Artikel
Wohngebäude wie in „Squid Game“: Wenn die soziale Utopie scheitert

Fiktion und Wirklichkeit: Die Streaming-Serie „Squid Game“ bedient sich visuell ansprechender Settings, wie sie bereits vor längerer Zeit real errichtet wurden. Vor gesellschaftlichen Problemen feien diese schönen Bauten aber auch nicht immer.
26. Januar 2025 - Harald A. Jahn
Ein Kinderreim wurde zur Hymne der bisher erfolgreichsten Streaming-Serie: „Squid Game“. Gedreht in Südkorea, spielt die Show mit dem Kontrast lieblicher Sets und brutaler Handlung; eine Gruppe schwer verschuldeter Kandidaten muss koreanische Kinderspiele aus den 1970er-Jahren absolvieren – und realisiert erst währenddessen, dass ein Scheitern tödlich ist, während den Siegern eine riesige Gewinnsumme winkt. Bewacht von anonymisierten „Soldaten“, bewegen sich die Spieler durch farbenfrohe Sets der Designerin Chae Kyoung-Sun, die dafür tief in die Wunderkiste kunstgeschichtlicher Referenzen an die fernöstliche und europäische Kultur greift: Koreanische Kinderbücher aus den 1970er-Jahren und unbeschwerte Spiele in den sonnendurchfluteten Gassen von Seoul vermischen sich mit Zitaten aus europäischer Kunst und Architektur.
In der Serie treten die Kandidaten, die rasch dezimiert werden, auf Spielfeldern an, die wie überdimensionale Spielplätze oder Zirkuszelte aussehen, poppig-bunt und fröhlich. Kyoung-Sun vermied die üblichen Elemente von Survival Games bewusst, kontrastiert den Egoismus der siegeswilligen, immer brutaler werdenden Teilnehmer mit fast lächerlichen, ins riesige vergrößerten Spielgeräten wie Schaukeln, Rutschen oder kitschigen Puppen.
Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus
Die Farbwelt der Serie ist präzise kalkuliert: Gekleidet sind die Spieler in türkise Trainingsanzüge, die meistgetragene Farbe für Freizeitkleidung in Korea und damit so banal wie nur möglich; verfehlen sie das Etappenziel, werden sie disqualifiziert, sprich: von Soldaten in pinkfarbenen Overalls erschossen. Das fröhliche Pink wird damit zur Farbe der Angst. In den Nächten zwischen den Spielrunden wohnen sie in einem Schlafsaal, der an ein Hochregallager erinnert, die Designerin spielt damit auf die anonymisierte Gesellschaft des Landes an, in dem ständig überlastete Arbeitnehmer wie Roboter ihre Pflichten erfüllen, um dann in ihre wie geklont wirkenden „Appats“ zurückzukehren.
Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus: Hier ließ sich die Designerin vom Bild „Relativität“ von M. C. Escher inspirieren. Die Gravitation scheint aufgehoben, Treppen verlaufen in allen Raumdiagonalen, jede hat ihr eigenes Schwerkraftzentrum. In der Serie bewegen sich die Spieler und Soldaten im Gänsemarsch über die pastellbunten Pfade durch den labyrinthischen Raum, kreuz und quer, hoch und nieder. Dieses Atrium ist direkte Referenz an ein berühmtes Gebäude des katalanischen Architekten Ricardo Bofill: „La Muralla Roja“, ein Apartmentkomplex in Calpe nahe Alicante an der Südküste von Spanien.
Die frühen Gebäude des 2022 verstorbenen Architekten sind skulpturale gesellschaftliche Utopien der 1960er-/1970er-Jahre und basieren stilistisch auf der Verbindung von spanischer und arabischer Architektur. Sie tragen Namen wie „Kafkas Schloss“, „Xanadu“ oder eben „die Rote Mauer“: Hier werden Apartments auf- und aneinander gestapelt, die sie erschließenden Innenhöfe sind intim, kleine Treppen führen zu den Wohneinheiten, überall entstehen überraschende Durchblicke. Der in den 1970er-Jahren übliche Ansatz, in Modulen zu denken, wurde von kaum einem anderen Architekten so konsequent, aber auch so überzeugend umgesetzt. Vielen anderswo verwirklichten ähnlichen Konzepten dieser Brutalismus-Epoche fehlen die „Weichmacher“: Bofills menschliche Dimensionen, die Farben, die Leichtigkeit.
Sein größtes Wohnhaus dieser Epoche ist „Walden 7“ an der Peripherie von Barcelona, gleich neben der ehemaligen Zementfabrik, in der Bofill sein Büro „Taller de Arquitectura“ angesiedelt hat. Von außen wirkt das Haus wie ein Bienenstock, braun und etwas abweisend. Innen wird es aber zur harmonischen senkrechten Dorfgemeinschaft, natürliche Ziegelwände und ein sattes Türkis ergeben zusammen mit den gerundeten Brüstungen und Erkern ein weiches, natürliches Raumerlebnis. Auch hier verbinden etliche Brücken die kleinen Vorplätze der Wohneinheiten, die Struktur wirkt wie natürlich gewachsen, ähnlich den Gassenlabyrinthen von Marokko. Zentrum sind auch hier Atriumhöfe, von denen aus die Apartments erschlossen werden; etwas nachteilig ist vielleicht die Dunkelheit der unteren Geschoße, dafür sorgen gebäudehohe Durchbrüche für kühlenden Wind am oft heißen Stadtrand der Küstenmetropole.
„Villes Nouvelles“: monströse Wohnbauten mit Fertigteilfassaden
Später verloren Bofills Bauten ihre verspielte Unschuld – und wurden selbst zu Filmkulissen. Seine Arbeit verlagerte sich nach Frankreich: In Montpellier entstand mit „Antigone“ ein postmodernes Stadtviertel entlang einer neuen Achse zum Fluss Lez; der Name spielt nicht nur auf die inzwischen neoklassizistisch geprägte Architektur an, sondern ist auch Antwort auf ein Einkaufszentrum namens Polygone, das wie ein Korken zwischen dem historischen Zentrum und dem Weg zum Fluss sitzt.
Die Platzräume von „Antigone“ wirken trotz ihres Pathos durch die Begrünung und die Geschäfte lebendig, die Projekte in Paris hatten dagegen bald einen schlechten Ruf: Um die Kernstadt entstanden die „Villes Nouvelles“, und in diesen oft ortlosen Neubauquartieren wollte Bofill mit ikonischen Großbauten Identifikationsorte schaffen. Das ging nicht immer gut. Während seine Ferienwohnhäuser unter der spanischen Sonne pastellgrell in der Sonne strahlen, stehen im Großraum Paris einige verwechselbare und monströse Wohnbauten mit immer ähnlichen Fertigteil-Fassadenelementen.
„Versailles fürs Volk“
Die größten und bekanntesten sind die „Espaces d’Abraxas“: Geplant als „Versailles fürs Volk“, zogen die anfangs begeisterten Middle-Class-Bewohner und Künstler aber bald ernüchtert aus, wegen Sozialproblemen stand der Komplex sogar knapp vor dem Abriss. Hier hat die große Geste über den Anspruch menschlicher Architektur gesiegt, mangelnde Instandhaltung brachte Verwahrlosung, auf den Treppchen und Erschließungsbrücken wurde gedealt. Heute sind die Banlieues stigmatisiert; Bofills Bauwerke brachten keine Besserung für die Vorstädte.
Die drei Bauten von Abraxas sollten zusammen einen Theaterraum bilden; die auf dieser Bühne inszenierte städtische Utopie wurde ein Misserfolg, wie der Architekt später zugab, die soziale Durchmischung gelang nicht. Schauspieler sind trotzdem häufig zu Gast. Bofills fröhlich-bunte Mauern der 1970er-Jahre boten den willkommenen Kontrast zur blutigen Handlung von „Squid Game“; Abraxas war dagegen schon mehrfach direkte und dystopische Kulisse für cineastische Albträume: Terry Gilliams Groteske „Brazil“ wurde ebenso hier gedreht wie „Die Tribute von Panem“. Auch Bofill sah die soziale Utopie hier als gescheitert an.
In der Serie treten die Kandidaten, die rasch dezimiert werden, auf Spielfeldern an, die wie überdimensionale Spielplätze oder Zirkuszelte aussehen, poppig-bunt und fröhlich. Kyoung-Sun vermied die üblichen Elemente von Survival Games bewusst, kontrastiert den Egoismus der siegeswilligen, immer brutaler werdenden Teilnehmer mit fast lächerlichen, ins riesige vergrößerten Spielgeräten wie Schaukeln, Rutschen oder kitschigen Puppen.
Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus
Die Farbwelt der Serie ist präzise kalkuliert: Gekleidet sind die Spieler in türkise Trainingsanzüge, die meistgetragene Farbe für Freizeitkleidung in Korea und damit so banal wie nur möglich; verfehlen sie das Etappenziel, werden sie disqualifiziert, sprich: von Soldaten in pinkfarbenen Overalls erschossen. Das fröhliche Pink wird damit zur Farbe der Angst. In den Nächten zwischen den Spielrunden wohnen sie in einem Schlafsaal, der an ein Hochregallager erinnert, die Designerin spielt damit auf die anonymisierte Gesellschaft des Landes an, in dem ständig überlastete Arbeitnehmer wie Roboter ihre Pflichten erfüllen, um dann in ihre wie geklont wirkenden „Appats“ zurückzukehren.
Ein zentrales Filmset ist das Stiegenhaus: Hier ließ sich die Designerin vom Bild „Relativität“ von M. C. Escher inspirieren. Die Gravitation scheint aufgehoben, Treppen verlaufen in allen Raumdiagonalen, jede hat ihr eigenes Schwerkraftzentrum. In der Serie bewegen sich die Spieler und Soldaten im Gänsemarsch über die pastellbunten Pfade durch den labyrinthischen Raum, kreuz und quer, hoch und nieder. Dieses Atrium ist direkte Referenz an ein berühmtes Gebäude des katalanischen Architekten Ricardo Bofill: „La Muralla Roja“, ein Apartmentkomplex in Calpe nahe Alicante an der Südküste von Spanien.
Die frühen Gebäude des 2022 verstorbenen Architekten sind skulpturale gesellschaftliche Utopien der 1960er-/1970er-Jahre und basieren stilistisch auf der Verbindung von spanischer und arabischer Architektur. Sie tragen Namen wie „Kafkas Schloss“, „Xanadu“ oder eben „die Rote Mauer“: Hier werden Apartments auf- und aneinander gestapelt, die sie erschließenden Innenhöfe sind intim, kleine Treppen führen zu den Wohneinheiten, überall entstehen überraschende Durchblicke. Der in den 1970er-Jahren übliche Ansatz, in Modulen zu denken, wurde von kaum einem anderen Architekten so konsequent, aber auch so überzeugend umgesetzt. Vielen anderswo verwirklichten ähnlichen Konzepten dieser Brutalismus-Epoche fehlen die „Weichmacher“: Bofills menschliche Dimensionen, die Farben, die Leichtigkeit.
Sein größtes Wohnhaus dieser Epoche ist „Walden 7“ an der Peripherie von Barcelona, gleich neben der ehemaligen Zementfabrik, in der Bofill sein Büro „Taller de Arquitectura“ angesiedelt hat. Von außen wirkt das Haus wie ein Bienenstock, braun und etwas abweisend. Innen wird es aber zur harmonischen senkrechten Dorfgemeinschaft, natürliche Ziegelwände und ein sattes Türkis ergeben zusammen mit den gerundeten Brüstungen und Erkern ein weiches, natürliches Raumerlebnis. Auch hier verbinden etliche Brücken die kleinen Vorplätze der Wohneinheiten, die Struktur wirkt wie natürlich gewachsen, ähnlich den Gassenlabyrinthen von Marokko. Zentrum sind auch hier Atriumhöfe, von denen aus die Apartments erschlossen werden; etwas nachteilig ist vielleicht die Dunkelheit der unteren Geschoße, dafür sorgen gebäudehohe Durchbrüche für kühlenden Wind am oft heißen Stadtrand der Küstenmetropole.
„Villes Nouvelles“: monströse Wohnbauten mit Fertigteilfassaden
Später verloren Bofills Bauten ihre verspielte Unschuld – und wurden selbst zu Filmkulissen. Seine Arbeit verlagerte sich nach Frankreich: In Montpellier entstand mit „Antigone“ ein postmodernes Stadtviertel entlang einer neuen Achse zum Fluss Lez; der Name spielt nicht nur auf die inzwischen neoklassizistisch geprägte Architektur an, sondern ist auch Antwort auf ein Einkaufszentrum namens Polygone, das wie ein Korken zwischen dem historischen Zentrum und dem Weg zum Fluss sitzt.
Die Platzräume von „Antigone“ wirken trotz ihres Pathos durch die Begrünung und die Geschäfte lebendig, die Projekte in Paris hatten dagegen bald einen schlechten Ruf: Um die Kernstadt entstanden die „Villes Nouvelles“, und in diesen oft ortlosen Neubauquartieren wollte Bofill mit ikonischen Großbauten Identifikationsorte schaffen. Das ging nicht immer gut. Während seine Ferienwohnhäuser unter der spanischen Sonne pastellgrell in der Sonne strahlen, stehen im Großraum Paris einige verwechselbare und monströse Wohnbauten mit immer ähnlichen Fertigteil-Fassadenelementen.
„Versailles fürs Volk“
Die größten und bekanntesten sind die „Espaces d’Abraxas“: Geplant als „Versailles fürs Volk“, zogen die anfangs begeisterten Middle-Class-Bewohner und Künstler aber bald ernüchtert aus, wegen Sozialproblemen stand der Komplex sogar knapp vor dem Abriss. Hier hat die große Geste über den Anspruch menschlicher Architektur gesiegt, mangelnde Instandhaltung brachte Verwahrlosung, auf den Treppchen und Erschließungsbrücken wurde gedealt. Heute sind die Banlieues stigmatisiert; Bofills Bauwerke brachten keine Besserung für die Vorstädte.
Die drei Bauten von Abraxas sollten zusammen einen Theaterraum bilden; die auf dieser Bühne inszenierte städtische Utopie wurde ein Misserfolg, wie der Architekt später zugab, die soziale Durchmischung gelang nicht. Schauspieler sind trotzdem häufig zu Gast. Bofills fröhlich-bunte Mauern der 1970er-Jahre boten den willkommenen Kontrast zur blutigen Handlung von „Squid Game“; Abraxas war dagegen schon mehrfach direkte und dystopische Kulisse für cineastische Albträume: Terry Gilliams Groteske „Brazil“ wurde ebenso hier gedreht wie „Die Tribute von Panem“. Auch Bofill sah die soziale Utopie hier als gescheitert an.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroom