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Brüsseler Justizpalast: Sogar die Gerüste sind baufällig
Der Justizpalast in Brüssel ist das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt, doch er verfällt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein.
4. Dezember 2024 - Harald A. Jahn
Es ist ein wahres Ungetüm, das da auf dem Hochplateau des Galgenberges in den Himmel ragt: Der Brüsseler Justizpalast ist das größte Gebäude des Historismus, finanziert durch die brutale Ausbeutung der Kolonie Belgisch-Kongo, gebaut von Joseph Poelaert, einem Architekten, der zuvor, so sagt man, nur eine einzige Säule entworfen hat.
Eine ganze Serie von Kulissenfassaden wuchert um das Hauptportal, es ist ein Auftakt in Fortissimo. In der riesigen Halle dahinter ist es still, die Dimensionen schüchtern ein, kippen aber auch in absurde Lächerlichkeit. Der 100 Meter hohe Raum wird dominiert von einem Säulenwald, große Treppen führen nur in den ersten Stock, der Grundriss ist seltsam undurchschaubar. Kafkas „Prozess“ drängt sich unweigerlich auf, wenn man den „Salle des pas perdus“, den Saal der verlorenen Schritte, durchquert.
Ausblicke aus trüben Fenstern auf graue Innenhöfe
In der halbdunklen Wandelhalle machen Inseln aus warmem Licht erst den Maßstab deutlich. Auf einer der Bänke sitzt ein Student und lernt, Dutzende Meter weiter spricht ein Anwalt mit seinem Klienten, Stimmen verlieren sich in der Weite. Nach den Prunkstiegen führen dann unauffällige Türen zu engen Treppenhäusern, weit oben enden sie oft in dunklen Zwischengeschoßen, in denen Eisenleitern zu Dachluken führen.
In den Büroetagen herrscht der Geist der 1970er-Jahre, manche Büros sind ungenutzt, Akten stapeln sich, in einer verstaubten Bibliothek stehen Vitrinen mit historischen Gesetzbüchern. Die trüben Fenster bieten immer wieder Ausblicke auf graue Innenhöfe und die teilvergoldete Kuppel: Zahllose Gerüste umspinnen die Fassaden, sie sind seit Mitte der 1980er-Jahre zarter Gegensatz zum robusten Baukörper.
Der Justizpalast verfällt seit Jahrzehnten, die Gerüste gehören mittlerweile untrennbar zur Silhouette, inzwischen sind auch sie baufällig. Wie so oft in Belgien versackten die Renovierungen im Dschungel der Bürokratie, in der Trägheit der Behörden, in Finanzproblemen; für viele ist die Monsterbaustelle Symbol für den dysfunktionalen Staat, der manchmal als der „erfolgreichste Failed State der Welt“ bezeichnet wird.
Technische Geografie des Gebäudes wird kartiert
Bis heute ist der Palast das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein und das Gerüst verschwinden. Noch komplexer sind allerdings die Arbeiten im Inneren; dass Poelaert keine vollständigen Pläne zurückgelassen hat, macht die Sache nicht einfacher, über die Leitungsführungen ist nichts bekannt, und auch die nachträglichen Zubauten wurden nur unzureichend dokumentiert. Nun wird die technische Geografie des Gebäudes komplett kartiert.
Aber wie soll die künftige Nutzung aussehen? Anders als in vergleichbaren Gebäuden soll sich die Widmung nicht ändern, das Recht weiterhin hier residieren. Die Anforderungen haben sich aber geändert, die Justiz möchte bürgernäher und transparenter werden – wie kann das mit der alten Infrastruktur gelingen? Die 2011 von der Anwaltskammer gegründete Fondation Poelaert sucht nach Antworten. Im Vorstand sitzen nicht nur Justizangehörige, sondern auch Bürger der Stadt.
Die „Cités Obscures“
Einer davon ist François Schuiten. Er stammt aus einer Architektenfamilie und ist der wohl berühmteste Künstler der belgisch-französischen Comicszene, derzeit werden seine Arbeiten im Pariser Centre Pompidou gezeigt. Seine Graphic-Novel-Serie „Die geheimnisvollen Städte“ behandelt soziale und urbane Themen, sie entsteht gemeinsam mit dem Autor Benoît Peeters und wurzelt direkt in der seltsamen Stadtgeschichte Brüssels.
„Les Cités Obscures“ erzählen dystopische Geschichten, in der Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Scheinbar berühren sich die Welten manchmal, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche weitere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.
„Zeichnen hilft beim Heilen“
Während in der Folge „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta ein idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ (sic!) die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. Dabei ist der Justizpalast immer wieder wichtiger Schauplatz. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.
Als Designer ist er nicht nur an der Ideenfindung zur Nutzung des Justizpalasts beteiligt; die französische Armee hat ihn und andere Science-Fiction-Autoren eingeladen, Bedrohungen zu finden, die außerhalb der Vorstellungswelt klassischer Militärstrategen sind. „Tatsächlich – ich darf im Detail nicht darüber sprechen – gab es bereits Änderungen bei der Konstruktion eines neuen Flugzeugträgers, die direkt auf unseren Ideen basieren“, erzählt Schuiten. „Beim Justizpalast besteht die Herausforderung darin, die Rolle der Justiz in den veränderten Bedingungen unserer Zeit neu zu definieren: Wie können Transparenz, Digitalisierung und Datenschutz architektonisch abgebildet werden, bei gleichzeitiger Funktionsausweitung des riesigen Baudenkmals?“
Reale und utopische Welten
Spätestens im Jahr 2030, zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Belgiens, soll der Palast als Leuchtturm der Demokratie wieder über die Stadt strahlen; derzeit wachsen Bäume aus den Simsen. Noch kann man sich an diesem eigenartigen Ort vorstellen, ein Portal in die Welt von Kafka oder der geheimnisvollen Städte zu finden; nach der Sanierung wird es wohl verschlossen sein.
Vorher wird aber noch ein Abgesandter der „Cités Obscures“ hier manifest werden: Ein großes Kunstwerk, halb Nautilus, halb Oktopus, taucht am 30. November 2024 aus dem Boden vor dem Justizpalast auf. Das Hybridwesen ist Hauptdarsteller im letzten Band von François Schuitens Serie, der Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „dunklen Kontinent“ verknüpft und Teil eines Projekts für die französische Stadt Amiens ist: „Auf den Spuren von Jules Verne“ – hier hat er gelebt, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen.
Zuvor wird sie sich jedoch für einige Monate vor dem Justizpalast niederlassen – als Verbindung realer und utopischer Welten in der belgischen Hauptstadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwergetan hat.
Eine ganze Serie von Kulissenfassaden wuchert um das Hauptportal, es ist ein Auftakt in Fortissimo. In der riesigen Halle dahinter ist es still, die Dimensionen schüchtern ein, kippen aber auch in absurde Lächerlichkeit. Der 100 Meter hohe Raum wird dominiert von einem Säulenwald, große Treppen führen nur in den ersten Stock, der Grundriss ist seltsam undurchschaubar. Kafkas „Prozess“ drängt sich unweigerlich auf, wenn man den „Salle des pas perdus“, den Saal der verlorenen Schritte, durchquert.
Ausblicke aus trüben Fenstern auf graue Innenhöfe
In der halbdunklen Wandelhalle machen Inseln aus warmem Licht erst den Maßstab deutlich. Auf einer der Bänke sitzt ein Student und lernt, Dutzende Meter weiter spricht ein Anwalt mit seinem Klienten, Stimmen verlieren sich in der Weite. Nach den Prunkstiegen führen dann unauffällige Türen zu engen Treppenhäusern, weit oben enden sie oft in dunklen Zwischengeschoßen, in denen Eisenleitern zu Dachluken führen.
In den Büroetagen herrscht der Geist der 1970er-Jahre, manche Büros sind ungenutzt, Akten stapeln sich, in einer verstaubten Bibliothek stehen Vitrinen mit historischen Gesetzbüchern. Die trüben Fenster bieten immer wieder Ausblicke auf graue Innenhöfe und die teilvergoldete Kuppel: Zahllose Gerüste umspinnen die Fassaden, sie sind seit Mitte der 1980er-Jahre zarter Gegensatz zum robusten Baukörper.
Der Justizpalast verfällt seit Jahrzehnten, die Gerüste gehören mittlerweile untrennbar zur Silhouette, inzwischen sind auch sie baufällig. Wie so oft in Belgien versackten die Renovierungen im Dschungel der Bürokratie, in der Trägheit der Behörden, in Finanzproblemen; für viele ist die Monsterbaustelle Symbol für den dysfunktionalen Staat, der manchmal als der „erfolgreichste Failed State der Welt“ bezeichnet wird.
Technische Geografie des Gebäudes wird kartiert
Bis heute ist der Palast das größte noch benutzte Gerichtsgebäude der Welt. Seit 2020 sind die Bemühungen, ihn zu retten, ernsthafter geworden; bis 2028 soll die Außenfassade saniert sein und das Gerüst verschwinden. Noch komplexer sind allerdings die Arbeiten im Inneren; dass Poelaert keine vollständigen Pläne zurückgelassen hat, macht die Sache nicht einfacher, über die Leitungsführungen ist nichts bekannt, und auch die nachträglichen Zubauten wurden nur unzureichend dokumentiert. Nun wird die technische Geografie des Gebäudes komplett kartiert.
Aber wie soll die künftige Nutzung aussehen? Anders als in vergleichbaren Gebäuden soll sich die Widmung nicht ändern, das Recht weiterhin hier residieren. Die Anforderungen haben sich aber geändert, die Justiz möchte bürgernäher und transparenter werden – wie kann das mit der alten Infrastruktur gelingen? Die 2011 von der Anwaltskammer gegründete Fondation Poelaert sucht nach Antworten. Im Vorstand sitzen nicht nur Justizangehörige, sondern auch Bürger der Stadt.
Die „Cités Obscures“
Einer davon ist François Schuiten. Er stammt aus einer Architektenfamilie und ist der wohl berühmteste Künstler der belgisch-französischen Comicszene, derzeit werden seine Arbeiten im Pariser Centre Pompidou gezeigt. Seine Graphic-Novel-Serie „Die geheimnisvollen Städte“ behandelt soziale und urbane Themen, sie entsteht gemeinsam mit dem Autor Benoît Peeters und wurzelt direkt in der seltsamen Stadtgeschichte Brüssels.
„Les Cités Obscures“ erzählen dystopische Geschichten, in der Städte einer mysteriösen Parallelwelt die Hauptrolle spielen: ähnlich der realen, aber leicht verschoben, voller kunstgeschichtlicher Andeutungen, Verknüpfungen, versteckter Hinweise. Scheinbar berühren sich die Welten manchmal, wie in der Pariser Metrostation „Arts et Métiers“, die Schuiten gestaltet hat; auch das Brüsseler Museum „Train World“, das Maison Autrique des Jugendstilarchitekten Victor Horta und zahlreiche weitere Ausstellungen wurden von ihm entworfen und damit Teil des Vexierspiels.
„Zeichnen hilft beim Heilen“
Während in der Folge „Die Mauern von Samaris“ eine Stadt ganz im Stil von Victor Horta ein idealisiertes Spiegelbild Brüssels ist, behandelt das zentrale Werk „Brüsel“ (sic!) die städtebauliche Katastrophe der belgischen Hauptstadt, die Zerstörung durch die Bauspekulation, den Größenwahn. Dabei ist der Justizpalast immer wieder wichtiger Schauplatz. „Brüssel hat die Verbindung zu sich selbst und seiner Geschichte verloren. Die Stadt ist wie mit einem Messer in Stücke geschnitten worden; das Zeichnen hilft da ein wenig beim Heilen. Als Zeichner mache ich Schneiderarbeit und versuche die Wunden zu vernähen“, sagt Schuiten im Interview.
Als Designer ist er nicht nur an der Ideenfindung zur Nutzung des Justizpalasts beteiligt; die französische Armee hat ihn und andere Science-Fiction-Autoren eingeladen, Bedrohungen zu finden, die außerhalb der Vorstellungswelt klassischer Militärstrategen sind. „Tatsächlich – ich darf im Detail nicht darüber sprechen – gab es bereits Änderungen bei der Konstruktion eines neuen Flugzeugträgers, die direkt auf unseren Ideen basieren“, erzählt Schuiten. „Beim Justizpalast besteht die Herausforderung darin, die Rolle der Justiz in den veränderten Bedingungen unserer Zeit neu zu definieren: Wie können Transparenz, Digitalisierung und Datenschutz architektonisch abgebildet werden, bei gleichzeitiger Funktionsausweitung des riesigen Baudenkmals?“
Reale und utopische Welten
Spätestens im Jahr 2030, zur 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeit Belgiens, soll der Palast als Leuchtturm der Demokratie wieder über die Stadt strahlen; derzeit wachsen Bäume aus den Simsen. Noch kann man sich an diesem eigenartigen Ort vorstellen, ein Portal in die Welt von Kafka oder der geheimnisvollen Städte zu finden; nach der Sanierung wird es wohl verschlossen sein.
Vorher wird aber noch ein Abgesandter der „Cités Obscures“ hier manifest werden: Ein großes Kunstwerk, halb Nautilus, halb Oktopus, taucht am 30. November 2024 aus dem Boden vor dem Justizpalast auf. Das Hybridwesen ist Hauptdarsteller im letzten Band von François Schuitens Serie, der Jules Vernes Buch „20.000 Meilen unter dem Meer“ mit dem „dunklen Kontinent“ verknüpft und Teil eines Projekts für die französische Stadt Amiens ist: „Auf den Spuren von Jules Verne“ – hier hat er gelebt, hier wird die Skulptur künftig auf einer Terrasse über der Stadt thronen.
Zuvor wird sie sich jedoch für einige Monate vor dem Justizpalast niederlassen – als Verbindung realer und utopischer Welten in der belgischen Hauptstadt, die sich mit ihrer Geschichte und ihren Möglichkeiten immer schwergetan hat.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom