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Der fast vergessene autokratische Stadtplaner von New York City
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Über die Jahrzehnte hatte Robert Moses den Bau kreuzungsfreier Expressways und Parkways von insgesamt fast 1000 Kilometer Länge geplant und gepusht – und war dafür bejubelt worden: Doch dann kam vor 50 Jahren ein Buch heraus, das einen anderen Blick auf sein Schaffen warf: Robert Caros „The Power Broker“.

2. Dezember 2024 - Michael Freund
Robert Moses war kein Politiker. Er wurde weder in New York City noch im Staat New York je in ein Amt gewählt, hatte keine Ausbildung als Stadtplaner, Architekt oder Ingenieur. Doch in seiner vier Jahrzehnte währenden Karriere, von den 1920er-Jahren an, veränderte er die Infrastruktur der Metropole mehr als jeder der Bürgermeister und Gouverneure, mit denen er zu tun hatte.

Zwölf Brücken als Teil des Masterplans

Mit Titeln, die er sich zum Teil ausdachte und absegnen ließ, wie City Construction Coordinator, Chairman of the Power Authority of the State of New York, Chairman of the Mayor’s Committee on Slum Clearance und in neun weiteren Verwaltungsaufgaben, war Moses zuständig für Straßenbau, Parks, Bäder, für Dämme, Kraftwerke und öffentliche und private Wohnprojekte. Er kontrollierte den Bau des Shea Stadion und von Wohnungen für mehr als eine halbe Million New Yorker. Er war mitverantwortlich dafür, dass in den späten 1940er-Jahren das UN-Hauptquartier in der Stadt errichtet wurde und in den 1960er-Jahren das Lincoln Center und die World’s Fair. (Wer vom Kennedy-Flughafen auf dem Grand Central Parkway Richtung Manhattan unterwegs ist, kann heute noch den 60 Jahre alten riesigen Globus im Messepark sehen.) In den Parklandschaften, die in eines seiner Ressorts fielen – neben den städtischen Parks auch große Wälder und lange Küstenstreifen auf Long Island –, ließ er Seebäder, Sportanlagen und fast 700 Spielplätze errichten. Zwölf Brücken wurden unter seiner Aufsicht gebaut, manche mit bis zu 70 Stockwerken hohen Stützpfeilern (und eine, die Verrazzano Bridge, zu ihrer Zeit die längste Hängebrücke der Welt).

Diese Brücken waren Teil seines Masterplans. Denn vor allem sorgte Moses dafür, dass die expandierende Millionenstadt mit ihren zersiedelten Vororten zu einer autogerechten wurde. Über die Jahrzehnte plante und pushte er den Bau kreuzungsfreier Expressways und Parkways von insgesamt fast 1000 Kilometer Länge – und keine einzige neue Meile U-Bahn.

Autokratischer Stadtplaner

Wer verstehen will, wie New York zu der City herangewachsen ist, als die sie sich heute darstellt, mit den Autobahnen, die die Bezirke durchschneiden (mit Ausnahme Manhattans – darauf kommen wir noch zurück), mit dem ewig dahinsiechenden U-Bahnsystem, mit den vielen Parkanlagen, die in den wohlhabenderen Vierteln auffallend besser ausgestattet sind, mit den Hochbauten, die als Beseitigung von Elendsvierteln propagiert wurden und selber zu Slums gerieten; wer zudem einen Eindruck davon gewinnen will, wie man – in New York, aber auch anderswo – mit Politikern und gegen sie, mit Intrigen, Koalitionen, politischen Manövern oder schierem Druck Visionen durchsetzen und Macht erhalten und vergrößern kann: Wer also all dem nachgehen möchte, der stößt schließlich auf den Namen des Mannes, der als autokratischer Stadtplaner fast vergessen worden wäre.

Nach einigen Jahren erbitterter Machtkämpfe, vor allem gegen Gouverneur Nelson Rockefeller, verlor Moses 1968 seinen letzten und vielleicht wichtigsten Posten: die Leitung der Behörde, die die Maut aller Brücken und Autobahnen einnahm. Bald danach erinnerten nur noch nach ihm benannte Bauwerke an Robert Moses.

Stadt ging dem Bankrott entgegen

Doch 1974 veröffentlichte der Journalist Robert A. Caro ein Buch, das ihn wieder ins Rampenlicht stellte, wenn auch ganz anders, als er es gewohnt war, wie schon der Untertitel deutlich macht: „The Power Broker. Robert Moses and the Fall of New York“. Das Buch, fast 1300 Seiten lang, wurde zum überraschenden Best- und Dauerseller, mittlerweile in der 73. Auflage, allein voriges Jahr wurden 40.000 Stück verkauft. Es wurde nie ins Deutsche übersetzt. Anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums ist allerdings ­einiges erschienen und veranstaltet worden, das den Zugang zu dem monumentalen Werk erleichtert. Bleiben wir zunächst bei dem Buch und seinem Autor. Caro war knapp 30 und schrieb für eine Regionalzeitung unter anderem über Bauprojekte am Long Island Sound. Ihm fiel auf, dass der Name Robert Moses immer wieder vorkam und der Mann offenbar eine wichtige Rolle spielte, obwohl er nie in eine politische Position gewählt worden war. Neun Monate wollte er auf seine Biografie verwenden. Es wurden sieben Jahre, und das Manuskript war auf über eine Million Wörter angewachsen. Während der ganzen Zeit, sagte Caro rückblickend, habe er sich fragen lassen müssen, wer denn ein Buch über Moses lesen solle – der Stadtplaner war in keinem seiner Ämter mehr, die Stadt ging dem Bankrott entgegen und hatte andere Sorgen.

Hinter Caros Rücken schickte seine Agentin das Manuskript dem „New Yorker“. So etwas Eindrucksvolles habe er noch nie gelesen, sagte dessen Chefredakteur, William Shawn, und druckte in vier äußerst langen Folgen fast ein Fünftel des Werkes im Magazin ab. Das Buch war also schon Tagesgespräch, bevor es überhaupt erschien, und bald danach galt es bereits als Klassiker. 1975 erhielt der Autor den Pulitzer-Preis, die erste von zahlreichen Ehrungen für eine Symbiose von investigativem Journalismus, akribischer Biografie und literarischer Eleganz, unglaublich detailreich und doch, kommt man erst einmal in den Fluss der Ereignisse, zu lesen wie ein Thriller.

Auf seine Art ein Genie

Wie Caro etwa die Erschließung von Long Island durch Autobahnen beschreibt: Er beginnt mit einer Art Landschaftsbild aus versunkenen Tagen, mit Kartoffelbauern auf den Äckern und Räuberbaronen in ihren Prachtvillen. Sie konnten sich alle nicht vorstellen, je von Auto fahrenden New Yorkern belästigt zu werden. Dann schildert er, wie Moses die Gegend erwanderte, da schmeichelte, dort drohte, sich überlegte, wo man Land billig bekam, wem man in die Quere kommen und wen man als Verbündete anheuern sollte, wie man an Gelder von Stadt, Staat oder Bund herankam, immer geleitet von der Vision, dass große Bauten, breite Straßen, Freizeitparks entstehen würden, wo jetzt Felder und Wälder waren. Auf seine Art sei er ein Genie gewesen, sagte Caro über ihn.

Noch ein Beispiel, ein beklemmendes, das viel vom Verfall der Metropole erzählt: Moses beschloss, dass eine seiner Autobahnen mitten durch ein intaktes Stadtviertel gehen würde. Der Cross Bronx Expressway war sein kostspieligstes und brutalstes Straßenbauprojekt. Zehntausende wurden aus ihren Häusern vertrieben und irgendwohin in die Stadt umgesiedelt. Was zum Fanal der Unbewohnbarkeit wurde, Stichwort South Bronx, hatte damals seinen Anfang. Caro suchte die Umgesiedelten auf und ließ sich ihre Geschichten erzählen: „Das häufigste Wort war ‚Einsamkeit’.“ Seiner konservativen Schätzung zufolge wurden wegen Moses’ Projekten insgesamt an die 500.000 New Yorker von ihren Wohnstätten entwurzelt.

Seinen Protagonisten beschreibt Caro als schillernde Figur, die sich vom idealistischen Reformer zum keinen Widerspruch duldenden Potentaten wandelte. Moses liebte Straßen und Autos, Parks und Schwimmbäder. Vor allem liebte er die Macht, seine Ideen nach Gutdünken umzusetzen. (Francis Ford Coppola modellierte die Figur des visionären Architekten Caesar Catilina in seinem neuen Film „Megalopolis“ nach Robert Moses.)

Parallelen zwischen New York und Beijing

Die Grenzen von Moses’ Macht zeigten sich erstmals, als er drei seiner Schnellstraßen quer durch Manhattan führen wollte. Gegen diese Pläne, insbesondere eine Stelzenautobahn durchs bukolische/dörfliche West Village und den Süden der Insel, war die Journalistin und Aktivistin Jane Jacobs bereits Jahre vor dem Erscheinen von „The Power Broker“ Sturm gelaufen. 1961 schrieb sie ein Buch mit Argumenten gegen Stadtplanung à la Moses und Le Corbusier, einen Bestseller, den es auch auf Deutsch gibt: „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“. Es verwunderte daher, dass ihre letztlich erfolgreiche Agitation von Caro überhaupt nicht erwähnt wurde. Er entschuldigte sich immer wieder mit dem Argument, dass das ursprüngliche Manuskript noch viel länger gewesen sei und um 300.000 (!) Wörter gekürzt werden musste; dem sei unter anderem ein ganzes Kapitel über den Lower Manhattan Expressway und damit über Jane Jacobs zum Opfer gefallen, das verfolge ihn bis heute.

Zwischen dem New York von Robert Moses und dem Beijing der heutigen chinesischen Machthaber gebe es Parallelen, schrieb Bob Davis vor zwei Jahren in der Zeitschrift „Foreign Policy“. Korruption sei ähnlich weitverbreitet, „jeder ist angreifbar, sei es, weil er Bestechungsgelder anbietet, sie annimmt oder weil er von Bestechungsgeldern weiß, auch wenn er nicht mitspielt“.

Dass auch bei uns nicht alles den korrekten Weg geht und manches in Hinterzimmern ausgedealt wird, gerade bei Bauprojekten, bei denen es sich um Millionenbeträge handelt, davon kann man ausgehen. Immerhin aber ist Wien eine Westautobahn erspart geblieben, die von Hütteldorf bis zum Karlsplatz geführt und das urbane Gefüge zersägt hätte wie in der Bronx. Bei Caro kann man die Konsequenzen nachlesen wie unter einem Vergrößerungsglas, inklusive der alten, noch immer nicht berücksichtigten Binsenweisheit, dass, wo Straßen gebaut werden, sie sich bis zur Verstopfung füllen; die Tangente ist auch nur ein kleiner Neffe des Long Island Expressway.

Er starb verbittert

Zum 50-Jahr-Jubiläum der Veröffentlichung rückt „The Power Broker“ auf mehrere Arten wieder ins Rampenlicht. Im Oktober würdigte die „New York Times“ Robert Caro in einem ausführlichen Porträt und leistete Abbitte, gehörte sie doch in den Zeiten von Moses’ Herrschaft zu der „unterwürfigen Presse“, die ihm zujubelte. Bis zum 2. Februar ist in der New York Historical Society in Manhattan „The Power Broker“ at 50 zu sehen, eine Ausstellung mit Archivmaterialien, Objekten und Videointerviews (auch unter www.nyhistory.org). Es gibt eine weitere Hommage zum Jubiläum, die den Zugang zum Buch erleichtert, wenn man sich nicht durch die fast zwei Kilogramm des „Power Broker“ durcharbeiten will. Die Gestalter des Podcasts „99 Percent Invisible“ produzieren derzeit eine zehnteilige Serie, in der sie alle Kapitel aus dem Buch diskutieren, jeweils mit einem Interviewpartner (99percentinvisible.org/club/).

Moses erlebte die Veröffentlichung von Caros Buch, für ihn war es nur eine Serie von Diffamierungen und Unwahrheiten. Er starb 1981, verbittert über die Undankbarkeit der Menschen. Da arbeitete Robert Caro bereits an einem vielleicht noch eindrucksvolleren Opus magnum: einer mehrbändigen Biografie des Präsidenten Lyndon B. Johnson. Vier Bände, mehr als 3000 Seiten, sind erschienen. Ein kurzer Auszug aus dem vierten kam bei Suhrkamp heraus. Unermüdlich arbeitet Robert Caro am fünften und letzten Band. Nächsten Oktober wird er 90.

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