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Punktuelle Ästhetik im allgemeinen Chaos
Riken Yamamoto und die Architekturstrategien in Japan
Zwei Welten scheinen in Japan nebeneinander zu bestehen: eine technologiebesessene auf der einen und eine traditionsbewusste auf der anderen Seite. Gerade für die Architektur ist von Bedeutung, dass selbst die radikalsten Künstler nicht ohne Wurzeln im kulturellen Humus auskommen. Das gilt auch für Riken Yamamoto, einen der Stars der Szene.
1. Oktober 1999 - Robert Kaltenbrunner
Im Tohuwabohu von Tokio scheinen zwölf Millionen Menschen um jeden Quadratzentimeter zu kämpfen. Nirgends sonst ist die Wirklichkeit so weit entfernt von den Visionen ambitionierter Städtebauer wie in dieser wüsten Collage aus Hütten und Wolkenkratzern, Hochstrassen und Freileitungen, in diesem Durcheinander von Farben und Formen, Lichtern und Reklamen, erschüttert von Verkehrsstössen und durchdrungen von dauerndem Lärm. Trotz - oder gerade wegen - einem solchen Befund stellt das Bauen in Nippon einen Kosmos dar, der den Besucher interessiert und provoziert, womöglich überwältigt.
Umkehrung des Städtebaus
Nikolaus Pevsner hat einmal gesagt, die japanische Architektur hätte ihre entscheidenden Anstösse Ende der fünfziger Jahre durch Le Corbusier erhalten. Diese Zeiten sind längst vorbei. Westliche Idole haben heute zumeist keinen grossen Stellenwert mehr. Umgekehrt feiert die internationale Fachwelt die Vertreter der japanischen Avantgarde als vehemente Reformer. Ihr Bahnbrecher, der zum vielbeschäftigten Star des internationalen Jetsets avancierte Arata Isozaki, wird als «Guerilla-Architekt» geführt. Er selbst bezeichnet seine Bauten gern als «perfekte Verbrechen» - wenngleich die US-Amerikaner sein Museum of Contemporary Art in Los Angeles als das genaue Gegenteil loben, als ein ideales, geradezu superbes Gehäuse für die Kunst.
In der - für unsere Augen - amorphen und inkonsistenten Struktur der japanischen Metropole haben die Architekten seit Ende der siebziger Jahre zunehmend erkannt, dass eine vermittelnde Beziehung zwischen Gebäude und Stadt schlichtweg nicht mehr existiert. Die Stadt habe kein plausibles Gefüge mehr, sei statt dessen Flickwerk geworden oder, um einen Ausdruck von Hajime Yatsuka zu gebrauchen, «organloser Körper». Eine introvertierte, defensive Baukultur ist die naheliegende Konsequenz. So zeugen die meisten Entwürfe von einer merkwürdigen Umkehrung des Städtebaus: Innerhalb selbständiger Gebäude werden paradoxe Stadtmodelle geschaffen. Der eine baut «bedeutungslose Maschinen, die dann neue Bedeutung in der Architektur annehmen» (Kazuo Shinohara), den zweiten verleitet «ideologische Unsicherheit» zu einer Formensprache, die kein Zentrum anerkennt (Kisho Kurokawa), der dritte beschwört den verfänglichen Symbolismus von Fragmenten, um «wie ein Gegenschock oder Sabotageakt in der Stadt zu wirken» (Shin Takamatsu), andere schliesslich bevorzugen die grossartige und theatralische Geste, teils von «bühnenhafter Leichtigkeit» (Fumihiko Maki, einst Gründungsmitglied der Metabolisten), teils als «Architektur ohne Ironie» (Isozaki). Und all das sind lediglich Facetten dessen, was zeitgenössische japanische Architekten erschaffen.
Obgleich noch nicht in der allerersten Reihe stehend, stellt Riken Yamamoto (über den im Birkhäuser-Verlag soeben eine Monographie erschienen ist) eine aussergewöhnliche Erscheinung dar. Mit seinem Werk, vor allem Wohn-, Schul- und Universitätsbauten, hat er sich eine eigenständige, fast zeitlose Position erarbeitet in der Heterogenität der japanischen Architektur. Das Bauen ist ihm künstlerisches Mittel, den gesellschaftlichen Veränderungen - wie der Auflösung der Basiseinheit Familie oder neuen Bildungsprogrammen - Rechnung zu tragen. Yamamoto glaubt erklärtermassen, dass die Schöpfung von Architektur gleichbedeutend sei mit dem Aufstellen von Hypothesen. Aber zugleich mahnt er Skepsis an, «wenn eine Hypothese sich anschickt, wie das Ziel auszusehen». Was auf den ersten Blick wirkt wie eine unscheinbare, betongraue Architektur, die scheinbar wahllos einer Gegend implantiert wird, die jedem Gedanken von der konsistenten Stadt spottet, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine so unprätentiöse wie sinnfällige Intervention. So reagieren seine Wohnhäuser Gazebo und Rotunda jeweils auf einen Strassenraum, welcher eine «vier Meter breite Intimität» abgeben musste an die verkehrliche Effizienz einer 25 Meter breiten Schnellstrasse, indem im 3. und 4. Obergeschoss eine Lebensform angeboten wird, die sowohl Rückzug in die Privatheit erlaubt als auch eine visuelle Nachbarschaftsbeziehung befördert.
Die Hotakubo-Siedlung versteht Yamamoto als Vorschlag für eine erweiterte Form des Zusammenlebens. Hier blitzt ein kollektivistisches Ideal auf, das die traditionelle Vorstellung von der Familie als (einzigem) Kern der Gesellschaft zu überwinden sucht. Ähnliches thematisiert auch die Universität des Bezirkes Saitama mit der introvertierten, hofhausartigen Patchwork-Struktur. Yamamotos Bauten sind, insgesamt, von einer seltsamen Ambiguität geprägt: Auf der einen Seite passen sie sich der Stadt an, auf der anderen stellen sie sich ihr entgegen. Dementsprechend verwischen sich auch die Grenzlinien zwischen rein kreativen und kritischen Prozessen. Wollten Baumeister wie Yamamoto zuvor die Regeln des architektonischen Schachspiels neu formulieren, so versuchen sie nun, sie zu brechen und das ganze Spiel in Frage zu stellen. Sie streben zumeist nicht nach einer Kontextbestimmung. Immer aber ist, zumindest implizit, die urbane Landschaft ein Thema. Jedoch nicht in dem Sinne wie bei den Nachfolgern der Metabolisten, die ihre Aufgabe in der Flucht vor dem städtebaulichen Chaos suchten, sondern im Aufspüren von Zwischenräumen, sprich: Nischen. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der engen Beziehungen zwischen Umwelt und Architektur ist eine dieser Lücken, durch die die Architekten den heutigen urbanen und kulturellen Zwängen zu entkommen trachten.
Nischen und punktuelle Interventionen
Während die konventionelle Stadtplanung von einem wie auch immer gearteten Gesamtkonzept ausgeht, das die Rahmenbedingungen für die jeweilige Architektur definiert, basiert Yamamotos Projekt «Inter-Junction-City» auf einer gegenteiligen Annahme: Die individuellen Gebäude werden erstellt, bevor die Stadt entsteht. Insofern muss jedes Gebäude in sich die Essenz der Stadt beinhalten. Dies wiederum ist eine einzige einfache Regel: die Integration einer Fussgängerverbindung. Was hier bausteinartig entsteht, ist ein intellektuelles Vexierspiel, das auf lebensweltlichem Pragmatismus basiert: eine Art «Stadt», die durch einen labyrinthischen, Stück um Stück erweiterten Durchgang strukturiert wird, wobei niemand weiss, wie die ultimative Gestalt dieser Stadt später einmal aussehen wird.
Bei aller Eigenständigkeit reiht sich Yamamoto doch ein in das, was man als gemeinsame Grundlinie der Avantgarde bezeichnen könnte: Ihre Protagonisten protestieren, mit und anhand ihrer Bauten, gegen alles, was laut und hektisch ist im neuen Japan, was zu schäbig ist, zu oberflächlich und konsumorientiert, also gemein und menschenunwürdig aus ihrer Sicht. Gegen das Chaos, die Anarchie des Bodenmarktes, das zerstörerische Durcheinander in Japans Grossstädten setzen sie Zeichen der Besinnung, schaffen Räume von klösterlicher Abgeschiedenheit. Gegen die Aggressionen einer rücksichtslosen Umwelt kapseln sie sich mit den Häusern von ausgeprägt selbstbezogenem Charakter ab. Dabei beherrscht kein Dogma das Werk der jungen Avantgarde, nicht die rigide internationale Moderne, aber auch kein entleerter Traditionalismus. Vielmehr gilt ein unausgesprochener Pluralismus, und jeder folgt seiner eigenen Philosophie. Kein Stil, kein Kodex, nicht einmal ein Konsens - es sei denn derjenige, dass die Welt ziellos und die Stadt amorph und unerträglich geworden sei, worauf es qua Architektur zu reagieren gälte. Der Aufruf lautet implizit: Man möge nicht nach ewigen Antworten, nach einem (oder dem) Stil suchen, sondern die - von Fall zu Fall - richtige Lösung für eine spezifische Aufgabe. Auch die jüngsten Projekte Yamamotos, wie die Universität der Zukunft in Hakodate oder die Hiroshima-Nishi-Feuerwache, legen davon Zeugnis ab. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass von ihm noch einiges zu erwarten ist.
[ Literatur zum Thema: Wilhelm Klauser: Riken Yamamoto. Birkhäuser-Verlag, Basel 1999. 128 S., Fr. 68.-. ]
Umkehrung des Städtebaus
Nikolaus Pevsner hat einmal gesagt, die japanische Architektur hätte ihre entscheidenden Anstösse Ende der fünfziger Jahre durch Le Corbusier erhalten. Diese Zeiten sind längst vorbei. Westliche Idole haben heute zumeist keinen grossen Stellenwert mehr. Umgekehrt feiert die internationale Fachwelt die Vertreter der japanischen Avantgarde als vehemente Reformer. Ihr Bahnbrecher, der zum vielbeschäftigten Star des internationalen Jetsets avancierte Arata Isozaki, wird als «Guerilla-Architekt» geführt. Er selbst bezeichnet seine Bauten gern als «perfekte Verbrechen» - wenngleich die US-Amerikaner sein Museum of Contemporary Art in Los Angeles als das genaue Gegenteil loben, als ein ideales, geradezu superbes Gehäuse für die Kunst.
In der - für unsere Augen - amorphen und inkonsistenten Struktur der japanischen Metropole haben die Architekten seit Ende der siebziger Jahre zunehmend erkannt, dass eine vermittelnde Beziehung zwischen Gebäude und Stadt schlichtweg nicht mehr existiert. Die Stadt habe kein plausibles Gefüge mehr, sei statt dessen Flickwerk geworden oder, um einen Ausdruck von Hajime Yatsuka zu gebrauchen, «organloser Körper». Eine introvertierte, defensive Baukultur ist die naheliegende Konsequenz. So zeugen die meisten Entwürfe von einer merkwürdigen Umkehrung des Städtebaus: Innerhalb selbständiger Gebäude werden paradoxe Stadtmodelle geschaffen. Der eine baut «bedeutungslose Maschinen, die dann neue Bedeutung in der Architektur annehmen» (Kazuo Shinohara), den zweiten verleitet «ideologische Unsicherheit» zu einer Formensprache, die kein Zentrum anerkennt (Kisho Kurokawa), der dritte beschwört den verfänglichen Symbolismus von Fragmenten, um «wie ein Gegenschock oder Sabotageakt in der Stadt zu wirken» (Shin Takamatsu), andere schliesslich bevorzugen die grossartige und theatralische Geste, teils von «bühnenhafter Leichtigkeit» (Fumihiko Maki, einst Gründungsmitglied der Metabolisten), teils als «Architektur ohne Ironie» (Isozaki). Und all das sind lediglich Facetten dessen, was zeitgenössische japanische Architekten erschaffen.
Obgleich noch nicht in der allerersten Reihe stehend, stellt Riken Yamamoto (über den im Birkhäuser-Verlag soeben eine Monographie erschienen ist) eine aussergewöhnliche Erscheinung dar. Mit seinem Werk, vor allem Wohn-, Schul- und Universitätsbauten, hat er sich eine eigenständige, fast zeitlose Position erarbeitet in der Heterogenität der japanischen Architektur. Das Bauen ist ihm künstlerisches Mittel, den gesellschaftlichen Veränderungen - wie der Auflösung der Basiseinheit Familie oder neuen Bildungsprogrammen - Rechnung zu tragen. Yamamoto glaubt erklärtermassen, dass die Schöpfung von Architektur gleichbedeutend sei mit dem Aufstellen von Hypothesen. Aber zugleich mahnt er Skepsis an, «wenn eine Hypothese sich anschickt, wie das Ziel auszusehen». Was auf den ersten Blick wirkt wie eine unscheinbare, betongraue Architektur, die scheinbar wahllos einer Gegend implantiert wird, die jedem Gedanken von der konsistenten Stadt spottet, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine so unprätentiöse wie sinnfällige Intervention. So reagieren seine Wohnhäuser Gazebo und Rotunda jeweils auf einen Strassenraum, welcher eine «vier Meter breite Intimität» abgeben musste an die verkehrliche Effizienz einer 25 Meter breiten Schnellstrasse, indem im 3. und 4. Obergeschoss eine Lebensform angeboten wird, die sowohl Rückzug in die Privatheit erlaubt als auch eine visuelle Nachbarschaftsbeziehung befördert.
Die Hotakubo-Siedlung versteht Yamamoto als Vorschlag für eine erweiterte Form des Zusammenlebens. Hier blitzt ein kollektivistisches Ideal auf, das die traditionelle Vorstellung von der Familie als (einzigem) Kern der Gesellschaft zu überwinden sucht. Ähnliches thematisiert auch die Universität des Bezirkes Saitama mit der introvertierten, hofhausartigen Patchwork-Struktur. Yamamotos Bauten sind, insgesamt, von einer seltsamen Ambiguität geprägt: Auf der einen Seite passen sie sich der Stadt an, auf der anderen stellen sie sich ihr entgegen. Dementsprechend verwischen sich auch die Grenzlinien zwischen rein kreativen und kritischen Prozessen. Wollten Baumeister wie Yamamoto zuvor die Regeln des architektonischen Schachspiels neu formulieren, so versuchen sie nun, sie zu brechen und das ganze Spiel in Frage zu stellen. Sie streben zumeist nicht nach einer Kontextbestimmung. Immer aber ist, zumindest implizit, die urbane Landschaft ein Thema. Jedoch nicht in dem Sinne wie bei den Nachfolgern der Metabolisten, die ihre Aufgabe in der Flucht vor dem städtebaulichen Chaos suchten, sondern im Aufspüren von Zwischenräumen, sprich: Nischen. Die Wiederentdeckung und Neuinterpretation der engen Beziehungen zwischen Umwelt und Architektur ist eine dieser Lücken, durch die die Architekten den heutigen urbanen und kulturellen Zwängen zu entkommen trachten.
Nischen und punktuelle Interventionen
Während die konventionelle Stadtplanung von einem wie auch immer gearteten Gesamtkonzept ausgeht, das die Rahmenbedingungen für die jeweilige Architektur definiert, basiert Yamamotos Projekt «Inter-Junction-City» auf einer gegenteiligen Annahme: Die individuellen Gebäude werden erstellt, bevor die Stadt entsteht. Insofern muss jedes Gebäude in sich die Essenz der Stadt beinhalten. Dies wiederum ist eine einzige einfache Regel: die Integration einer Fussgängerverbindung. Was hier bausteinartig entsteht, ist ein intellektuelles Vexierspiel, das auf lebensweltlichem Pragmatismus basiert: eine Art «Stadt», die durch einen labyrinthischen, Stück um Stück erweiterten Durchgang strukturiert wird, wobei niemand weiss, wie die ultimative Gestalt dieser Stadt später einmal aussehen wird.
Bei aller Eigenständigkeit reiht sich Yamamoto doch ein in das, was man als gemeinsame Grundlinie der Avantgarde bezeichnen könnte: Ihre Protagonisten protestieren, mit und anhand ihrer Bauten, gegen alles, was laut und hektisch ist im neuen Japan, was zu schäbig ist, zu oberflächlich und konsumorientiert, also gemein und menschenunwürdig aus ihrer Sicht. Gegen das Chaos, die Anarchie des Bodenmarktes, das zerstörerische Durcheinander in Japans Grossstädten setzen sie Zeichen der Besinnung, schaffen Räume von klösterlicher Abgeschiedenheit. Gegen die Aggressionen einer rücksichtslosen Umwelt kapseln sie sich mit den Häusern von ausgeprägt selbstbezogenem Charakter ab. Dabei beherrscht kein Dogma das Werk der jungen Avantgarde, nicht die rigide internationale Moderne, aber auch kein entleerter Traditionalismus. Vielmehr gilt ein unausgesprochener Pluralismus, und jeder folgt seiner eigenen Philosophie. Kein Stil, kein Kodex, nicht einmal ein Konsens - es sei denn derjenige, dass die Welt ziellos und die Stadt amorph und unerträglich geworden sei, worauf es qua Architektur zu reagieren gälte. Der Aufruf lautet implizit: Man möge nicht nach ewigen Antworten, nach einem (oder dem) Stil suchen, sondern die - von Fall zu Fall - richtige Lösung für eine spezifische Aufgabe. Auch die jüngsten Projekte Yamamotos, wie die Universität der Zukunft in Hakodate oder die Hiroshima-Nishi-Feuerwache, legen davon Zeugnis ab. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass von ihm noch einiges zu erwarten ist.
[ Literatur zum Thema: Wilhelm Klauser: Riken Yamamoto. Birkhäuser-Verlag, Basel 1999. 128 S., Fr. 68.-. ]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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