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„Jedes Gesicht ist Architektur“

Der Chicagoer Künstler Chris Ware gilt als einer der einflussreichsten Comic-Zeichner der Gegenwart. Das CCCB in Barcelona widmet ihm nun eine riesige Ausstellung. Ein Gespräch über Charlie Brown, Mies van der Rohe und Häuser mit Sprechblasen.
12. April 2025 - Wojciech Czaja
Er hat die Cover des Magazins The New Yorker gestaltet. Seine Figuren wie etwa Rusty Brown, Jimmy Corrigan, Quimby the Mouse oder die Building Stories, in denen Gebäude zum Leben erwachen und ihre Erinnerungen in Sprech- und Denkblasen anschaulich gemacht werden, wurden bereits vielfach ausgezeichnet. Vor wenigen Tagen hat seine europäische Wanderausstellung – nach Paris, Basel, Leipzig, Haarlem und Pordenone – die sechste und letzte Station erreicht: Mit Chris Ware. Dibuixar és pensar („Zeichnen ist Denken“), kuratiert von Jordi Costa, macht das Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB) nun erstmals seinen historischen Keller zugänglich – und offenbart darin riesige Comic-Collagen und kleine, skulpturale Schätze.
STANDARD: Ihren Eintritt in die Welt der Comics, haben Sie einmal im Interview gesagt, verdanken Sie Charlie Brown. Warum ausgerechnet ihm?
Ware: Charlie Brown ist die allererste Figur in der Geschichte des Comics, die so etwas wie Empathie mitbringt – mit Traurigkeit und Nachdenklichkeit, stets am Grübeln über den Sinn des Lebens. In einer Folge, ich war damals noch ein Kind, erzählt Charlie Brown, dass er noch nie eine Valentinskarte bekommen hat. Also habe ich mich hingesetzt, eine Valentinskarte geschrieben und sie an den Verlag geschickt.
STANDARD: Sind Sie auch ein Charlie Brown? Für Ihre Fans sind Sie eher Superman!
Ware: Das schmeichelt mir sehr, danke! Aber ich war Außenseiter in der Schule, und das bin ich bis heute. Ich kann mich mit Charlie Brown sehr gut identifizieren.
STANDARD: In der Ausstellung im CCCB sieht man, dass die Architektur schon in Ihren frühen Arbeiten einen großen Stellenwert einnimmt. Raum und Hintergrund werden mit der gleichen Liebe behandelt wie die Figuren selbst.
Ware: Ein Leben ohne Raum ist undenkbar. Sobald wir als Baby damit anfangen, unsere Welt zu erfassen, besteht sie aus einer x-, y- und z-Achse. Bis zum Tod sind wir permanent von Architektur umgeben. Ich kann gar nicht anders, als den Raum mitzuzeichnen.
STANDARD: Mit wenigen Strichen schaffen Sie es, die Essenz eines Chrysler Building oder eines Wrigley Building einzufangen. Woher nehmen Sie Ihre Expertise?
Ware: Als Kind wollte ich immer Architekt werden. Und nun lebe ich seit fast schon 40 Jahren in Oak Park, Chicago, und bin umgeben von Genies wie Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright, Bertrand Goldberg oder Ludwig Mies van der Rohe.
STANDARD: Sogar Ihre Figuren haben etwas Konstruiertes und erinnern an Bauhaus und Postmoderne!
Ware: Ein einzelnes Comic-Bild, muss man wissen, ist keine Zeichnung, die nach den Prinzipien eines singulären Kunstwerks funktioniert, sondern eher eine Art Hieroglyphe. Figur, Körpersprache und Gesichtsausdruck sind so etwas wie konstruierte Architektur – damit man sie wie eine Schrift erfassen und schnell zum nächsten Bild weiterlesen kann.
STANDARD: Mit den „Buildings Stories“ erwachen Ihre Gebäude nun selbst zum Leben und fangen an, mit Sprech- und Denkblasen mit uns zu kommunizieren.
Ware: Mein Freund Tim Samuelson, seines Zeichens Kulturhistoriker, sagt immer: „Die Seele eines Hauses fängt am Türknauf an.“ Hier findet der erste physische Kontakt statt, hier macht sich die Geschichte von hunderten und abertausenden Händen manifest. Gute Architekten verstehen es, diesen Erstkontakt mit Liebe zu gestalten. Seitdem glaube ich, dass diese Häuser viel zu erzählen haben.
STANDARD: Was erzählen sie uns?
Ware: Sie erzählen, wer sie gebaut und wer in ihnen schon mal gewohnt hat, wer darin geliebt, geweint, geschrien, gestritten und gefeiert hat und wie die Frau im dritten Stock als alleinstehende Mutter ihr schwieriges Leben managt, wie sie kämpft und flucht und dennoch nicht verzweifelt.
STANDARD: Es fällt auf, dass in Ihren Comics nur ältere Häuser nachdenklich und redselig sind. Die Moderne und die Gegenwart schweigen. Warum?
Ware: Die schönste und reichste Zeit, was Architektur betrifft, war für mich zwischen 1895 und 1915. In dieser Zeit sind Bauwerke von einer unfassbaren Schönheit entstanden. Und ja, diesen Häusern gebe ich am liebsten eine Stimme.
STANDARD: 2004 haben Sie gemeinsam mit Tim Samuelson einen Film gemacht. In „Lost Buildings“ geht es um die Zerstörung von historischen Bauten, die Platz machen für ein Hochhaus von Mies van der Rohe.
Ware: Das ist ein autobiografischer Comic-Film, in dem der Abbruch von ein paar wirklich schönen Bauwerken dokumentiert wird – ob das nun das Old Federal Building, die Chicago Stock Exchange oder das Kaufhaus Rothschild & Brothers ist. Und Tim, Jahrgang 1951, der damals an die zehn Jahre alt gewesen sein muss, offenbart im Film seine Gefühle und Beobachtungen.
STANDARD: In einer Szene sieht man, wie der kleine Tim in den Gelben Seiten das Büro von Mies van der Rohe ausfindig macht und den Meister höchstpersönlich aufsucht.
Ware: Eine wahre Begebenheit! Tim ist damals direkt in Mies van der Rohes Büro hineinspaziert und hat ihm gesagt, er wolle nicht, dass das Old Federal Building abgerissen werde, weil das so ein schönes Haus sei.
STANDARD: Was hat Mies van der Rohe darauf geantwortet?
Ware: „Lieber Junge, das ist der Lauf der Dinge. Und ich hoffe, dass du eines Tages auf das neue Gebäude schauen wirst und darin die gleiche Art von Schönheit entdecken wirst, der du heute nachtrauerst.“
STANDARD: Und? Hat Tim die Schönheit wiedergefunden?
Ware: Nein, ich fürchte nicht wirklich.
STANDARD: Und Sie, der Zeichner?
Ware: Ach, was soll ich Ihnen sagen! Ich tue mir schwer mit der Architektur ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Vom kulturellen Untergang zeitgenössischen Bauens traue ich mich gar nicht erst zu sprechen. Natürlich gibt es tolle Architekten wie Rem Koolhaas, Renzo Piano oder von mir aus auch Santiago Calatrava, die es verstehen, Schönheit zu erschaffen. Aber die 99 Prozent des Gebauten, die seelenlos in der Gegend herumstehen, die machen mich nur traurig und aggressiv.
STANDARD: Findet man diese 99-Prozent-Gebäude in Ihren Comics?
Ware: Nein.
STANDARD: Wenn dem so wäre, was würden sich die Neubauten denken?
Ware: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie angesichts ihrer mangelnden Empathie überhaupt irgendwas denken.
STANDARD: Angenommen, Charlie Brown wäre Architekt: Wie würde ein Haus aus seiner Feder aussehen?
Ware: Was für ein schöner Gedanke! Es wäre ein Haus, das aus einer Handskizze heraus geboren ist. Es wäre ein Haus, das Wärme ausstrahlt, ohne nostalgisch zu sein. Und es wäre eine Architektur, die dem Menschen endlich wieder Würde und Freude schenkt – anstatt sie ihm immer nur zu rauben.
Compliance-Hinweis: Die Reise nach Barcelona erfolgte auf Einladung des CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona. Die Ausstellung „Chris Ware. Dibuixar és pensar“ ist noch bis 9. November 2025 zu sehen. cccb.org
STANDARD: Ihren Eintritt in die Welt der Comics, haben Sie einmal im Interview gesagt, verdanken Sie Charlie Brown. Warum ausgerechnet ihm?
Ware: Charlie Brown ist die allererste Figur in der Geschichte des Comics, die so etwas wie Empathie mitbringt – mit Traurigkeit und Nachdenklichkeit, stets am Grübeln über den Sinn des Lebens. In einer Folge, ich war damals noch ein Kind, erzählt Charlie Brown, dass er noch nie eine Valentinskarte bekommen hat. Also habe ich mich hingesetzt, eine Valentinskarte geschrieben und sie an den Verlag geschickt.
STANDARD: Sind Sie auch ein Charlie Brown? Für Ihre Fans sind Sie eher Superman!
Ware: Das schmeichelt mir sehr, danke! Aber ich war Außenseiter in der Schule, und das bin ich bis heute. Ich kann mich mit Charlie Brown sehr gut identifizieren.
STANDARD: In der Ausstellung im CCCB sieht man, dass die Architektur schon in Ihren frühen Arbeiten einen großen Stellenwert einnimmt. Raum und Hintergrund werden mit der gleichen Liebe behandelt wie die Figuren selbst.
Ware: Ein Leben ohne Raum ist undenkbar. Sobald wir als Baby damit anfangen, unsere Welt zu erfassen, besteht sie aus einer x-, y- und z-Achse. Bis zum Tod sind wir permanent von Architektur umgeben. Ich kann gar nicht anders, als den Raum mitzuzeichnen.
STANDARD: Mit wenigen Strichen schaffen Sie es, die Essenz eines Chrysler Building oder eines Wrigley Building einzufangen. Woher nehmen Sie Ihre Expertise?
Ware: Als Kind wollte ich immer Architekt werden. Und nun lebe ich seit fast schon 40 Jahren in Oak Park, Chicago, und bin umgeben von Genies wie Louis Sullivan, Frank Lloyd Wright, Bertrand Goldberg oder Ludwig Mies van der Rohe.
STANDARD: Sogar Ihre Figuren haben etwas Konstruiertes und erinnern an Bauhaus und Postmoderne!
Ware: Ein einzelnes Comic-Bild, muss man wissen, ist keine Zeichnung, die nach den Prinzipien eines singulären Kunstwerks funktioniert, sondern eher eine Art Hieroglyphe. Figur, Körpersprache und Gesichtsausdruck sind so etwas wie konstruierte Architektur – damit man sie wie eine Schrift erfassen und schnell zum nächsten Bild weiterlesen kann.
STANDARD: Mit den „Buildings Stories“ erwachen Ihre Gebäude nun selbst zum Leben und fangen an, mit Sprech- und Denkblasen mit uns zu kommunizieren.
Ware: Mein Freund Tim Samuelson, seines Zeichens Kulturhistoriker, sagt immer: „Die Seele eines Hauses fängt am Türknauf an.“ Hier findet der erste physische Kontakt statt, hier macht sich die Geschichte von hunderten und abertausenden Händen manifest. Gute Architekten verstehen es, diesen Erstkontakt mit Liebe zu gestalten. Seitdem glaube ich, dass diese Häuser viel zu erzählen haben.
STANDARD: Was erzählen sie uns?
Ware: Sie erzählen, wer sie gebaut und wer in ihnen schon mal gewohnt hat, wer darin geliebt, geweint, geschrien, gestritten und gefeiert hat und wie die Frau im dritten Stock als alleinstehende Mutter ihr schwieriges Leben managt, wie sie kämpft und flucht und dennoch nicht verzweifelt.
STANDARD: Es fällt auf, dass in Ihren Comics nur ältere Häuser nachdenklich und redselig sind. Die Moderne und die Gegenwart schweigen. Warum?
Ware: Die schönste und reichste Zeit, was Architektur betrifft, war für mich zwischen 1895 und 1915. In dieser Zeit sind Bauwerke von einer unfassbaren Schönheit entstanden. Und ja, diesen Häusern gebe ich am liebsten eine Stimme.
STANDARD: 2004 haben Sie gemeinsam mit Tim Samuelson einen Film gemacht. In „Lost Buildings“ geht es um die Zerstörung von historischen Bauten, die Platz machen für ein Hochhaus von Mies van der Rohe.
Ware: Das ist ein autobiografischer Comic-Film, in dem der Abbruch von ein paar wirklich schönen Bauwerken dokumentiert wird – ob das nun das Old Federal Building, die Chicago Stock Exchange oder das Kaufhaus Rothschild & Brothers ist. Und Tim, Jahrgang 1951, der damals an die zehn Jahre alt gewesen sein muss, offenbart im Film seine Gefühle und Beobachtungen.
STANDARD: In einer Szene sieht man, wie der kleine Tim in den Gelben Seiten das Büro von Mies van der Rohe ausfindig macht und den Meister höchstpersönlich aufsucht.
Ware: Eine wahre Begebenheit! Tim ist damals direkt in Mies van der Rohes Büro hineinspaziert und hat ihm gesagt, er wolle nicht, dass das Old Federal Building abgerissen werde, weil das so ein schönes Haus sei.
STANDARD: Was hat Mies van der Rohe darauf geantwortet?
Ware: „Lieber Junge, das ist der Lauf der Dinge. Und ich hoffe, dass du eines Tages auf das neue Gebäude schauen wirst und darin die gleiche Art von Schönheit entdecken wirst, der du heute nachtrauerst.“
STANDARD: Und? Hat Tim die Schönheit wiedergefunden?
Ware: Nein, ich fürchte nicht wirklich.
STANDARD: Und Sie, der Zeichner?
Ware: Ach, was soll ich Ihnen sagen! Ich tue mir schwer mit der Architektur ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Vom kulturellen Untergang zeitgenössischen Bauens traue ich mich gar nicht erst zu sprechen. Natürlich gibt es tolle Architekten wie Rem Koolhaas, Renzo Piano oder von mir aus auch Santiago Calatrava, die es verstehen, Schönheit zu erschaffen. Aber die 99 Prozent des Gebauten, die seelenlos in der Gegend herumstehen, die machen mich nur traurig und aggressiv.
STANDARD: Findet man diese 99-Prozent-Gebäude in Ihren Comics?
Ware: Nein.
STANDARD: Wenn dem so wäre, was würden sich die Neubauten denken?
Ware: Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie angesichts ihrer mangelnden Empathie überhaupt irgendwas denken.
STANDARD: Angenommen, Charlie Brown wäre Architekt: Wie würde ein Haus aus seiner Feder aussehen?
Ware: Was für ein schöner Gedanke! Es wäre ein Haus, das aus einer Handskizze heraus geboren ist. Es wäre ein Haus, das Wärme ausstrahlt, ohne nostalgisch zu sein. Und es wäre eine Architektur, die dem Menschen endlich wieder Würde und Freude schenkt – anstatt sie ihm immer nur zu rauben.
Compliance-Hinweis: Die Reise nach Barcelona erfolgte auf Einladung des CCCB Centre de Cultura Contemporània de Barcelona. Die Ausstellung „Chris Ware. Dibuixar és pensar“ ist noch bis 9. November 2025 zu sehen. cccb.org
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