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Von der Mega-Stadt zur Meta-Stadt
Neue Zürcher Zeitung

Die urbane Zukunft und ihre Planer - eine Tagung in Ulm

1. Oktober 1999 - Oliver Herwig
Das komplexeste Werk von Menschenhand steckt in der Krise. Mit einem Mal werden die Schattenseiten der Stadt sichtbar, die an ihrem rasanten Aufstieg zugrunde zu gehen droht: wie eine Supernova, die schliesslich unter der eigenen Schwerkraft zusammenbricht. In weniger als einer Generation werden zwei von drei Menschen in Ballungsräumen leben, die längst nicht mehr den Namen «Stadt» verdienen. Das europäische Modell hat damit ausgedient, und mit ihm die Planungssicherheit von Architekten und Kommunen. Es löst sich vor ihren Augen auf, kaum dass sie den Zirkel in die Hand genommen, den Computer hochgefahren oder den Aktendeckel aufgeschlagen haben. Der ökologische und logistische Kollaps der Megastädte hat begonnen. Und doch: nirgendwo scheint der Moloch Stadt lebendiger, nirgendwo regenerieren sich seine Glieder schneller als dort, wo er seine Bewohner verschlingt.

Liegt die Krise vielleicht woanders - begründet weniger in einer sich rasant ändernden Realität als vielmehr in unserer Wahrnehmung? Schon jetzt ist dem Phänomen «Stadt» nur noch als Metapher beizukommen: «Dschungel», «Krebsgeschwür» und «Organismus» mögen stellvertretend stehen für all jene biologistischen Bilder und Assoziationsketten, die den sozialen Raum, das Interaktions- und Experimentierfeld «Stadt», dadurch zu fassen suchen, dass sie es vollends aus dem rationalen Blickfeld entlassen und ihm den Charakter einer Naturgrösse verleihen.

Wie lautet die Diagnose der Architekten? Zunächst fällt auf, wie stark auch ihre Terminologie im Fluss ist und ihrerseits diskutabel wird: als gelte es, die eigene Basis zu sichern, bevor man Vorstösse ins Unbekannte unternimmt. Mit Sorge verfolgten Fachleute unlängst auf einer Tagung des IFG Ulm die Auflösung der Stadt durch physische Gewalt und falsche Ideologien. Aufgabe heutiger Architekten müsse es deshalb sein, so Helmut Spieker, weniger Einzelgebäude zu errichten als vielmehr Stadträume. Zugleich gelte es, Abschied zu nehmen von Planungsinstrumenten, die «sich vor allem dadurch auszeichnen, dass mit ihnen stets der zweite oder gar dritte Schritt vor dem ersten getan werde, die Festlegung der gebauten Zukunft durch konkrete Bebauungspläne, mit festen Bautypen, die sie bilden sollen». Er plädierte für offene Systeme, die «Spielraum lassen für individuelle Möglichkeiten der Nutzung und der Form, damit Vielfalt entstehen kann» und die zu revidieren seien, wenn neue Erkenntnisse dies verlangten oder nahelegten.

Offenheit und Vitalität des Urbanen charakterisieren auch Überlegungen des Zürcher Architekten Marc Angélil, wenn er die Stadt als Rhizom fasst, dessen wild wuchernde Wurzelsysteme jeder rationalen Ordnung widersprächen und als «neuer Typus pluralistischer Beziehungssetzungen» zu sehen seien: heterogen, mannigfaltig und voller asignifikanter Brüche. Noch einen Schritt weiter geht der Kölner Ulrich Königs, wenn er das urbane System und seinen bisher festgefügten Planungs- und Herrschaftsraum mit Entwicklungsprozessen im Internet konfrontiert. - Mit den zunehmend als grosse Simulation oder als virtuelle «Metastädte» verstandenen Metropolen ändert sich auch die Rolle der Architekten: vom Schöpfer zum Moderator, der den Prozess einer Stadtentwicklung hilfreich beobachtet, aber selbst nicht durch Herrschaftswissen Macht ausübt, sondern seine Kenntnisse bereitwillig weitergibt: eine Utopie, die alle Wünsche und Sehnsüchte des frühen Jahrhunderts von der klassenlosen Gesellschaft in die imaginären Weiten des Internets verlagert und dort wohl auch endgültig begräbt. Denn mit der fortschreitenden Kommerzialisierung des Netzes dürfte auch der Traum des herrschaftsfreien Raums zu einer Anekdote in Diskussionsforen werden.

Wesentlich realer als die Konkurrenz dieser Modelle scheint bereits heute der Wettstreit der Regionen und Stadtlandschaften in Europa, aber auch in Asien, Amerika und Afrika. Die allgemeine Globalisierung ist auch eine der Stadt und ihres bereits heute weltweiten Hinterlands. Dabei werden attraktive Standorte zunehmend danach gemessen, ob sie neben der notwendigen Infrastruktur auch Lebensqualität bieten, also nachhaltig mit den Ressourcen umgehen und die Kriterien der «Agenda 21» erfüllen. So ist die eben konstatierte Krise womöglich nur das allgemeinste Kennzeichen für «Stadt», ein Fingerzeig auf ihre Potenz und Wandelbarkeit.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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