus Prestigegründen für Stararchitektur entschieden, ohne auf die Kosten zu achten. So lautet der Vorwurf, der in der Öffentlichkeit nun die Runde macht.
Zumal die Basler weltweit Negativschlagzeilen machten, weil ihre Elbphilharmonie in Hamburg um ein Vielfaches teurer wurde als prognostiziert.
Die damaligen Spitalverantwortlichen, die Teil der Jury waren, weisen zur Verteidigung gerne darauf hin, dass der Wettbewerb anonymisiert gewesen sei. So auch der damalige Präsident der Eleonorenstiftung, der privaten Betreiberin des Spitals, in einem Gastbeitrag in der NZZ. Tatsächlich trifft dies aber nur für die erste Phase des Wettbewerbs zu, in der entscheidenden zweiten Phase wird die Anonymisierung aufgehoben – und kein Mitbewerber hat annähernd das Renommee von Herzog & de Meuron.
Knapp zwei Jahre nach dem Entscheid für den Bau von Herzog & de Meuron übernimmt Martin Vollenwyder das Präsidium des Stiftungsrats. Ihm ist offenbar bewusst, dass die Wahl kritische Fragen aufwirft. Er sagt damals öffentlich, wenn man Architekten einfach machen lasse, habe man am Schluss «einen Superbau, aber ein finanzielles Fiasko». Deshalb holt er den Experten Heini Brugger und macht ihn zum Kopf der Baukommission. Brugger hatte in Basel den Bau der neuen Messe von Herzog & de Meuron beaufsichtigt – und war im Budget geblieben.
Fast noch wichtiger: Zuvor war in Basel bereits ein vielbeachteter Spitalbau der Stararchitekten realisiert worden, ohne dass die Kosten aus dem Ruder liefen: die Basler Rehab-Klinik, die mit ihren Holzfassaden, den grünen Höfen und dem Verzicht auf lange Fluchten zur Vorlage fürs neue Kispi wurde.
Ein bescheidener Bau ist das neue Kinderspital zwar nicht. Selbst einer der Architekten, die zu den Wettbewerbsverlierern gehörten, findet aber, dass Herzog & de Meuron die Aufgabe eindrücklich gelöst hätten – auch mit Blick auf die Kosten.
Unter jenen, die mit der Materie vertraut sind, herrscht Konsens: Stararchitektur ist nicht der Grund, weshalb die Kosten für den Neubau des Kinderspitals zum Problem wurden.
Die Wurzeln des Problems reichen tiefer.
2. Die Wunschliste
Es beginnt damit, dass der Neubau das geistige Kind einer alten Welt ist. Einer Welt, in der die Zürcher Spitäler – anders als heute – davon ausgehen durften, dass ihnen der Kanton ihre Bauten zahlt. Das Kinderspital bestellt, der Kanton übernimmt die Rechnung: So wird dies 2009 in einer Vereinbarung festgehalten. Und davon geht die Eleonorenstiftung, die private Betreiberin des Spitals, aus, als sie die Kosten für den Neubau ermittelt.
Dies geschieht im Jahr 2010, lange vor dem Architekturwettbewerb, bevor jemand überhaupt wissen kann, was dereinst genau gebaut wird. So stellte es Françoise de Vries später dar, die damals in der Stiftung die Baukommission leitete und die bis heute für die Finanzierung und die strategische Steuerung des Projektes zuständig ist.
Mit anderen Worten: Als die Baukosten Jahre später, nach dem Wettbewerb, auf 550 bis 600 Millionen Franken beziffert werden, hat dies nichts mit dem konkreten Bauprojekt zu tun. Die Kostenschätzung von 2010 basiert einzig auf der abstrakten Frage: Wie viel Platz braucht das Spital?
Um sie zu klären, hatten die Verantwortlichen der Eleonorenstiftung eine Strategie erarbeitet und daraus ein Raumprogramm abgeleitet. Ihre Antwort lautete: mehr von allem – 50 Prozent mehr Fläche, 25 Prozent mehr Betten, zusätzlicher Platz für Intensivpflege und Geburten. Einerseits, weil das Kispi am alten Standort aus allen Nähten platzt, andererseits, weil man in Zukunft mit einer weiteren Zunahme der Behandlungen rechnet.
Auch der zweite Arm des Kinderspitals, der oft vergessengeht, hatte offensichtlich Ansprüche, die sich im Budget niederschlagen: die wissenschaftliche Forschung, die eng mit der Universität verbunden ist. Sie bekommt neben dem neuen Spitalgebäude einen eigenen Neubau, der mit seinen aufeinandergestapelten weissen Scheiben ans Guggenheim-Museum in New York erinnert. Seine Dimensionen sprechen für sich.
Offen bleibt, ob die Bestellung besonders grosszügig ausfiel, weil man davon ausging, dass man quasi einen Blankocheck des Kantons habe. Der damalige Stiftungsratspräsident will sich nicht mehr dazu äussern.
Aber bald darauf ist ohnehin alles anders. Die alte Welt geht unter, und die Spitäler müssen sich in einer neuen Welt zurechtfinden. In einer, in der sie selbst für ihre Bauten aufkommen müssen und gleichzeitig die Erträge zurückgehen. Grund dafür ist das neue Spitalfinanzierungsgesetz. Dieses sieht vor, dass die Spitäler ihre Infrastruktur aus den Fallpauschalen selbst finanzieren müssen.
3. Neue Spielregeln
2015 ist fürs Kinderspital ein Schicksalsjahr. Es ist das Jahr, in dem Martin Vollenwyder, der neue Präsident, ins Risiko geht. Er bewegt den Stiftungsrat dazu, den Neubau trotz komplett veränderten Spielregeln wie geplant zu realisieren und das Geld dafür selbst aufzutreiben.
Kaum ist der Achitekturwettbewerb entschieden, lässt der Kanton durchblicken, dass er die Rechnung womöglich nicht wie vereinbart bezahlen werde. Später stellt er stattdessen ein Darlehen in Aussicht.
Vollenwyder gilt als Machertyp. Er hat ein ausgereiftes Bauprojekt in der Tasche, die Zinsen fallen, die Gelegenheit ist günstig. Geduld hat am Kinderspital niemand mehr, denn Neubaupläne wurden bereits in den Achtzigern gewälzt, sie scheiterten aber jedes Mal.
Diesmal muss es klappen. Als ehemaliger Banker und Finanzvorsteher der Stadt Zürich kennt sich Vollenwyder in der Finanzbranche aus. Also geht er an die Börse und platziert zwei Anleihen über 300 Millionen Franken, zudem sichert er dem Spital einen Kredit der ZKB.
Andere wären vielleicht davor zurückgeschreckt und über die Bücher gegangen. Denn als das 600-Millionen-Franken-Projekt 2010 aufgegleist worden war, ging der Stiftungsrat primär von den Bedürfnissen des Spitals aus. Die Tragbarkeit spielte eine Nebenrolle, weil der Kanton den Bau bezahlt hätte. Nun aber ist sie plötzlich zentral.
Vollenwyder sieht trotzdem keinen Anlass, das Projekt zu redimensionieren. Der Businessplan sei aufgegangen, sagt er. Und zwar, ohne dass man spitz habe rechnen müssen. Die Alternativen wären alle teurer geworden. Und was später kam – die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg –, habe niemand ahnen können.
Man könne ein Vorhaben dieser Komplexität nicht ändern, ohne viel Geld zu verlieren, sagt Vollenwyder. Er bemüht eine Bergsteiger-Metapher: «Irgendwann kommt der Punkt, an dem Umkehren das Gefährlichste ist.» Es gab am Kispi nur noch eine Richtung: vorwärts.
4. Die Existenzkrise
Zehn Jahre später, an Ostern 2024, stellt sich am Kinderspital die Frage: Tod oder Auferstehung? Am Gründonnerstag erhalten alle Mitglieder des Stiftungsrats eine kryptische E-Mail. Martin Vollenwyder lädt zu einer ausserordentlichen Sitzung. Die Kantonsregierung hat über eine überlebenswichtige Finanzhilfe fürs Spital entschieden – wie der Entscheid ausgefallen ist, steht nicht. Topsecret.
Gleich nach Ostern, einen Tag bevor die Sache öffentlich wird, treffen sich die Stiftungsräte in einem rosafarbenen Gebäude, das sonst für Schulungen genutzt wird. Nur gerade eineinviertel Stunden haben die Mitglieder Zeit, die 55 Seiten Jahres- und Finanzbericht zu prüfen, die ihnen vorgelegt werden.
Es ist der Höhepunkt einer Krise, die drei Jahre vorher Fahrt aufgenommen hat.
Im Juni 2021 trifft sich der Stiftungsrat ebenfalls zu einer ausserordentlichen Sitzung. Anlass: Der Neubau wird teurer als geplant. Vollenwyder informiert, dass die Kosten von 625 Millionen Franken auf 680 Millionen gestiegen sind und der Umzug sich um ein ganzes Jahr verzögert.
Die Pandemie hat das Kinderspital im Jahr zuvor voll getroffen. Es schreibt wie viele andere Krankenhäuser in der Schweiz ein Defizit. Wichtige Spendenanlässe fallen aus. Und auf der Baustelle für das neue Spital steht die Arbeit zeitweise still. Materialien sind nicht verfügbar oder nur zu höheren Preisen. Die Kosten schnellen in die Höhe.
Das ist für das Spital eigentlich nicht zu verkraften. In internen Diskussionen taucht darum ein Begriff auf, der die nächsten Jahre prägen wird: Impairment – eine ausserplanmässige Abschreibung.
Laut Peter Leibfried, Professor für Accounting an der Universität St. Gallen, kommt es zu einem Impairment, wenn sich unerwartet herausstellt, dass eine Investition zu einem höheren Betrag aufgeführt ist, als sie tatsächlich wert ist. Denn wert ist eine Investition – etwa ein Neubau – nicht, was sie gekostet hat, sondern nur so viel, wie sie über ihre Lebensdauer realistischerweise einbringen kann.
Wenn sich eine Investition plötzlich verteuert, driften die beiden Zahlen auseinander, die Bilanz gerät aus dem Lot. Die Geschäftsleitung muss die Differenz auf der Vermögensseite aus den Büchern streichen. Das bedeutet laut Leibfried: «Sie hat Geld vernichtet.»
Zwingend ist ein Impairment nicht, wenn sich ein Neubau verteuert. Es wird laut Leibfried nur dann notwendig, wenn es im Businessplan nicht genügend Luft hat. Wenn die budgetierten Baukosten also bereits so nahe an dem liegen, was der Bau eintragen kann, dass kaum mehr Kostensteigerungen drinliegen.
Und genau das ist das Problem des Kinderspitals. Von Anfang an wurde knapp kalkuliert. Dies geht aus einem Prüfbericht vom November 2015 hervor, den die Gesundheitsdirektion damals bei der Revisionsgesellschaft PwC in Auftrag gegeben hatte.
Das Kinderspital erwirtschaftet laut dem Bericht genug, um 500 Millionen Franken Fremdkapital verzinsen und amortisieren zu können. Weil der Neubau aber damals schon 600 Millionen kosten soll, kalkuliert die Stiftung 100 Millionen Franken ein, die sie durch Spenden und Eigenmittel decken will.
Das ist ein gewagter Plan, grössere Kostensteigerungen sieht er nicht vor. Doch genau damit sieht sich die Stiftung im Sommer 2021 konfrontiert. Sie muss also noch mehr Geld auftreiben, um die Löcher zu stopfen. Doch woher soll es kommen?
Einerseits will der Stiftungsrat noch stärker auf Spendenfang gehen. Das ohnehin schon hochgesteckte Ziel von 100 Millionen Franken wird sukzessive nach oben geschraubt: erst auf 125 Millionen, dann sogar auf 150 Millionen.
Andererseits muss das Spital das Stiftungsvermögen antasten. Damit beginnt jener Prozess, der das Kispi in Existenznöte stürzen wird. Zwischen 2019 und 2023 schmilzt das Vermögen dahin. Von einst 277 Millionen Franken sind im Dezember 2023 noch 62 Millionen übrig. Liegenschaften, die gute Mieteinnahmen generierten, werden verkauft.
Das Eigenkapital beträgt nur noch 10 Prozent – in einem gesunden Betrieb müssten es mindestens drei Mal so viel sein.
In der Krisensitzung vom Sommer 2021 glauben Vollenwyder und seine Mitstreiter noch, dass es ohne Staatshilfe geht. Doch auch der Stiftungsratspräsident weiss, wie eng die Sache ist. Teurer als 680 Millionen Franken darf der Neubau nicht werden. Nur: Es kommt noch viel schlimmer.
2022 steigen die Kosten weiter – auf 761 Millionen Franken. Von den anfänglichen 600 Millionen Franken hat sich das Kinderspital weit entfernt. Auf Druck des externen Wirtschaftsprüfers nimmt die Stiftung Impairments über insgesamt 265 Millionen Franken vor. Sie schiesst den Grossteil des Eigenkapitals sowie Spendengelder ein.
Im Mai 2023 wird die Situation allmählich kritisch. Martin Vollenwyder geht nach eigenen Angaben erstmals zur kantonalen Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli und warnt sie davor, dass das Spital möglicherweise Geld vom Kanton benötige.
Im Herbst geht es dann Schlag auf Schlag: Zuerst sagt der externe Wirtschaftsprüfer, es müsse sofort eine tragfähige Finanzierungslösung her, sonst könne er den Jahresabschluss nicht gutheissen – ein echtes Problem für ein Unternehmen, das an der Börse Anleihen platziert hat. Dann wird ein Krisenstab eingesetzt. Martin Vollenwyder organisiert von der ZKB einen Notkredit, um es wenigstens über das Jahresende zu schaffen. Schliesslich ersucht die Stiftung beim Kanton offiziell um finanzielle Hilfe.
Am Morgen des 4. Aprils 2024 tritt Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli vor die Medien und verkündet den Entscheid. Der Zürcher Regierungsrat gewährt für den Spitalbau ein zusätzliches Darlehen von 100 Millionen und spricht zudem 35 Millionen Franken Subventionen zur Deckung des Betriebsdefizits. Im Gegenzug muss sich die Stiftung durchleuchten lassen.
Die zentrale Frage, die sich stellt: Hätte die Stiftung anders handeln und die Krise abwenden können? Dazu hätte sie entweder mehr aus dem Betrieb rausholen oder die Baukosten senken müssen.
Den Betrieb effizienter zu machen und mehr Gewinn zu erzielen, kostet Zeit. Vollenwyder sagt, im labyrinthischen Altbau sei das schwierig. «Wie wollen Sie hier die Effizienz steigern? Unsere Ärzte legen bei der Arbeit täglich zum Teil 12 Kilometer zurück.»
Auch bei den Baukosten habe man gemacht, was möglich sei. Wenn Unternehmer etwa Preisaufschläge geltend machten, habe die Stiftung Einblick in ihre Bücher verlangt. So habe man etwa einen Betrieb erwischt, der ohne Anlass das Dreifache verlangte.
5. Die 200-Millionen-Franken-Frage
Die Hilfsaktion des Kantons rettet zwar den Neubau, doch ausgestanden ist die Krise für das Kinderspital nicht. Denn auch der Betrieb ist defizitär. Im letzten Jahr schrieb das Spital einen operativen Verlust von über 29 Millionen Franken. Solche Defizite kann sich das Kinderspital nicht leisten, weil es kaum mehr Eigenkapital hat, um die Löcher zu stopfen. Und das ist nicht alles: In vier Jahren muss es auch noch eine Anleihe über 200 Millionen Franken refinanzieren.
Damit nicht bald schon die nächste staatliche Rettung nötig wird, muss das Spital schnell wieder schwarze Zahlen schreiben. Der Businessplan, der den Weg dahin aufzeigt, ist laut den Wirtschaftsprüfern erreichbar, aber «ambitioniert».
Für den Accounting-Professor Leibfried ist klar, was dies in einem solchen Kontext heisst: Es besteht ein nennenswertes Risiko, dass es anders kommt. Als Prüfer wolle man ein Unternehmen nicht unnötig behindern. «Das führt dazu, dass Revisoren an die Grenzen dessen gehen, was nach den berufsüblichen Standards noch vertretbar ist.»
Der Stiftungsratspräsident Vollenwyder versichert, dass die Prüfer genau hingeschaut hätten. Immerhin seien die Revisionsgesellschaft des Kinderspitals und die vom Kanton beauftragten Prüfer zum gleichen Resultat gekommen. Die Ziele seien zweifellos ambitioniert, räumt er ein, aber: «Man kann nicht nicht ambitioniert sein.»
Martin Vollenwyder hatte früher in seinem Stadtratsbüro einen Sinnspruch hängen: «Ein Optimist sieht in einem Problem eine Aufgabe. Ein Pessimist sieht in einer Aufgabe ein Problem.» Es ist keine Frage, wo er sich selbst einreihen würde.
Wenn Monumente wanken, werden Menschen wütend. Das war bei der Swissair so, bei der Credit Suisse – und nun auch beim Kinderspital.
Umso wichtiger ist es, die Frage des Warum zu klären. Wie ist es so weit gekommen, dass das Kinderspital mit einer dreistelligen Millionensumme vom Staat gerettet werden musste?
1. Der Stararchitekten-Vorwurf
Ein wichtiger Teil der Geschichte spielt im Winter 2012: Im alten Zürcher Zeughaus sind die Mitglieder einer Fachjury versammelt, die auch Vertreter des Spitals umfasst. Es geht um eine zentrale Weichenstellung: den Neubau für das Kinderspital.
Seit Tagen, Wochen und Monaten hat sich die Jury immer wieder über Zeichnungen und Gipsmodelle gebeugt. Von ursprünglich fünfundzwanzig Teilnehmern des Architekturwettbewerbs sind noch fünf übrig – und unter diesen gibt es einen klaren Favoriten.
Noch ahnt ausserhalb dieses Raumes niemand, dass die Basler Stararchitekten Herzog & de Meuron das neue Spital bauen werden. Und erst recht nicht, dass der Betrieb wegen dieses Vorhabens zwölf Jahre später in bedrohliche Schieflage geraten würde.
Nun erhebt sich im Zwielicht des Zeughauses Martin Meuli. Das hat selbst hier den Effekt, als betrete er eine Bühne. Er ist eine imposante Erscheinung. Lange bevor er zum gefeierten Chefchirurgen am Kinderspital wurde, hatte er eine Karriere am Opernhaus in Aussicht – die Statur und das Theatralische sind ihm geblieben.
Jetzt wolle er doch einmal sehen, ob dieses neue Spital, das es erst auf dem Papier gibt, in der Praxis etwas tauge, sagt er in seinem Churer Dialekt. Er postiert sich vor den aufgehängten Plänen, bewegt sich im Geist durch die Räume, wendet sich hierhin und dorthin und greift nach Operationsbesteck, das nicht da ist. Dann dreht er sich zum Saal um. Letzter Akt, der Moment der Entscheidung.
Für die Architekten im Raum ist der Fall klar: Herzog & de Meuron schlagen die anderen um Längen. Einleuchtende Betriebsabläufe, eine heimelige, kindgerechte Atmosphäre mit viel Holz und Pflanzen, eine unverwechselbare Erscheinung – Sieger in allen Kategorien. Und weil ihr Entwurf obendrein kompakter ist als alle anderen, sollte er laut der Kostenschätzung eines Experten auch der günstigste sein.
«So eindeutig ist das nur selten», erinnert sich Patrick Gmür, der damalige Zürcher Stadtbaumeister, der die Jury präsidierte. «Es war, als ob Real Madrid in der Schweizer Super League angetreten wäre.»
Gmür ist es auch, der erzählt, wie der Chefchirurg Meuli an jenem Tag aus seiner imaginären Operation auftauchte und sein verblüfftes Urteil abgab: Auch er finde am Projekt von Herzog & de Meuron keinen Fehler. Die Jury entscheidet einstimmig.
Zwölf Jahre später klingt alles anders: Das Kinderspital habe sich aus Prestigegründen für Stararchitektur entschieden, ohne auf die Kosten zu achten. So lautet der Vorwurf, der in der Öffentlichkeit nun die Runde macht.
Zumal die Basler weltweit Negativschlagzeilen machten, weil ihre Elbphilharmonie in Hamburg um ein Vielfaches teurer wurde als prognostiziert.
Die damaligen Spitalverantwortlichen, die Teil der Jury waren, weisen zur Verteidigung gerne darauf hin, dass der Wettbewerb anonymisiert gewesen sei. So auch der damalige Präsident der Eleonorenstiftung, der privaten Betreiberin des Spitals, in einem Gastbeitrag in der NZZ. Tatsächlich trifft dies aber nur für die erste Phase des Wettbewerbs zu, in der entscheidenden zweiten Phase wird die Anonymisierung aufgehoben – und kein Mitbewerber hat annähernd das Renommee von Herzog & de Meuron.
Knapp zwei Jahre nach dem Entscheid für den Bau von Herzog & de Meuron übernimmt Martin Vollenwyder das Präsidium des Stiftungsrats. Ihm ist offenbar bewusst, dass die Wahl kritische Fragen aufwirft. Er sagt damals öffentlich, wenn man Architekten einfach machen lasse, habe man am Schluss «einen Superbau, aber ein finanzielles Fiasko». Deshalb holt er den Experten Heini Brugger und macht ihn zum Kopf der Baukommission. Brugger hatte in Basel den Bau der neuen Messe von Herzog & de Meuron beaufsichtigt – und war im Budget geblieben.
Fast noch wichtiger: Zuvor war in Basel bereits ein vielbeachteter Spitalbau der Stararchitekten realisiert worden, ohne dass die Kosten aus dem Ruder liefen: die Basler Rehab-Klinik, die mit ihren Holzfassaden, den grünen Höfen und dem Verzicht auf lange Fluchten zur Vorlage fürs neue Kispi wurde.
Ein bescheidener Bau ist das neue Kinderspital zwar nicht. Selbst einer der Architekten, die zu den Wettbewerbsverlierern gehörten, findet aber, dass Herzog & de Meuron die Aufgabe eindrücklich gelöst hätten – auch mit Blick auf die Kosten.
Unter jenen, die mit der Materie vertraut sind, herrscht Konsens: Stararchitektur ist nicht der Grund, weshalb die Kosten für den Neubau des Kinderspitals zum Problem wurden.
Die Wurzeln des Problems reichen tiefer.
2. Die Wunschliste
Es beginnt damit, dass der Neubau das geistige Kind einer alten Welt ist. Einer Welt, in der die Zürcher Spitäler – anders als heute – davon ausgehen durften, dass ihnen der Kanton ihre Bauten zahlt. Das Kinderspital bestellt, der Kanton übernimmt die Rechnung: So wird dies 2009 in einer Vereinbarung festgehalten. Und davon geht die Eleonorenstiftung, die private Betreiberin des Spitals, aus, als sie die Kosten für den Neubau ermittelt.
Dies geschieht im Jahr 2010, lange vor dem Architekturwettbewerb, bevor jemand überhaupt wissen kann, was dereinst genau gebaut wird. So stellte es Françoise de Vries später dar, die damals in der Stiftung die Baukommission leitete und die bis heute für die Finanzierung und die strategische Steuerung des Projektes zuständig ist.
Mit anderen Worten: Als die Baukosten Jahre später, nach dem Wettbewerb, auf 550 bis 600 Millionen Franken beziffert werden, hat dies nichts mit dem konkreten Bauprojekt zu tun. Die Kostenschätzung von 2010 basiert einzig auf der abstrakten Frage: Wie viel Platz braucht das Spital?
Um sie zu klären, hatten die Verantwortlichen der Eleonorenstiftung eine Strategie erarbeitet und daraus ein Raumprogramm abgeleitet. Ihre Antwort lautete: mehr von allem – 50 Prozent mehr Fläche, 25 Prozent mehr Betten, zusätzlicher Platz für Intensivpflege und Geburten. Einerseits, weil das Kispi am alten Standort aus allen Nähten platzt, andererseits, weil man in Zukunft mit einer weiteren Zunahme der Behandlungen rechnet.
Auch der zweite Arm des Kinderspitals, der oft vergessengeht, hatte offensichtlich Ansprüche, die sich im Budget niederschlagen: die wissenschaftliche Forschung, die eng mit der Universität verbunden ist. Sie bekommt neben dem neuen Spitalgebäude einen eigenen Neubau, der mit seinen aufeinandergestapelten weissen Scheiben ans Guggenheim-Museum in New York erinnert. Seine Dimensionen sprechen für sich.
Offen bleibt, ob die Bestellung besonders grosszügig ausfiel, weil man davon ausging, dass man quasi einen Blankocheck des Kantons habe. Der damalige Stiftungsratspräsident will sich nicht mehr dazu äussern.
Aber bald darauf ist ohnehin alles anders. Die alte Welt geht unter, und die Spitäler müssen sich in einer neuen Welt zurechtfinden. In einer, in der sie selbst für ihre Bauten aufkommen müssen und gleichzeitig die Erträge zurückgehen. Grund dafür ist das neue Spitalfinanzierungsgesetz. Dieses sieht vor, dass die Spitäler ihre Infrastruktur aus den Fallpauschalen selbst finanzieren müssen.
3. Neue Spielregeln
2015 ist fürs Kinderspital ein Schicksalsjahr. Es ist das Jahr, in dem Martin Vollenwyder, der neue Präsident, ins Risiko geht. Er bewegt den Stiftungsrat dazu, den Neubau trotz komplett veränderten Spielregeln wie geplant zu realisieren und das Geld dafür selbst aufzutreiben.
Kaum ist der Achitekturwettbewerb entschieden, lässt der Kanton durchblicken, dass er die Rechnung womöglich nicht wie vereinbart bezahlen werde. Später stellt er stattdessen ein Darlehen in Aussicht.
Vollenwyder gilt als Machertyp. Er hat ein ausgereiftes Bauprojekt in der Tasche, die Zinsen fallen, die Gelegenheit ist günstig. Geduld hat am Kinderspital niemand mehr, denn Neubaupläne wurden bereits in den Achtzigern gewälzt, sie scheiterten aber jedes Mal.
Diesmal muss es klappen. Als ehemaliger Banker und Finanzvorsteher der Stadt Zürich kennt sich Vollenwyder in der Finanzbranche aus. Also geht er an die Börse und platziert zwei Anleihen über 300 Millionen Franken, zudem sichert er dem Spital einen Kredit der ZKB.
Andere wären vielleicht davor zurückgeschreckt und über die Bücher gegangen. Denn als das 600-Millionen-Franken-Projekt 2010 aufgegleist worden war, ging der Stiftungsrat primär von den Bedürfnissen des Spitals aus. Die Tragbarkeit spielte eine Nebenrolle, weil der Kanton den Bau bezahlt hätte. Nun aber ist sie plötzlich zentral.
Vollenwyder sieht trotzdem keinen Anlass, das Projekt zu redimensionieren. Der Businessplan sei aufgegangen, sagt er. Und zwar, ohne dass man spitz habe rechnen müssen. Die Alternativen wären alle teurer geworden. Und was später kam – die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg –, habe niemand ahnen können.
Man könne ein Vorhaben dieser Komplexität nicht ändern, ohne viel Geld zu verlieren, sagt Vollenwyder. Er bemüht eine Bergsteiger-Metapher: «Irgendwann kommt der Punkt, an dem Umkehren das Gefährlichste ist.» Es gab am Kispi nur noch eine Richtung: vorwärts.
4. Die Existenzkrise
Zehn Jahre später, an Ostern 2024, stellt sich am Kinderspital die Frage: Tod oder Auferstehung? Am Gründonnerstag erhalten alle Mitglieder des Stiftungsrats eine kryptische E-Mail. Martin Vollenwyder lädt zu einer ausserordentlichen Sitzung. Die Kantonsregierung hat über eine überlebenswichtige Finanzhilfe fürs Spital entschieden – wie der Entscheid ausgefallen ist, steht nicht. Topsecret.
Gleich nach Ostern, einen Tag bevor die Sache öffentlich wird, treffen sich die Stiftungsräte in einem rosafarbenen Gebäude, das sonst für Schulungen genutzt wird. Nur gerade eineinviertel Stunden haben die Mitglieder Zeit, die 55 Seiten Jahres- und Finanzbericht zu prüfen, die ihnen vorgelegt werden.
Es ist der Höhepunkt einer Krise, die drei Jahre vorher Fahrt aufgenommen hat.
Im Juni 2021 trifft sich der Stiftungsrat ebenfalls zu einer ausserordentlichen Sitzung. Anlass: Der Neubau wird teurer als geplant. Vollenwyder informiert, dass die Kosten von 625 Millionen Franken auf 680 Millionen gestiegen sind und der Umzug sich um ein ganzes Jahr verzögert.
Die Pandemie hat das Kinderspital im Jahr zuvor voll getroffen. Es schreibt wie viele andere Krankenhäuser in der Schweiz ein Defizit. Wichtige Spendenanlässe fallen aus. Und auf der Baustelle für das neue Spital steht die Arbeit zeitweise still. Materialien sind nicht verfügbar oder nur zu höheren Preisen. Die Kosten schnellen in die Höhe.
Das ist für das Spital eigentlich nicht zu verkraften. In internen Diskussionen taucht darum ein Begriff auf, der die nächsten Jahre prägen wird: Impairment – eine ausserplanmässige Abschreibung.
Laut Peter Leibfried, Professor für Accounting an der Universität St. Gallen, kommt es zu einem Impairment, wenn sich unerwartet herausstellt, dass eine Investition zu einem höheren Betrag aufgeführt ist, als sie tatsächlich wert ist. Denn wert ist eine Investition – etwa ein Neubau – nicht, was sie gekostet hat, sondern nur so viel, wie sie über ihre Lebensdauer realistischerweise einbringen kann.
Wenn sich eine Investition plötzlich verteuert, driften die beiden Zahlen auseinander, die Bilanz gerät aus dem Lot. Die Geschäftsleitung muss die Differenz auf der Vermögensseite aus den Büchern streichen. Das bedeutet laut Leibfried: «Sie hat Geld vernichtet.»
Zwingend ist ein Impairment nicht, wenn sich ein Neubau verteuert. Es wird laut Leibfried nur dann notwendig, wenn es im Businessplan nicht genügend Luft hat. Wenn die budgetierten Baukosten also bereits so nahe an dem liegen, was der Bau eintragen kann, dass kaum mehr Kostensteigerungen drinliegen.
Und genau das ist das Problem des Kinderspitals. Von Anfang an wurde knapp kalkuliert. Dies geht aus einem Prüfbericht vom November 2015 hervor, den die Gesundheitsdirektion damals bei der Revisionsgesellschaft PwC in Auftrag gegeben hatte.
Das Kinderspital erwirtschaftet laut dem Bericht genug, um 500 Millionen Franken Fremdkapital verzinsen und amortisieren zu können. Weil der Neubau aber damals schon 600 Millionen kosten soll, kalkuliert die Stiftung 100 Millionen Franken ein, die sie durch Spenden und Eigenmittel decken will.
Das ist ein gewagter Plan, grössere Kostensteigerungen sieht er nicht vor. Doch genau damit sieht sich die Stiftung im Sommer 2021 konfrontiert. Sie muss also noch mehr Geld auftreiben, um die Löcher zu stopfen. Doch woher soll es kommen?
Einerseits will der Stiftungsrat noch stärker auf Spendenfang gehen. Das ohnehin schon hochgesteckte Ziel von 100 Millionen Franken wird sukzessive nach oben geschraubt: erst auf 125 Millionen, dann sogar auf 150 Millionen.
Andererseits muss das Spital das Stiftungsvermögen antasten. Damit beginnt jener Prozess, der das Kispi in Existenznöte stürzen wird. Zwischen 2019 und 2023 schmilzt das Vermögen dahin. Von einst 277 Millionen Franken sind im Dezember 2023 noch 62 Millionen übrig. Liegenschaften, die gute Mieteinnahmen generierten, werden verkauft.
Das Eigenkapital beträgt nur noch 10 Prozent – in einem gesunden Betrieb müssten es mindestens drei Mal so viel sein.
In der Krisensitzung vom Sommer 2021 glauben Vollenwyder und seine Mitstreiter noch, dass es ohne Staatshilfe geht. Doch auch der Stiftungsratspräsident weiss, wie eng die Sache ist. Teurer als 680 Millionen Franken darf der Neubau nicht werden. Nur: Es kommt noch viel schlimmer.
2022 steigen die Kosten weiter – auf 761 Millionen Franken. Von den anfänglichen 600 Millionen Franken hat sich das Kinderspital weit entfernt. Auf Druck des externen Wirtschaftsprüfers nimmt die Stiftung Impairments über insgesamt 265 Millionen Franken vor. Sie schiesst den Grossteil des Eigenkapitals sowie Spendengelder ein.
Im Mai 2023 wird die Situation allmählich kritisch. Martin Vollenwyder geht nach eigenen Angaben erstmals zur kantonalen Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli und warnt sie davor, dass das Spital möglicherweise Geld vom Kanton benötige.
Im Herbst geht es dann Schlag auf Schlag: Zuerst sagt der externe Wirtschaftsprüfer, es müsse sofort eine tragfähige Finanzierungslösung her, sonst könne er den Jahresabschluss nicht gutheissen – ein echtes Problem für ein Unternehmen, das an der Börse Anleihen platziert hat. Dann wird ein Krisenstab eingesetzt. Martin Vollenwyder organisiert von der ZKB einen Notkredit, um es wenigstens über das Jahresende zu schaffen. Schliesslich ersucht die Stiftung beim Kanton offiziell um finanzielle Hilfe.
Am Morgen des 4. Aprils 2024 tritt Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli vor die Medien und verkündet den Entscheid. Der Zürcher Regierungsrat gewährt für den Spitalbau ein zusätzliches Darlehen von 100 Millionen und spricht zudem 35 Millionen Franken Subventionen zur Deckung des Betriebsdefizits. Im Gegenzug muss sich die Stiftung durchleuchten lassen.
Die zentrale Frage, die sich stellt: Hätte die Stiftung anders handeln und die Krise abwenden können? Dazu hätte sie entweder mehr aus dem Betrieb rausholen oder die Baukosten senken müssen.
Den Betrieb effizienter zu machen und mehr Gewinn zu erzielen, kostet Zeit. Vollenwyder sagt, im labyrinthischen Altbau sei das schwierig. «Wie wollen Sie hier die Effizienz steigern? Unsere Ärzte legen bei der Arbeit täglich zum Teil 12 Kilometer zurück.»
Auch bei den Baukosten habe man gemacht, was möglich sei. Wenn Unternehmer etwa Preisaufschläge geltend machten, habe die Stiftung Einblick in ihre Bücher verlangt. So habe man etwa einen Betrieb erwischt, der ohne Anlass das Dreifache verlangte.
5. Die 200-Millionen-Franken-Frage
Die Hilfsaktion des Kantons rettet zwar den Neubau, doch ausgestanden ist die Krise für das Kinderspital nicht. Denn auch der Betrieb ist defizitär. Im letzten Jahr schrieb das Spital einen operativen Verlust von über 29 Millionen Franken. Solche Defizite kann sich das Kinderspital nicht leisten, weil es kaum mehr Eigenkapital hat, um die Löcher zu stopfen. Und das ist nicht alles: In vier Jahren muss es auch noch eine Anleihe über 200 Millionen Franken refinanzieren.
Damit nicht bald schon die nächste staatliche Rettung nötig wird, muss das Spital schnell wieder schwarze Zahlen schreiben. Der Businessplan, der den Weg dahin aufzeigt, ist laut den Wirtschaftsprüfern erreichbar, aber «ambitioniert».
Für den Accounting-Professor Leibfried ist klar, was dies in einem solchen Kontext heisst: Es besteht ein nennenswertes Risiko, dass es anders kommt. Als Prüfer wolle man ein Unternehmen nicht unnötig behindern. «Das führt dazu, dass Revisoren an die Grenzen dessen gehen, was nach den berufsüblichen Standards noch vertretbar ist.»
Der Stiftungsratspräsident Vollenwyder versichert, dass die Prüfer genau hingeschaut hätten. Immerhin seien die Revisionsgesellschaft des Kinderspitals und die vom Kanton beauftragten Prüfer zum gleichen Resultat gekommen. Die Ziele seien zweifellos ambitioniert, räumt er ein, aber: «Man kann nicht nicht ambitioniert sein.»
Martin Vollenwyder hatte früher in seinem Stadtratsbüro einen Sinnspruch hängen: «Ein Optimist sieht in einem Problem eine Aufgabe. Ein Pessimist sieht in einer Aufgabe ein Problem.» Es ist keine Frage, wo er sich selbst einreihen würde.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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