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In zehn Schritten in die Zukunft
Der Standard

Wien arbeitet am Stadtentwicklungsplan STEP 2035. In die Öffentlichkeit dringt davon nur wenig. Daher haben wir bei Expertinnen und Experten nachgefragt, was sie sich davon erhoffen und was sie sich wünschen.

3. Januar 2025 - Wojciech Czaja, Maik Novotny
Stadtplanung

Ich wünsche mir vom Step 2035 eine Vision zur Transformation der Stadt, die den Bestand als Zukunftsressource betrachtet – mit grünen, attraktiven, gemischt genutzten Industrie- und Gewebearealen. Und mit Förderung lokaler Produktion, denn auch in der Innenstadt gibt es viele kleinere Betriebe, und die brauchen wir genau dort. Ich wünsche mir einen Gesamtplan für grün-blaue Infrastruktur, so wie in Hamburg und Rotterdam. Und ich wünsche mir eine Gesamtstrategie für Stadt und Region, denn das System Wien endet nicht an der Stadtgrenze.

Ute Schneider ist Professorin für Stadtplanung, TU Wien

Grünraum

In einem Dokument wie dem Stadtentwicklungsplan braucht es eine klare Strategie inklusive verbindlicher (und zu befolgender) Instrumente, die das urbane Grün mit anderen Freiraumfunktionen abstimmt und die eine gerechte Verteilung von Lebensqualität garantiert. Anzahl und Größe sind ausschlaggebend: Je größer und kompakter die Grünräume, desto wirksamer sind sie gegen Klimastress und Hitzeinseln. Und: Dort, wo vulnerable Bewohnerinnen und Bewohner darauf angewiesen sind, sind Neubau und Erhaltung von Grünräumen dringend voranzutreiben.

Lilli Lička ist Architektin, LL-L Landschaftsarchitektur

Stadtklima

Wien wird bald ein Mittelmeerklima haben, Extremereignisse werden sich häufen, und die Kapazitäten des Hochwasserschutzes bei Starkregen werden wahrscheinlich bald nicht mehr ausreichen. Je länger wir also zögern, desto radikaler werden die Maßnahmen sein müssen. Was ist zu tun? Schwammstadtbäume, Begrünung von Dächern, Berücksichtigung von Kaltluftströmen, Klimatisierung von Spitälern und Pflegeheimen etc. Wir müssen die Prozesse konkret definieren und befolgen – und nicht nur hie und da ein bisschen begrünen. Es geht nicht darum, was machbar ist, sondern darum, was nötig ist.

Matthias Ratheiser und Simon Tschannett sind Meteorologen und Geschäftsführer, Weatherpark Wien

Verkehr

Wien ist Vorzeigestadt in Sachen Öffis, Radfahren und Zu-Fuß-Gehen. Dennoch verursacht der Kfz-Verkehr einen großen Anteil am CO₂-Ausstoß – und benötigt dafür zwei Drittel des gesamten Straßenraums. Will die Stadt ihre Ziele bis 2040 erreichen, muss Parken teurer werden, müssen Radwege konsequent vermehrt, müssen gute Lösungen für den Mischverkehr gefunden werden – so wie aktuell am Beispiel Argentinierstraße. Was Wien leider noch nicht gut kann: improvisieren, ausprobieren, experimentieren. Die Klimakrise verlangt schnelle Maßnahmen, die rasch wirken. Hier kann Wien noch mutiger werden.

Andrea Weninger ist Geschäftsführerin, Rosinak & Partner

Architektur

Was in Wien fehlt, ist die Weiterentwicklung der dreidimensionalen Gestalt der Stadt. Ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten bleibt unausgeschöpft. Ich wünsche mir die Radikalität des Roten Wien zurück. Alternative Modelle für Dichte. Mehr Öffentlichkeit und Zugänglichkeit. Eine Transformation der Bestandsstadt und ihrer Straßen. Und die Produktion in die Stadt zurückholen. Wir brauchen erlebbare Beispiele der vielen Möglichkeiten in allen Maßstäben. Und bitte keine Panik vor Höhe im Zentrum! Mit den Worten Ursula von der Leyens: Wir müssen dem Systemwandel ein Gesicht verleihen!

Anna Popelka ist Architektin, PPAG Architects

Wohnbau

Damit Wien nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis eine klimafitte Stadt der Zukunft werden kann, brauchen wir sofort Maßnahmen in Flächenwidmung und Bauordnung. Aber nein, stattdessen werden Gebäude und Baukultur nach wie vor unter einen Glassturz gestellt. Ohne innovativen Wohnbau, ohne innerstädtische Nachverdichtung, ohne echte Begrünungskonzepte und ohne Balkone und Schattenplätze werden wir immer mehr grüne Wiese verbauen müssen. Es läuft total verkehrt. Wir müssen um jeden Preis unsere Umwelt und unsere Böden schützen – und nicht nur mittelmäßige Altbauten in der hintersten Vorstadt.

Hans Jörg Ulreich ist Geschäftsführer, Ulreich Bauträger

Energie

Das Prinzip „Energieeffizienz first“ ist simpel: erstens Bedarf vermeiden, reduzieren und optimieren – und zweitens den Rest aus erneuerbaren Energiequellen decken. Dieses Prinzip führt zu nachhaltigen, CO₂-freien Lösungen bei Neubauten und Sanierungen und ermöglicht langfristige Planbarkeit. Was so einfach klingt und im Wiener Neubau längst zum Standard gehört, ist im Altbau leider hochkomplex. Für die klimaneutrale Stadt braucht es daher ganzheitliche Lösungen. Eine vorausschauende, in die Stadtentwicklung integrierte Energieraumplanung ist dazu ein wesentlicher Baustein.

Inge Schrattenecker ist stv. Generalsekretärin, ÖGUT Österreichische Gesellschaft für Umwelt und Technik

Kreislaufwirtschaft

Gute Stadtplanung ist sich ihrer Materialisierung bewusst. Sie entwickelt Strategien für die Ver- und Entsorgung in Bau, Betrieb und Bestand – von den Stoffströmen bis hin zum Regenwassermanagement. Als Teil der Stadtproduktion ist das Bauen ein wesentlicher Emittent, daher muss für die Entwicklung einer klimawirksamen Kreislaufwirtschaft die CO₂-Bilanz völlig neu betrachtet werden. Eine klimapositive Stadtplanung verbindet die Reduktion von Verkehr und Emissionen mit Strategien der CO₂-Speicherung – und zielt langfristig auf die Stadt als CO₂-Senke ab.

Thomas Romm ist Architekt, forschen planen bauen, und Initiator, Baukarussell

Soziales

Für das Gefüge in der Stadt ist soziale Kohäsion essenziell. Dazu braucht es institutionelle Möglichkeitsräume, die als multifunktionale Hubs fungieren – als Lernorte und Treffpunkte, mit Kulturangeboten und für Austausch und zur Förderung von Talenten. Solche Orte können soziale Ungleichheiten abfedern und schaffen Ausgleich für jene, die auf beengtem Raum wohnen und wenig Chancen und Möglichkeiten haben. Zudem bieten sie im Hochsommer Kühlung für all jene, die unter den Risiken der Stadthitze leiden. Ein weiteres wichtiges Thema ist die klimaresiliente Umgestaltung des öffentlichen Raums als Wohnzimmer für alle.

Cornelia Dlabaja Stiftungsprofessur für nachhaltige Stadt- und Tourismusentwicklung, FH Wien, Sektionssprecherin Soziale Ungleichheit, ÖGS

Migration

Migration ist in Wien längst gelebte Realität. Über 50 Prozent der Jugendlichen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Das ist die Mehrheitsgesellschaft von morgen. Gleichzeitig sind 34 Prozent der Menschen nicht wahlberechtigt – ein tiefgreifendes Demokratiedefizit, das noch zunehmen wird. Umso dringlicher ist es, eine solidarische, zukunftsfähige Gesellschaft zu gestalten, in der echte Teilhabe für alle möglich ist, und die Stadt so zu planen, dass sie Räume eröffnet, die ein gemeinsames Sprechen, Diskutieren und Streiten fördert.

Ivana Pilić ist Kuratorin und Kulturwissenschafterin, D-ARTS

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