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Bauen im Gandhi-Radius
Die Architekten von Wallmakers aus Indien bauen ausschließlich mit Materialien aus der unmittelbaren Umgebung. Dabei arbeiten sie wie Nomaden ohne festen Wohnsitz, eine Hand im Lehm und die andere in der digitalen Welt.
11. Januar 2025 - Maik Novotny
Dramatisch spitz läuft das Bündel aus Baumstämmen zu und ragt weit in die südindische Wildnis von Peeremedu. Wie Architektur sieht das auf den ersten Blick nicht aus, eher wie Forstwirtschaft. Doch hinter den Stämmen verbirgt sich ein Wohnhaus mit Panoramablick und dem schicken Namen „The Ledge“. Zum Einsatz kamen hier Casuarina-Bäume, die aufgrund ihres schnellen Wachstums sonst für Zäune und Gerüste verwendet werden, und die steinige Erde aus der Baugrube wurde zu Innenwänden.
Viele Hände waren an diesem Bau beteiligt, entworfen wurde er vom Architekturteam Wallmakers, gegründet vom Ehepaar Vinu Daniel und Ar Oshin Varughese. Wie alle ihre Bauten folgt The Ledge der Regel von Mahatma Gandhi, der sich, was weniger bekannt sein dürfte, auch mit Architektur auseinandergesetzt hat. Seinem Diktum zufolge soll sich ein Haus nur aus dem Material bedienen, das aus einem Umkreis von fünf Meilen stammt. Eine Regel, die heute, da CO₂-Bilanzen ein Bewertungskriterium für Architektur werden und man nicht mehr Stahl und Sand um den halben Globus transportieren kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen, wieder relevant wird. „Dieser Radius ist für uns eine klare Regel“, sagt Vinu Daniel, der im Dezember auf Einladung von Hannes Stiefel, Professor an der Akademie der bildenden Künste, zu einem Vortrag in Wien gastierte.
Den Ort verstehen
Nimmt man die Gandhi-Regel ernst, entdeckt man in diesem Radius nicht nur natürliche Materialien wie Baumstämme, sondern auch Unnatürliches wie Autoreifen oder Schiffscontainer, die jeweils zu tragenden Elementen von Wallmakers-Bauten wurden. Beim jüngsten Projekt, einem Wohnhaus in Vatakara im Bundesstaat Kerala, wurde Kinderspielzeug zum Baustoff, kleine Plastikfiguren zieren wie Ornamente die geschwungene Fassade. Keine scherzhafte Fußnote, sondern ein ökologisches Statement. Denn weltweit bestehen 90 Prozent des Spielzeugs aus Plastik, davon landen 80 Prozent auf der Mülldeponie oder als Mikroplastik im Ozean.
Dabei steht die Entscheidung für das Baumaterial gar nicht am Anfang, sagt Vinu Daniel. „Wir gehen zuerst zum Bauplatz und versuchen, still zu sein, zuzuhören und den Ort zu verstehen. Dann beginnen wir zu entwerfen, und dann erst treffen wir die Entscheidung über das Material.“ Jetzt versteht man auch, warum die Häuser von Wallmakers nichts von einer zusammengeschusterten Bricolage-Ästhetik haben, sondern fast luxuriöse Eleganz ausstrahlen.
Eine Arte povera strebe man auch nicht an, betont Daniel energisch, und der derzeit überall wiederentdeckte Lehmbau sei kein Allheilmittel, sondern oft eine romantisierende Ursprünglichkeitssymbolik, für die es richtige und falsche Anwendungen gibt. „Wenn ich zum Beispiel in einem Slum baue, finde ich dort keinen Lehm, sondern altes Wellblech oder Aluminium. Lehm von irgendwo anders dorthin zu transportieren ergibt keinen Sinn.“ Da baut man eben lieber mit dem Wellblech. Dabei läuft die Kalkulation des CO₂-Fußabdrucks digital ständig mit.
Die Sprache der Arbeit
Das Ziel dabei: nicht brav traditionell zu bleiben, aber auch nicht gegen das Material zu arbeiten. Das bedeutet, die richtige Gesprächsebene mit den Handwerkern auf der Baustelle zu finden. Viele Architekten, sagt Daniel, hätten zu wenig Ahnung von der Realität und forderten entweder Dinge, die nicht funktionieren, oder ließen sich vom Baumeister mit einem „Wir machen das so wie immer schon“ einschüchtern. So kam es, dass Vinu Daniel auf eine Wallmakers-Baustelle in Gujarat anreiste, um selbst mit geübter Praxis zur Schöpfkelle zu greifen und sich so den Respekt des Baumeisters zu ermauern – danach ließ sich dieser leicht überzeugen, etwas Neues auszuprobieren. „Es gibt eine universelle Sprache der Arbeit, die man kennen muss“, sagt Daniel. „Dann kann man die Grenzen von Klasse, Kaste und Sprache überwinden, und so entstehen Innovationen.“
Innovativ ist das Bauen im Gandhi-Radius auch in puncto Klimagerechtigkeit, denn in den Bauten von Wallmakers dürfen die Wände atmen, kann Luft und Feuchtigkeit zirkulieren, ohne Hightech und Klimaanlage. Eine Erkenntnis, die aus der frohen Jugend von Vinu Daniel stammt, der mit seiner Familie in Dubai aufwuchs. „Die Wohnung, das Auto, die Schule, die Shoppingmall, alles sind klimatisierte Glasboxen. Als ich nach Indien kam, konnte ich mit den Gleichaltrigen nur 15 Minuten auf der Straße spielen, weil mir sofort heiß wurde. Heute jedoch wird Indien immer mehr wie Dubai, und das ist ein großes Problem. Unsere Körper entfremden sich von der Umwelt.“
Lehm und Laptop
Dies zu ändern war der Impuls für die Wahl des Architektenberufs, doch der Anfang war steinig. Eines der ersten Häuser baute Vinu Daniel aus Lehm für seine Mutter, die ihn prompt verstieß, weil alle Nachbarn ihr einredeten, dass es nach dem ersten Regen in sich zusammenfiele und sich ihre Ersparnisse in einer Schlammpfütze auflösen würden. Andere Projekte führten aus ähnlichen Gründen zu langwierigen Gerichtsverfahren. Sechs Jahre dauerte es, bis seine Mutter wieder mit ihm redete – heute, sagt er, liebt sie das Haus und will nirgendwo anders schlafen.
Eine geradezu biblische und möglicherweise auch erzählerisch etwas ausgeschmückte Geschichte von Exil und Versöhnung, Verzweiflung und Wiederauferstehung, die bis heute die Art des Arbeitens beeinflusst. Denn Wallmakers verstehen sich als nomadisches Team, das ganz ohne Büroräume auskommt. Die rund 15 Architektinnen und Architekten arbeiten einzeln auf der Baustelle oder in Co-Working-Spaces oder in Cafés, der Austausch erfolgt über Laptop und Smartphone. Eine Hand in der Erde, die andere auf dem Trackpad. Auch statische Berechnungen für die oft wagemutig gekurvten und gespannten Wände und Decken lassen sich auf dem Cafétisch erledigen: „Wir Inder tragen oft diese Halsketten namens Rudraksh, mit denen lassen sich ideale Bogenformen simulieren“, sagt Daniel. Ar Oshin Varughese hält organisatorisch alles zusammen. Seine Frau, sagt Daniel, sei verwurzelter und strukturierter als er. „Viele junge Architekten investieren viel Geld in Büroausstattung, um ihre Bauherren zu beeindrucken, dabei sollten sie lieber auf der Baustelle lernen, anstatt zu posieren“, sagt er.
Heute gibt es in Indien bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden insgesamt 14.000 Architekturbüros und 116.000 Architektinnen und Architekten, Tendenz stark steigend. Verstehen sich Wallmakers als Einzelfall? „Im Moment noch, ja“, sagt Daniel. „Aber es gibt immer mehr, die unserem Beispiel folgen und sich wieder an Gandhis Radius erinnern.“
Viele Hände waren an diesem Bau beteiligt, entworfen wurde er vom Architekturteam Wallmakers, gegründet vom Ehepaar Vinu Daniel und Ar Oshin Varughese. Wie alle ihre Bauten folgt The Ledge der Regel von Mahatma Gandhi, der sich, was weniger bekannt sein dürfte, auch mit Architektur auseinandergesetzt hat. Seinem Diktum zufolge soll sich ein Haus nur aus dem Material bedienen, das aus einem Umkreis von fünf Meilen stammt. Eine Regel, die heute, da CO₂-Bilanzen ein Bewertungskriterium für Architektur werden und man nicht mehr Stahl und Sand um den halben Globus transportieren kann, ohne sich rechtfertigen zu müssen, wieder relevant wird. „Dieser Radius ist für uns eine klare Regel“, sagt Vinu Daniel, der im Dezember auf Einladung von Hannes Stiefel, Professor an der Akademie der bildenden Künste, zu einem Vortrag in Wien gastierte.
Den Ort verstehen
Nimmt man die Gandhi-Regel ernst, entdeckt man in diesem Radius nicht nur natürliche Materialien wie Baumstämme, sondern auch Unnatürliches wie Autoreifen oder Schiffscontainer, die jeweils zu tragenden Elementen von Wallmakers-Bauten wurden. Beim jüngsten Projekt, einem Wohnhaus in Vatakara im Bundesstaat Kerala, wurde Kinderspielzeug zum Baustoff, kleine Plastikfiguren zieren wie Ornamente die geschwungene Fassade. Keine scherzhafte Fußnote, sondern ein ökologisches Statement. Denn weltweit bestehen 90 Prozent des Spielzeugs aus Plastik, davon landen 80 Prozent auf der Mülldeponie oder als Mikroplastik im Ozean.
Dabei steht die Entscheidung für das Baumaterial gar nicht am Anfang, sagt Vinu Daniel. „Wir gehen zuerst zum Bauplatz und versuchen, still zu sein, zuzuhören und den Ort zu verstehen. Dann beginnen wir zu entwerfen, und dann erst treffen wir die Entscheidung über das Material.“ Jetzt versteht man auch, warum die Häuser von Wallmakers nichts von einer zusammengeschusterten Bricolage-Ästhetik haben, sondern fast luxuriöse Eleganz ausstrahlen.
Eine Arte povera strebe man auch nicht an, betont Daniel energisch, und der derzeit überall wiederentdeckte Lehmbau sei kein Allheilmittel, sondern oft eine romantisierende Ursprünglichkeitssymbolik, für die es richtige und falsche Anwendungen gibt. „Wenn ich zum Beispiel in einem Slum baue, finde ich dort keinen Lehm, sondern altes Wellblech oder Aluminium. Lehm von irgendwo anders dorthin zu transportieren ergibt keinen Sinn.“ Da baut man eben lieber mit dem Wellblech. Dabei läuft die Kalkulation des CO₂-Fußabdrucks digital ständig mit.
Die Sprache der Arbeit
Das Ziel dabei: nicht brav traditionell zu bleiben, aber auch nicht gegen das Material zu arbeiten. Das bedeutet, die richtige Gesprächsebene mit den Handwerkern auf der Baustelle zu finden. Viele Architekten, sagt Daniel, hätten zu wenig Ahnung von der Realität und forderten entweder Dinge, die nicht funktionieren, oder ließen sich vom Baumeister mit einem „Wir machen das so wie immer schon“ einschüchtern. So kam es, dass Vinu Daniel auf eine Wallmakers-Baustelle in Gujarat anreiste, um selbst mit geübter Praxis zur Schöpfkelle zu greifen und sich so den Respekt des Baumeisters zu ermauern – danach ließ sich dieser leicht überzeugen, etwas Neues auszuprobieren. „Es gibt eine universelle Sprache der Arbeit, die man kennen muss“, sagt Daniel. „Dann kann man die Grenzen von Klasse, Kaste und Sprache überwinden, und so entstehen Innovationen.“
Innovativ ist das Bauen im Gandhi-Radius auch in puncto Klimagerechtigkeit, denn in den Bauten von Wallmakers dürfen die Wände atmen, kann Luft und Feuchtigkeit zirkulieren, ohne Hightech und Klimaanlage. Eine Erkenntnis, die aus der frohen Jugend von Vinu Daniel stammt, der mit seiner Familie in Dubai aufwuchs. „Die Wohnung, das Auto, die Schule, die Shoppingmall, alles sind klimatisierte Glasboxen. Als ich nach Indien kam, konnte ich mit den Gleichaltrigen nur 15 Minuten auf der Straße spielen, weil mir sofort heiß wurde. Heute jedoch wird Indien immer mehr wie Dubai, und das ist ein großes Problem. Unsere Körper entfremden sich von der Umwelt.“
Lehm und Laptop
Dies zu ändern war der Impuls für die Wahl des Architektenberufs, doch der Anfang war steinig. Eines der ersten Häuser baute Vinu Daniel aus Lehm für seine Mutter, die ihn prompt verstieß, weil alle Nachbarn ihr einredeten, dass es nach dem ersten Regen in sich zusammenfiele und sich ihre Ersparnisse in einer Schlammpfütze auflösen würden. Andere Projekte führten aus ähnlichen Gründen zu langwierigen Gerichtsverfahren. Sechs Jahre dauerte es, bis seine Mutter wieder mit ihm redete – heute, sagt er, liebt sie das Haus und will nirgendwo anders schlafen.
Eine geradezu biblische und möglicherweise auch erzählerisch etwas ausgeschmückte Geschichte von Exil und Versöhnung, Verzweiflung und Wiederauferstehung, die bis heute die Art des Arbeitens beeinflusst. Denn Wallmakers verstehen sich als nomadisches Team, das ganz ohne Büroräume auskommt. Die rund 15 Architektinnen und Architekten arbeiten einzeln auf der Baustelle oder in Co-Working-Spaces oder in Cafés, der Austausch erfolgt über Laptop und Smartphone. Eine Hand in der Erde, die andere auf dem Trackpad. Auch statische Berechnungen für die oft wagemutig gekurvten und gespannten Wände und Decken lassen sich auf dem Cafétisch erledigen: „Wir Inder tragen oft diese Halsketten namens Rudraksh, mit denen lassen sich ideale Bogenformen simulieren“, sagt Daniel. Ar Oshin Varughese hält organisatorisch alles zusammen. Seine Frau, sagt Daniel, sei verwurzelter und strukturierter als er. „Viele junge Architekten investieren viel Geld in Büroausstattung, um ihre Bauherren zu beeindrucken, dabei sollten sie lieber auf der Baustelle lernen, anstatt zu posieren“, sagt er.
Heute gibt es in Indien bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden insgesamt 14.000 Architekturbüros und 116.000 Architektinnen und Architekten, Tendenz stark steigend. Verstehen sich Wallmakers als Einzelfall? „Im Moment noch, ja“, sagt Daniel. „Aber es gibt immer mehr, die unserem Beispiel folgen und sich wieder an Gandhis Radius erinnern.“
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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