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Was, wenn was passiert!
Die Angst vor dem Worst Case beeinflusst immer mehr die Planung von Architektur und Stadt. Doch dieses „form follows fear“ und seine Haftungsfragen-Ästhetik sind nicht nur hässlich, sondern auch nutzlos gegen den größten Worst Case der Gegenwart.
2. November 2024 - Maik Novotny
Am Anfang der Mariahilfer Straße, acht Uhr früh. Eine Kolonne weißer Lieferwagen versucht sich im Aufwärts-Riesenslalom, wie jeden Morgen. Eine Kolonne von Rad- und Scooterfahrern schlängelt sich in Gegenrichtung an ihnen vorbei. Fußgängerinnen und Fußgänger quetschen sich an den Straßenrand oder kreuzen mutig das Gewühl. Sollte der Rohbau des Kaufhauses Lamarr wieder zum Leben erwachen, wird auch der Schwerlastverkehr in diesem Verkehrsballett auf engstem Raum mitmachen, das Tag für Tag mit haarscharfen Fast-Kollisionen aufwartet.
Dabei war das alles ganz anders geplant, nämlich ohne das, was den Riesenslalom verursacht: vier stählerne Poller, mit rot-weiß-rot reflektierender Markierung als österreichische Poller ausgewiesen, und in die Begegnungszonenfahrbahn hineingerückte Betonpflanztröge. Am anderen Ende der Begegnungszone, beim Westbahnhof, dasselbe Bild, derselbe Slalom. Schön sieht das nicht aus.
Tröge und Poller
Die Tröge und Poller stehen hier aus einem Grund: Angst. Sie wurden installiert, weil jemand die Wahrscheinlichkeit einer Terrorattacke mit Lastwagen kalkulierte. Nach den Anschlägen in Paris, Nizza, Barcelona, London, Manchester und Stockholm publizierte die EU 2017 einen Aktionsplan zum Schutz öffentlicher Räume. In Wien bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Stadtbaudirektion und Landespolizeidirektion, die Rammangriffe per Lkw als „wesentliches Bedrohungselement“ identifizierte. Rathausplatz, Kärntner Straße und Mariahilfer Straße wurden verpollert, das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz ebenso. Danach bestand dort offensichtlich immer noch Restgefahr, denn heute sind auch die Zwischenräume zwischen den Pollern mit mobilen Metallzäunen versperrt.
Auch private Initiativen mischen mit: In der Bognergasse im ersten Bezirk wuchert seit diesem Jahr diverses Kraut aus drei ovalen Betontrögen. Es wuchert wegen der Angst, denn die Tröge wurden installiert, damit sich die Gäste des Schwarzen Kameels und des Park Hyatt sicherer fühlen und wurden von deren Eigentümern finanziert. Die Stadt hatte keinen Einwand gegen die Installierung von Betonovalen im historischen Zentrum und keine Änderungswünsche bezüglich deren Gestaltung. Laut Magistratsabteilung 28 (Straßenverwaltung und Straßenbau) sind sie „Teil eines übergeordneten Sicherheitskonzepts für die Innere Stadt, das in Zusammenarbeit von Polizei, Stadt, privaten Unternehmen und auf Empfehlung des Rechnungshofs erstellt wurde“. So sehen sie auch aus.
Diese Ästhetik der Angst, entstanden aus einem Denken in Worst-Case-Szenarien, beeinflusst unsere gebaute Umwelt immer mehr, und mit den gebauten Ergebnissen und ihrer traurigen Botschaft muss die Bevölkerung Tag für Tag leben. Oft erscheinen sie in der Praxis hinderlicher und riskanter als die theoretische Gefahr, der sie ihre Existenz verdanken. Würde ein Terrorist, der in entschlossenem Furor einen Rammangriff plant, angesichts von vier Pollern wirklich enttäuscht umkehren und den Lkw wieder in die Garage stellen?
Verteidigung und Abwehr als Grundprinzipien der Stadtgestaltung sind nicht neu, schließlich verdankte auch das Wiener Glacis seine Existenz und seine räumliche Dimension dem kalkulierten Worst Case „Beschuss mit Kanone“. Heute ist es der Terror, der die Städte zum Hindernisparcours werden lässt, aber auch gegen die Vulnerablen der Gesellschaft werden Verteidigungsgeschütze einer „Hostile Architecture“ aufgefahren. Abschnittsweise portionierte Sitzbänke und dornenübersäte Oberflächen, deren wesentliches Designprinzip ist, das Darauf-Schlafen zu verhindern. Dass das schön ist, behaupten wohl nicht einmal jene, die das planen und genehmigen.
Im Jahr 2017 zeigte die Ausstellung Form folgt Paragraf im Architekturzentrum Wien die unsichtbaren Regelwerke hinter dem Aussehen der gebauten Umwelt, dabei spielte die Vollkaskomentalität eines Haftungsfragendesigns, das sich gegen Schadenersatzklagen absichern will und muss, eine zentrale Rolle. Die Ausstellung erfuhr zu Recht große Aufmerksamkeit, aber eine Trendumkehr ist seither nicht festzustellen, im Gegenteil. Neben „form follows law“ scheint auch „form follows fear“ heute fest im Alltag verankert zu sein.
Das bestätigt auch eine Rundfrage bei Architektinnen und Architekten im In- und Ausland. Eine unvollständige Liste im Schnelldurchlauf: Schallschutzverglasungen, die aus Schallschutzgründen nicht geöffnet werden dürfen und dadurch auch nicht lüften können. Einklemmschutzwülste an Türen in Kindergärten. Die aufwendigen Wartungsstege und -geländer auf Dächern. Die gefürchtete Objektsicherheitsprüfung bei Wohnbauten. Die Erdbebensicherheit. Unterschiedliche Behörden, die unterschiedliche Stiegenbreiten vorschreiben. Die Vorschrift, dass alle Wohnungen barrierefrei sein müssen, auch bei Umbauten. Straßenbäume in Neubaugebieten, deren Anzahl gegenüber der anfänglichen Planung halbiert wird, damit die Feuerwehr ihre Leitern aufstellen kann.
Für sich betrachtet hat jede dieser Aktionen ihre Logik, doch oft kollidieren dabei gute Absichten miteinander: Begrünung und Brandschutz, CO₂-sparender Erhalt von Bausubstanz und Barrierefreiheit. Und natürlich treibt all das die Kosten so in die Höhe, dass sie woanders eingespart werden müssen. Analog zum Sprichwort „Wenn Krieg ist, leiden die Kinder am meisten“ ließe sich hier sagen: „Wenn Sparzwang ist, leiden die Fassaden am meisten.“ Wer das nachprüfen will, dem sei ein Spaziergang durch das neueste Wiener Stadtentwicklungsgebiet in der Berresgasse mit seinen schmucklosen Vollwärmeschutzklumpen empfohlen. Dass diese Gesetze keine Naturgesetze sind, sondern aus der jeweils lokalen Planungskultur-Melange entstehen, sieht man im internationalen Vergleich, etwa bei den Wohnbauten in der Schweiz, die inklusive Balkon unmittelbar neben Bahngleisen stehen dürfen, ohne dass jemand bei einer Kesselexplosion stirbt.
Diese Abschottung gegen Gefahren erzeugt ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, während wir an den Verteidigungslinien, an denen der schlimmste Worst Case der Menschheitsgeschichte bevorsteht, nämlich in der Klimakatastrophe, weitgehend ungerüstet und schutzlos sind. Gegen sommerliche Überhitzung, Hochwasser, Dürre, Ernteausfälle, steigende Meeresspiegel und globale Kipppunkte helfen keine Poller, keine Tröge und keine Zäune.
Dabei war das alles ganz anders geplant, nämlich ohne das, was den Riesenslalom verursacht: vier stählerne Poller, mit rot-weiß-rot reflektierender Markierung als österreichische Poller ausgewiesen, und in die Begegnungszonenfahrbahn hineingerückte Betonpflanztröge. Am anderen Ende der Begegnungszone, beim Westbahnhof, dasselbe Bild, derselbe Slalom. Schön sieht das nicht aus.
Tröge und Poller
Die Tröge und Poller stehen hier aus einem Grund: Angst. Sie wurden installiert, weil jemand die Wahrscheinlichkeit einer Terrorattacke mit Lastwagen kalkulierte. Nach den Anschlägen in Paris, Nizza, Barcelona, London, Manchester und Stockholm publizierte die EU 2017 einen Aktionsplan zum Schutz öffentlicher Räume. In Wien bildete sich eine Arbeitsgruppe aus Stadtbaudirektion und Landespolizeidirektion, die Rammangriffe per Lkw als „wesentliches Bedrohungselement“ identifizierte. Rathausplatz, Kärntner Straße und Mariahilfer Straße wurden verpollert, das Bundeskanzleramt am Ballhausplatz ebenso. Danach bestand dort offensichtlich immer noch Restgefahr, denn heute sind auch die Zwischenräume zwischen den Pollern mit mobilen Metallzäunen versperrt.
Auch private Initiativen mischen mit: In der Bognergasse im ersten Bezirk wuchert seit diesem Jahr diverses Kraut aus drei ovalen Betontrögen. Es wuchert wegen der Angst, denn die Tröge wurden installiert, damit sich die Gäste des Schwarzen Kameels und des Park Hyatt sicherer fühlen und wurden von deren Eigentümern finanziert. Die Stadt hatte keinen Einwand gegen die Installierung von Betonovalen im historischen Zentrum und keine Änderungswünsche bezüglich deren Gestaltung. Laut Magistratsabteilung 28 (Straßenverwaltung und Straßenbau) sind sie „Teil eines übergeordneten Sicherheitskonzepts für die Innere Stadt, das in Zusammenarbeit von Polizei, Stadt, privaten Unternehmen und auf Empfehlung des Rechnungshofs erstellt wurde“. So sehen sie auch aus.
Diese Ästhetik der Angst, entstanden aus einem Denken in Worst-Case-Szenarien, beeinflusst unsere gebaute Umwelt immer mehr, und mit den gebauten Ergebnissen und ihrer traurigen Botschaft muss die Bevölkerung Tag für Tag leben. Oft erscheinen sie in der Praxis hinderlicher und riskanter als die theoretische Gefahr, der sie ihre Existenz verdanken. Würde ein Terrorist, der in entschlossenem Furor einen Rammangriff plant, angesichts von vier Pollern wirklich enttäuscht umkehren und den Lkw wieder in die Garage stellen?
Verteidigung und Abwehr als Grundprinzipien der Stadtgestaltung sind nicht neu, schließlich verdankte auch das Wiener Glacis seine Existenz und seine räumliche Dimension dem kalkulierten Worst Case „Beschuss mit Kanone“. Heute ist es der Terror, der die Städte zum Hindernisparcours werden lässt, aber auch gegen die Vulnerablen der Gesellschaft werden Verteidigungsgeschütze einer „Hostile Architecture“ aufgefahren. Abschnittsweise portionierte Sitzbänke und dornenübersäte Oberflächen, deren wesentliches Designprinzip ist, das Darauf-Schlafen zu verhindern. Dass das schön ist, behaupten wohl nicht einmal jene, die das planen und genehmigen.
Im Jahr 2017 zeigte die Ausstellung Form folgt Paragraf im Architekturzentrum Wien die unsichtbaren Regelwerke hinter dem Aussehen der gebauten Umwelt, dabei spielte die Vollkaskomentalität eines Haftungsfragendesigns, das sich gegen Schadenersatzklagen absichern will und muss, eine zentrale Rolle. Die Ausstellung erfuhr zu Recht große Aufmerksamkeit, aber eine Trendumkehr ist seither nicht festzustellen, im Gegenteil. Neben „form follows law“ scheint auch „form follows fear“ heute fest im Alltag verankert zu sein.
Das bestätigt auch eine Rundfrage bei Architektinnen und Architekten im In- und Ausland. Eine unvollständige Liste im Schnelldurchlauf: Schallschutzverglasungen, die aus Schallschutzgründen nicht geöffnet werden dürfen und dadurch auch nicht lüften können. Einklemmschutzwülste an Türen in Kindergärten. Die aufwendigen Wartungsstege und -geländer auf Dächern. Die gefürchtete Objektsicherheitsprüfung bei Wohnbauten. Die Erdbebensicherheit. Unterschiedliche Behörden, die unterschiedliche Stiegenbreiten vorschreiben. Die Vorschrift, dass alle Wohnungen barrierefrei sein müssen, auch bei Umbauten. Straßenbäume in Neubaugebieten, deren Anzahl gegenüber der anfänglichen Planung halbiert wird, damit die Feuerwehr ihre Leitern aufstellen kann.
Für sich betrachtet hat jede dieser Aktionen ihre Logik, doch oft kollidieren dabei gute Absichten miteinander: Begrünung und Brandschutz, CO₂-sparender Erhalt von Bausubstanz und Barrierefreiheit. Und natürlich treibt all das die Kosten so in die Höhe, dass sie woanders eingespart werden müssen. Analog zum Sprichwort „Wenn Krieg ist, leiden die Kinder am meisten“ ließe sich hier sagen: „Wenn Sparzwang ist, leiden die Fassaden am meisten.“ Wer das nachprüfen will, dem sei ein Spaziergang durch das neueste Wiener Stadtentwicklungsgebiet in der Berresgasse mit seinen schmucklosen Vollwärmeschutzklumpen empfohlen. Dass diese Gesetze keine Naturgesetze sind, sondern aus der jeweils lokalen Planungskultur-Melange entstehen, sieht man im internationalen Vergleich, etwa bei den Wohnbauten in der Schweiz, die inklusive Balkon unmittelbar neben Bahngleisen stehen dürfen, ohne dass jemand bei einer Kesselexplosion stirbt.
Diese Abschottung gegen Gefahren erzeugt ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, während wir an den Verteidigungslinien, an denen der schlimmste Worst Case der Menschheitsgeschichte bevorsteht, nämlich in der Klimakatastrophe, weitgehend ungerüstet und schutzlos sind. Gegen sommerliche Überhitzung, Hochwasser, Dürre, Ernteausfälle, steigende Meeresspiegel und globale Kipppunkte helfen keine Poller, keine Tröge und keine Zäune.
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