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Die Krisenbewältigungsakquisiteure
Der Standard

Warten auf einen Auftrag? Das war gestern! Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder suchen sich ihre Projekte selbst und greifen dann zum Telefon: Hallo, Bürgermeister? Kommendes Wochenende halten die beiden einen Vortrag beim Architekturfestival Turn On in Wien.

8. März 2025 - Wojciech Czaja
Früher einmal, als die Bäckerei Seidenschnur noch in Betrieb war, lagen in der Vitrine Brezen, Brötchen und Berliner. Heute sind darin Holz- und Kartonmodelle jener Projekte ausgestellt, an denen Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder gerade arbeiten. Und so wie dereinst ihre Vorgängerinnen in der Berliner Gotzkowskystraße 33, Bezirk Moabit, verstehen Jurek und Aimée, 31 Jahre alt, ihren Job in allererster Linie als Handwerk, als eine Sache, die man so richtig anpacken und durchkneten muss. „Es gibt mehr als genug zu tun da draußen“, sagen die beiden. „Aber die Projekte fliegen einem nicht zu. Es ist daher unsere Aufgabe als Planer, als Umweltgestalterinnen, die Welt zu beobachten und mitunter selbst die Initiative zu ergreifen.“

So wie damals vor ein paar Jahren, als in den späten Abendstunden der ICE plötzlich Halt machte und die Passagiere gezwungen waren, in Stendal, Sachsen-Anhalt, 100 Kilometer westlich von Berlin, auszusteigen und sich die Nacht um die Ohren zu schlagen. Am nächsten Morgen dann ein Spaziergang durch die Altstadt mit ihren hübschen Backstein- und Fachwerkhäuschen, aber auch durch die Neustadt mit ihren unzähligen DDR-Plattenbauten, Typ WBS 70. Einige davon waren längst schon abgerissen, an ihrer Stelle nun Einfamilienhäuser und grüne Blumenwiesen, andere hingegen standen zu Dutzenden noch leer, ungenutzte Geisterburgen mit toten Fenstern, so weit das Auge reicht. Und so kam den beiden eine Idee, die sie im Rahmen des Architekturfestivals Turn On im ORF-Radiokulturhaus kommendes Wochenende vorstellen werden.

Blick bis zum Horizont

„Während in Berlin massive Wohnungsnot herrscht, stehen hier, mit der Bahn gerade mal 34 Minuten von der Stadtgrenze und 49 Minuten vom Berliner Hauptbahnhof entfernt, hunderte, ja vielleicht sogar tausende Wohnungen leer“, sagen Jurek und Aimée, die erst kürzlich eine neue Büroplattform gegründet haben, Association for Ecological Architecture, kurz AFEA. „Also haben wir den Bürgermeister, den Stadtentwicklungsausschuss und die größten und wichtigsten Wohnbaugenossenschaften der Stadt kontaktiert und ihnen vorgeschlagen, die WBS-70-Platte umzubauen – in ein sogenanntes Einfamilienhaus-Haus.“

Das Konzept dahinter: Die Deckenplatten und aussteifenden Wandscheiben der standardisierten Wohnmaschine werden von oben nach unten so weit abgetragen, dass eine abwechslungsreiche Silhouette mit privaten Gärten und Dachterrassen entsteht. Die Betonfassade wird mit vorgefertigten Holzelementen gedämmt. Und was einst auf 2,50 Meter Raumhöhe beschränkt war, soll mit internen Treppen nun zu zwei- und dreigeschoßigen Wohneinheiten verbunden werden. „Am Ende soll man das Gefühl haben, in einem Einfamilienhaus im vierten, fünften, sechsten Stock zu wohnen, mit Blick bis zum Horizont – und noch dazu mit gutem ökologischem Gewissen.“

Der Wohnbauträger hat bereits sein Okay gegeben, im Sommer soll der kontrollierte Teilabbruch starten. „Wir wollen das Projekt im Rahmen eines geförderten Forschungsprojekts als Pilot umsetzen und die Wohnungen für unter zehn Euro pro Quadratmeter vermieten“, sagt Lars Schirmer, kaufmännischer Vorstand der WBGA Wohnungsbau-Genossenschaft Altmark, auf Anfrage des ΔTANDARD. „Es ist eine skalierbare, CO2 -intelligente und sozialpolitisch interessante Lösung, die in vielen Städten im Berliner Umraum Anwendung finden könnte. Wenn alles klappt, denke ich, könnte das Projekt Nachahmer finden und in die Breite ausgerollt werden.“

Für Jurek Brüggen und Aimée Michelfelder ist es nicht das erste Mal, dass sie mit E-Mail, Anrufen und konsequenter Kaltakquise bei den Stadtobersten einen Auftrag an Land ziehen konnten. Auch in Werben an der Elbe, mit 400 Einwohnern offiziell die kleinste Hansestadt Deutschlands, waren es unzählige Anrufe beim Stadtrat und beim Bürgermeister, die schließlich dazu geführt haben, dass die ehemalige Komturei, ein denkmalgeschütztes Ensemble mitten in der Stadt, nun saniert und revitalisiert wird. Geplant ist ein ökologisches, postfossiles Modellprojekt mit Ferienwohnungen, betreutem Seniorenwohnhaus und Arbeitslofts für die Kreativwirtschaft. Ein Teil ist bereits in Bau, mit ökologischen Baustoffen und kreislauffähigen Produkten, und soll noch vor Jahresende fertiggestellt werden.

„Mittlerweile, fürchten wir, ist kein Bürgermeister mehr vor uns sicher“, sagen die beiden, die auch schon in Basel, Uzwil, Lichtenberg, Mühlberg an der Elbe und Werder an der Havel die Telefone läuten ließen. „Denn egal wohin es uns verschlägt, fällt uns sofort ein Projekt auf, mit dem wir in der Gemeinde vorstellig werden wollen. Wir wollen nicht warten, bis man an uns herantritt. Wir sind Teil einer Generation, die in der Krise nun selbst auf den Plan treten muss.“

Krisenmedizin: 20 Stunden Architektur

Die Chance in der Krise: Unter diesem brisanten Generalmotto steht die nunmehr 23. Ausgabe des Architekturfestivals Turn On, das unter der Schirmherrschaft von Margit Ulama Architektinnen, Bauherren, Bauträger, Fachplanerinnen und Politiker zusammentrommelt, um im Zeitalter prekären Jammerns über Potenziale und Best-Practice-Projekte aus ganz Europa zu sinnieren. Auf dem Programm stehen diesmal Holzbau, Kraftwerke, Bio-Gewerbebauten, nachhaltige Stadtentwicklung und smartes Weiterbauen im Bestand. Mit Vorträgen von AFEA, FAR frohn & rojas, Barkow Leibinger, B.K.P.Š. (Bratislava), Franz & Sue, Pichler & Traupmann, Innauer Matt, Henke Schreieck, Shibukawa Eder, Schenker Salvi Weber, Staab Architekten, Sam Jajob (Die Angewandte), der ehemaligen Berliner Staatssekretärin und Senatsbaudirektorin Regula Lüscher und vielen mehr.

Von Donnerstag, 13. März, 15.30 Uhr bis Samstag, 15. März, 22 Uhr. ORF-Radiokulturhaus, Argentinierstraße 30a, 1040 Wien.

Eintritt frei.

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