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In den Siebzigern lebten wir auch nicht schlecht
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Rurale Baukultur zwischen Tradition und Innovation: Das Symposium „Interventa“ in Hallstatt verfehlt sein Thema – zum Glück.

4. Oktober 2024 - Christian Kühn
Wenngleich das Jahr noch nicht zu Ende ist, lässt sich eines schon mit Sicherheit sagen: Das Salzkammergut zur Europäischen Kulturhauptstadt 2024 zu erklären war ein voller Erfolg. International hat schon die Idee, ein ländliches, von grandioser Landschaft geprägtes Gebiet als Kulturraum zu präsentieren, Aufmerksamkeit erregt.

Dass es dem von Elisabeth Schweeger geleiteten Festival gelang, kompromisslos hinter die Idylle zu blicken, gab dem Unternehmen Glaubwürdigkeit: die Überreste der NS-Diktatur, die in der angeblichen Alpenfestung unter dem menschenverachtenden Einsatz von Zwangsarbeitern Rüstungsgüter produzierte; aber auch die Salzgewinnung, die sich bei genauerer Betrachtung als dramatischer Raubbau an den Wäldern der Region darstellt, die in immer weiterem Umkreis abgeholzt wurden, um die gigantischen Sudpfannen zu befeuern. Unsere Rücksichtslosigkeit im Umgang mit natürlichen Ressourcen hat tiefe Wurzeln.

Halleins kulturelle Ressourcen

Auch der öffentliche Raum ist eine solche Ressource, die durch überbordenden Touris­mus an die Grenze der Erschöpfung gerät: Hallstatt mit seinen 750 Einwohnern und 1,4 Mio. Touristen pro Jahr ist dafür ein international bekanntes Beispiel, das die Gratwanderung zwischen Freilichtmuseum und zeitgenössischer Lebenswelt zu meistern versucht. Die Stadt kann dabei auf eigene kulturelle Ressourcen zurückgreifen, die 2024 eine Präsenz bekommen haben, die zu vorsichtigem Optimismus berechtigt.

Die Tatsache, dass es in Hallstatt eine international renommierte HTL für Holzverarbeitung gibt, die Spezialisierungen von der Tischlerei über den Boots- bis zum Musikinstrumentenbau anbietet und auf letzterem Gebiet auch in der Forschung erfolgreich ist, trägt dazu bei. Die gelungenen, von Riccione Architekten geplanten Erweiterungsbauten der HTL, die sich gerade in Fertigstellung befinden, sind ein deutliches ­Zeichen des Vertrauens in die Region.

Schwimmende Plattform mit Sauna

Die Veranstaltungen des Kulturhauptstadtjahres ergeben eine dichte, von vier Programmlinien – GlobaLokal, Kultur im Fluss, Macht und Tradition, Sharing Salzkammergut – durchzogene Landschaft, in der es nicht leicht ist, den Überblick zu wahren. Programmleiterin für die Themen Architektur, Baukultur und Handwerk war Eva Mair, die auf Kooperationen mit Studierenden setzte, etwa mit der Kunstuniversität in Linz, den Universitäten Innsbruck und Kassel sowie der TU Wien, die vor Ort kleine Projekte umsetzten. Das auf dem Traunsee schwimmende Inselgefüge der Kunstuni Linz, vom Publikum v. a. in seiner Funktion als Sauna wahrgenommen, wird in Erinnerung bleiben.

Den diskursiven Höhepunkt der Architekturveranstaltungen im Kulturhauptstadtjahr bildete ein viertägiges Symposium unter dem Titel „Interventa“, das von Marie Therese Harnoncourt-Fuchs und Sabine Kienzer kuratiert wurde. Die Namensähnlichkeit mit der Kasseler Documenta ist kein Zufall. Harnoncourt-Fuchs ist an der dortigen Universität Professorin für Entwerfen und Gebäudelehre. Das Programm machte mit der oft beschworenen transdisziplinären Durchmischung ernst. Zu den Themen Neue Lebenswelten, Identität, Kreisläufe, Raumproduktion und Mobilität trafen Architekten und Planer auf Ökonomen und Philosophen, Künstler und Musiker auf Agronomen und Komplexitätsforscher.

Neben den zahlreichen österreichischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem Architekturbereich wa­ren als internationale Gäste unter anderem Anna Heringer, Yasmeen Lari und Xu Tiantian geladen, die neben kurzen Werkvorträgen auch abwechselnd in Podiumsdiskussionen im Einsatz waren. Die 83-jährige Yasmeen Lari ist in Österreich seit einer Ausstellung im AzW 2023 als heimlicher Star der Weltarchitektur bekannt. Im Westen ausgebildet und jahrzehntelang als erste Architektin Pakistans in der Logik eines repräsentativen Modernismus tätig, veränderte sie nach dem großen Erdbeben 2005 ihre Praxis radikal in Richtung eines ökologisch orientierten Selbstbaus, der Nutzer nicht zu Almosenempfängern macht, sondern sie dazu ermächtigt, in eigener Sache tätig zu werden.

Architektur und Raumplanung sind entscheidend für das Schicksal der Welt: Das zeige sich, so Lari, schon daran, dass elf der 17 Sustainable Development Goals der UNO eng mit diesen Praxisfeldern verknüpft sind. Wo, fragt Lari, sind die Architekt:innen, die sich wirklich darum kümmern? Anna Heringer und Xu Tiantian sind mehr als eine Generation jünger als Lari und biografisch ohne die Kehrtwende unterwegs, aus der Lari ihre besondere Energie bezieht. Heringer hat sich mit herausragenden Lehmbauten einen Namen gemacht, einem Material, an dessen Einsatz in unterschiedlichen Kontexten sie bis heute arbeitet.

Tofu-Fabrik als konkrete Utopie

Bei der Interventa forderte sie mit dem Slogan „Form Follows Love“ zu mehr Empathie auf, eine sehr breite Generalisierung ihrer bekannten Forderung, nur architektonische Lösungen zu akzeptieren, die mit dem Wohlergehen aller acht Mrd. Menschen, die derzeit unseren Planeten bevölkern, vereinbar sind. Xu Tiantians bekanntestes Projekt ist eine Tofu-Fabrik in einer ländlichen Region Chinas, ein leichter Holzbau mit eleganten Details, der die Lebenswelt der Dorfbewohner, die ihre Produkte davor individuell und nun genossenschaftlich herstellten, radikal verändert hat. Das Projekt ist eine konkrete Utopie, die sich weiterentwickelt, zuletzt mit einem eigenen Pavillon für Schulklassen.

Die Projekte von Lari, Heringer und Xu ha­ben eins gemeinsam: Sie definieren sich nicht durch ihre Position auf der Achse zwischen Tradition und Innovation, sondern verlangen eine radikal neue, innovationsorientierte Architektur. Der Untertitel der Interventa, ein „Symposium über Rurale Baukultur zwischen Tradition und Innovation“ zu sein, wird so obsolet. Das Rurale ist nicht weniger innovativ als das Städtische und darf sogar den Anspruch haben, Letzteres so lange zu befruchten, bis daraus etwas Neues entstanden ist.

Wie dringend es wäre, dieses unbekannte Neue als Gesellschaftsform zu erfinden, machte der erste Vortrag des Symposiums klar. Die deutsche Bestsellerautorin Ulrike Herrmann erläuterte ihre These, dass Klimaschutz nur durch Schrumpfen der weltweiten wirtschaftlichen Aktivität möglich sei, da sich mit heutigen Technologien nicht ausreichend Ökostrom herstellen lasse. Da der Kapitalismus ein System sei, das nur im Wachstumsmodus funktioniere, bedeute die Klimakrise sein Ende. Ein System, das ihn ersetzt, müsste in der Lage sein, unser materielles Wohlstandsniveau auf das Niveau der späten 1970er-Jahre abzusenken, ohne zu einer Spaltung der Gesellschaft zu führen.

Wie ein neues System aussehen müsse, dem das glückt, konnte Herrmann nur andeuten. Dass es einen hohen Anteil an Planwirtschaft enthalten würde, ist aber klar. Baukultur wird auch in diesem System, wie im Kapitalismus, eine zentrale Rolle spielen, als Verbraucher von Ressourcen, aber zugleich als Medium gesellschaftlicher Veränderung. Wie auch immer sich die Koalitionsverhandlungen gestalten: Klima, Umwelt und Baukultur sollten am Tisch sitzen und eine Stimme haben.

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