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Klingeling, Haus Nummer 4711
Immer mehr Menschen wollen auch im hohen Alter selbstbestimmt und in lustiger Gemeinschaft wohnen. Das ist ein Auftrag an Politik, Architektur und Wohnungswirtschaft. Zu Besuch bei Elisabeth, Georg, Maria, Freya und Iris.
19. Oktober 2024 - Wojciech Czaja
Es gibt Mohntorte mit Himbeeren und Biskuitroulade mit Marillenmarmelade, dazu einen ganzen Becher frischen Schlagobers. Und eine gehörige Portion Zensur auf den Artikel. „Sie dürfen alles schreiben, was wir Ihnen erzählen und wovon Sie sich selbst ein Bild machen konnten“, sagt die Frau mit dem roten Pulli und dem roten Schal. „Wir freuen uns über jede Publikation, die dem Thema dienlich ist, aber wehe, wir lesen in der Zeitung unser Alter! Schreiben Sie einfach, dass wir bereits reichlich Lebenserfahrung haben.“
Nun denn, von links nach rechts: Elisabeth Kaposi, Georg Barta, Maria Steiner, Vereinsobfrau Freya Brandl und Iris Schmiedbauer sind nicht mehr die Jüngsten. Aber als sie es noch waren, damals, vor zehn Jahren, entstand die Idee, eines Tages eine Art Alters-WG zu bewohnen, mit Menschen in ihrem dritten Lebensalter, Tür an Tür unter ihres- und seinesgleichen, so wie in all den zuvor besichtigten Senioren-WGs in Berlin, in Schottland, in den Niederlanden – und so gründete man gemeinsam den Verein Kolokation.
Zu Beginn noch machte man sich auf die Suche nach einem Altbau, nach einer großen Gründerzeitwohnung oder einer Okkasion irgendwo im Hinterhof. Doch der freie Markt und die weitaus lukrativeren Konkurrenzangebote von gewerblichen Developern machten dem Plan einen Strich durch die Rechnung. Und so schnappte sich der Verein einen gemeinnützigen Wohnbauträger und fungierte mit einer Absichtserklärung – einem sogenannten Letter of Intent – als partnerschaftlicher Trittbrettfahrer in einem von der Stadt Wien ausgelobten Bauträger-Wettbewerb.
Reduktion gegen Lebensende
Freya wohnte früher, nachdem ihr Mann verstorben war, allein in einem Reihenhaus. Maria war in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Baden daheim, mit über einer Stunde Anfahrt zu ihren heißgeliebten Tangonächten in Wien. Und Elisabeth hatte eines Tages den inneren Wunsch, sich nach einem wilden, künstlerisch verdichteten Leben wieder gesundzuschrumpfen. „Wir können unseren Kindern nach dem Tod ja nicht hunderte Quadratmeter voller Zeug hinterlassen“, sagt sie. „Das wäre ja eine Zumutung! Die Reduktion gegen Lebensende ist Teil der eigenen Verantwortung.“
Vor allem aber sehnten sie sich alle nach einem Leben in Gemeinschaft. Nach einer Nachbarschaft mit Sympathie und Empathie. Nach einem sozialen Gefüge, in dem man sich nicht dafür entschuldigen muss, wenn man einmal Hilfe benötigt, weil man Arthrose hat oder im Rollstuhl durchs Leben fährt. Fündig wurde der Verein im Sonnwendviertel, in einem vom gemeinnützigen Bauträger EGW errichteten Wohnhaus am Helmut-Zilk-Park. Die Kolokation-WG nimmt den gesamten zweiten Stock ein und umfasst 15 Wohnungen für insgesamt 17 Personen. Dazu gibt es einen 100 Quadratmeter großen Gemeinschaftsraum mit Küche, Sofas, Fauteuils, einem fünf Meter langen Esstisch und einer Wand voller Bücher und DVDs.
21,2 Prozent aller EU-Bürger sind älter als 65 Jahre. Zurückzuführen ist das demografische Phänomen vor allem auf den medizinischen Fortschritt, auf den zunehmenden Wohlstand in Europa sowie auf ein generell steigendes Bewusstsein für Lebensqualität und selbstwirksame Lebensgestaltung. Und der Prozess ist noch lange nicht zu Ende. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) prognostiziert, dass der Anteil der über 65-Jährigen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 31,3 Prozent hochklettern wird.
Das Beunruhigende an diesen Aussichten ist nicht die größer werdende Gruppe der 4711-Echt-Kölnisch-Wasser-Fraktion, sondern die fehlende politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. „Die alten Menschen sind alles andere als eine homogene Gruppe mit einheitlichen Lebens- und Wohnvorstellungen“, sagt der Schweizer Soziologe und Generationenforscher François Höpflinger. „Dies gilt insbesondere für jene Menschen, die lebenslang gelernt haben, ihre Individualität zu pflegen. Dementsprechend sind alle Lebens- und Wohnprojekte, die von einem einheitlichen Typ älterer Menschen ausgehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.“
Während sich die Bundes- und Landespolitik in den letzten Jahren also vor allem auf das Thema Pflege fokussiert hat (und dabei andere Entwicklungen und Bedürfnisse der Babyboomer-Generation verschlafen hat), entstanden auf Gemeinde- und Vereinsebene zahlreiche innovative Wohn- und Kooperationsmodelle – von der Omama-Wohngruppe über Co-Housing-Projekte bis hin zu Plattformen und intergenerativen Serviceleistungen. Ein paar Dutzend davon sind nun in der kürzlich eröffneten Ausstellung Wie geht’s, Alter? im Architekturforum Oberösterreich (AFO) zu sehen.
„Das halb leerstehende Einfamilienhaus befeuert die Einsamkeit und Zersiedelung und ist die allerschlechteste Lösung“, sagt AFO-Leiter Franz Koppelstätter. „Vor allem im ländlichen Raum gibt es große Wechselwirkungen zwischen Senioren und der Revitalisierung von Dorfzentren und öffentlichen Freiräumen, denn während junge Leute Tag für Tag zum Lernen und Arbeiten in die Stadt auspendeln, sind es meist genau diese älteren Menschen, die aufgrund ihres kleineren Mobilitätsradius im besten Fall das Dorf am Leben erhalten – vorausgesetzt natürlich, es gibt entsprechend attraktive Wohn- und Lebenskonzepte.“
Herzblut-Angelegenheiten
In Kleinzell im Mühlkreis ist es gelungen, unter dem Titel Wohnen mit Service einen alten Vierkanthof zu kaufen und mit interessierten Senioren partizipativ zu entwickeln, Besiedelung ab April 2025. Die Herbstzeit GmbH vermittelt ältere, meist einsame Menschen in Gastfamilien, die bereit sind, ihr Zuhause mit einer Ersatzoma, einem Ersatzopa zu teilen. Und die Plattform Wohnbuddy schaut sich nach leerstehenden Zimmern in Seniorenheimen um und vermittelt diese zu einem günstigen Mietpreis an Studierende – unter der Voraussetzung, dass diese ihren weitaus älteren Nachbarinnen und Nachbarn für ein paar Stunden die Woche als Buddy für Gespräche und diverse Hilfsdienste zur Verfügung stehen.
In Wien plant der Verein Kolokation die mittlerweile vierte Senioren-WG, und in Salzburg baut der Verein Silberstreif mit rund 35 Leuten und dem Bauträger Heimat Österreich eine Seniorenwohngruppe im Wohnprojekt Gnice, Einzug im Sommer 2026. Was sowohl Kolokation als auch AFO-Leiter Franz Koppelstätter fordern: „Bislang handelt es sich bei allen Projekten um Einzelinitiativen und Herzblut-Angelegenheiten einiger weniger Akteure. Was definitiv fehlt, sind Informations- und Beratungsstellen im Rathaus – und die politische Bereitschaft, den geförderten, gemeinnützigen Wohnbau um eine neue Varianz zu bereichern.“
„Wie geht’s, Alter? Gemeinsam Räume für die Zukunft schaffen“ im Architekturforum Oberösterreich (AFO) in Linz. Zu sehen bis 13. Dezember 2024.
Nun denn, von links nach rechts: Elisabeth Kaposi, Georg Barta, Maria Steiner, Vereinsobfrau Freya Brandl und Iris Schmiedbauer sind nicht mehr die Jüngsten. Aber als sie es noch waren, damals, vor zehn Jahren, entstand die Idee, eines Tages eine Art Alters-WG zu bewohnen, mit Menschen in ihrem dritten Lebensalter, Tür an Tür unter ihres- und seinesgleichen, so wie in all den zuvor besichtigten Senioren-WGs in Berlin, in Schottland, in den Niederlanden – und so gründete man gemeinsam den Verein Kolokation.
Zu Beginn noch machte man sich auf die Suche nach einem Altbau, nach einer großen Gründerzeitwohnung oder einer Okkasion irgendwo im Hinterhof. Doch der freie Markt und die weitaus lukrativeren Konkurrenzangebote von gewerblichen Developern machten dem Plan einen Strich durch die Rechnung. Und so schnappte sich der Verein einen gemeinnützigen Wohnbauträger und fungierte mit einer Absichtserklärung – einem sogenannten Letter of Intent – als partnerschaftlicher Trittbrettfahrer in einem von der Stadt Wien ausgelobten Bauträger-Wettbewerb.
Reduktion gegen Lebensende
Freya wohnte früher, nachdem ihr Mann verstorben war, allein in einem Reihenhaus. Maria war in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Baden daheim, mit über einer Stunde Anfahrt zu ihren heißgeliebten Tangonächten in Wien. Und Elisabeth hatte eines Tages den inneren Wunsch, sich nach einem wilden, künstlerisch verdichteten Leben wieder gesundzuschrumpfen. „Wir können unseren Kindern nach dem Tod ja nicht hunderte Quadratmeter voller Zeug hinterlassen“, sagt sie. „Das wäre ja eine Zumutung! Die Reduktion gegen Lebensende ist Teil der eigenen Verantwortung.“
Vor allem aber sehnten sie sich alle nach einem Leben in Gemeinschaft. Nach einer Nachbarschaft mit Sympathie und Empathie. Nach einem sozialen Gefüge, in dem man sich nicht dafür entschuldigen muss, wenn man einmal Hilfe benötigt, weil man Arthrose hat oder im Rollstuhl durchs Leben fährt. Fündig wurde der Verein im Sonnwendviertel, in einem vom gemeinnützigen Bauträger EGW errichteten Wohnhaus am Helmut-Zilk-Park. Die Kolokation-WG nimmt den gesamten zweiten Stock ein und umfasst 15 Wohnungen für insgesamt 17 Personen. Dazu gibt es einen 100 Quadratmeter großen Gemeinschaftsraum mit Küche, Sofas, Fauteuils, einem fünf Meter langen Esstisch und einer Wand voller Bücher und DVDs.
21,2 Prozent aller EU-Bürger sind älter als 65 Jahre. Zurückzuführen ist das demografische Phänomen vor allem auf den medizinischen Fortschritt, auf den zunehmenden Wohlstand in Europa sowie auf ein generell steigendes Bewusstsein für Lebensqualität und selbstwirksame Lebensgestaltung. Und der Prozess ist noch lange nicht zu Ende. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Statistischen Amtes der Europäischen Union (Eurostat) prognostiziert, dass der Anteil der über 65-Jährigen bis zum Ende des Jahrhunderts auf 31,3 Prozent hochklettern wird.
Das Beunruhigende an diesen Aussichten ist nicht die größer werdende Gruppe der 4711-Echt-Kölnisch-Wasser-Fraktion, sondern die fehlende politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema. „Die alten Menschen sind alles andere als eine homogene Gruppe mit einheitlichen Lebens- und Wohnvorstellungen“, sagt der Schweizer Soziologe und Generationenforscher François Höpflinger. „Dies gilt insbesondere für jene Menschen, die lebenslang gelernt haben, ihre Individualität zu pflegen. Dementsprechend sind alle Lebens- und Wohnprojekte, die von einem einheitlichen Typ älterer Menschen ausgehen, von vornherein zum Scheitern verurteilt.“
Während sich die Bundes- und Landespolitik in den letzten Jahren also vor allem auf das Thema Pflege fokussiert hat (und dabei andere Entwicklungen und Bedürfnisse der Babyboomer-Generation verschlafen hat), entstanden auf Gemeinde- und Vereinsebene zahlreiche innovative Wohn- und Kooperationsmodelle – von der Omama-Wohngruppe über Co-Housing-Projekte bis hin zu Plattformen und intergenerativen Serviceleistungen. Ein paar Dutzend davon sind nun in der kürzlich eröffneten Ausstellung Wie geht’s, Alter? im Architekturforum Oberösterreich (AFO) zu sehen.
„Das halb leerstehende Einfamilienhaus befeuert die Einsamkeit und Zersiedelung und ist die allerschlechteste Lösung“, sagt AFO-Leiter Franz Koppelstätter. „Vor allem im ländlichen Raum gibt es große Wechselwirkungen zwischen Senioren und der Revitalisierung von Dorfzentren und öffentlichen Freiräumen, denn während junge Leute Tag für Tag zum Lernen und Arbeiten in die Stadt auspendeln, sind es meist genau diese älteren Menschen, die aufgrund ihres kleineren Mobilitätsradius im besten Fall das Dorf am Leben erhalten – vorausgesetzt natürlich, es gibt entsprechend attraktive Wohn- und Lebenskonzepte.“
Herzblut-Angelegenheiten
In Kleinzell im Mühlkreis ist es gelungen, unter dem Titel Wohnen mit Service einen alten Vierkanthof zu kaufen und mit interessierten Senioren partizipativ zu entwickeln, Besiedelung ab April 2025. Die Herbstzeit GmbH vermittelt ältere, meist einsame Menschen in Gastfamilien, die bereit sind, ihr Zuhause mit einer Ersatzoma, einem Ersatzopa zu teilen. Und die Plattform Wohnbuddy schaut sich nach leerstehenden Zimmern in Seniorenheimen um und vermittelt diese zu einem günstigen Mietpreis an Studierende – unter der Voraussetzung, dass diese ihren weitaus älteren Nachbarinnen und Nachbarn für ein paar Stunden die Woche als Buddy für Gespräche und diverse Hilfsdienste zur Verfügung stehen.
In Wien plant der Verein Kolokation die mittlerweile vierte Senioren-WG, und in Salzburg baut der Verein Silberstreif mit rund 35 Leuten und dem Bauträger Heimat Österreich eine Seniorenwohngruppe im Wohnprojekt Gnice, Einzug im Sommer 2026. Was sowohl Kolokation als auch AFO-Leiter Franz Koppelstätter fordern: „Bislang handelt es sich bei allen Projekten um Einzelinitiativen und Herzblut-Angelegenheiten einiger weniger Akteure. Was definitiv fehlt, sind Informations- und Beratungsstellen im Rathaus – und die politische Bereitschaft, den geförderten, gemeinnützigen Wohnbau um eine neue Varianz zu bereichern.“
„Wie geht’s, Alter? Gemeinsam Räume für die Zukunft schaffen“ im Architekturforum Oberösterreich (AFO) in Linz. Zu sehen bis 13. Dezember 2024.
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