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Kabbala und neue Baukunst
Neue Zürcher Zeitung

Gironas Annäherung an die Vergangenheit

Die Provinzhauptstadt Girona galt einmal als eine «Mutterstadt Israels». Seit im 15. Jahrhundert die Juden vertrieben wurden, versank sie in die Bedeutungslosigkeit. Heute besinnt man sich in der Hochburg des katalanischen Nationalismus des sephardischen Erbes. Gleichzeitig tragen ein städtebauliches Erneuerungsprogramm und die Universität zur Renaissance der Stadt bei.

3. Dezember 1999 - Markus Jakob
Auch Städte können gezähmt werden - und dennoch ihre Reize entfalten. 1997 verglich die Tageszeitung «El País» in ihrem Sonntagsmagazin die Lebensqualität in Spaniens 52 Provinzkapitalen. Die Kriterien mochten willkürlich anmuten wie bei solchen Veranstaltungen üblich: vom Pro-Kopf-Einkommen bis zur Anzahl der Bibliotheken, von der Sonnenscheindauer bis zur Suizidrate. Überraschen konnte der Ausgang gleichwohl nicht. Am besten lebt sich's demnach in Girona, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten des Landes, mit ihren gerade mal 70 000 Einwohnern. Und dabei spielten gewisse Standortvorteile Gironas noch gar keine Rolle: Man ist von hier aus ebenso schnell in der Grossstadt Barcelona wie im Languedoc, und die Gipfel der Pyrenäen sind so nah wie die Buchten der Costa Brava (die teilweise weniger lädiert sind als ihr Ruf). Auch dass Gironas historisches Zentrum zu den schönsten des Landes zählt, fiel nicht so sehr ins Gewicht. Vor allem zählte, wie untadelig die Stadt dieses Erbe verwaltet - und sogar ihre Peripherie zu hegen versucht: eine richtige Musterschülerin der noch jungen spanischen Demokratie. Zu artig, zu korkig, zu fad vielleicht?

Zum eigentlichen Kleinod der Altstadt entwickelte sich in den letzten Jahren das einstige, El Call genannte jüdische Viertel. Sein wichtigster Strassenzug, der Carrer de la Força, gehörte als Teilstück der Via Augusta schon zum römischen Cardo. Spätestens seit dem 10. Jahrhundert siedelte sich hier eine jüdische Gemeinschaft an, mit einer eigenen, Aljama genannten Verwaltung. Die christliche Bevölkerungsmehrheit unterhielt zu ihr rege, aber nicht durchweg von Toleranz gekennzeichnete Beziehungen. Allein aus der Zeit zwischen 1276 und 1418 sind acht Pogrome belegt.

Aus Girona stammten bedeutende Vertreter der im 12. Jahrhundert in der West-Provence entstandenen kabbalistischen Schule: Ionà ben Abraham, Azriel, Nissim Reuben Gerondí und Messulam ben Selomó. Die repräsentativste Figur unter diesen Philosophen war Nahmanides (1194-1270), Autor des «Torat Ha'Adam», eines der einflussreichsten Werke der jüdischen Mystik. In den finsteren Gassen Gironas fand die Kabbala ihre klassische Ausprägung und strahlte von hier aus in die ganze hebräische Welt aus. Als die Reyes Católicos 1492 die Ausweisung aller Israeliten aus ihrem Herrschaftsgebiet dekretierten, bedeutete dies auch das Ende des jüdischen Girona, das im 13. Jahrhundert als «Mutterstadt Israels» bekannt gewesen war. Die Stadt selbst versank in Bedeutungslosigkeit.

Seit einigen Jahren versucht nun eine von den lokalen Verwaltungen getragene, zum Teil mit amerikanischen Geldern finanzierte Stiftung, das verlorene Erbe der Sephardim in Girona wieder lebendig werden zu lassen. In architektonischer Hinsicht ist das freilich ein trügerisches Unterfangen. Nicht nur weil es keine eigentlich hebräische Bauweise gab; es bleiben auch weder Spuren der drei Synagogen und der Aljama, noch hat sich die mittelalterliche Bausubstanz des Carrer de la Força und seiner engen, steilen, teilweise erst in jüngster Zeit wieder öffentlich zugänglich gemachten Seitengassen erhalten. In einer davon wurde 1990 das «Centre Bonastruc ça Porta» - dies der katalanische Name des grossen Nahmanides - eröffnet. Bittere Ironie, dass als Baujahr für die ältesten Teile dieses Gebäudekomplexes just 1492, das Jahr des Exodus, genannt wird. Hier soll sich die letzte Synagoge befunden haben. Nun ist der Umbau dieser Räume zum jüdischen Studienzentrum (mit Ausstellungssälen, Bibliothek und Boutique) teils bereits abgeschlossen, teils noch in Planung.

Das bauliche Ensemble mit seinen dezent bepflanzten Patios und seinen verschachtelten Kellergewölben vermittelt zumindest eine Ahnung davon, was Gironas abweisende Mauern bergen - und bargen. Und die «Wiedereinsetzung der jüdischen Vergangenheit» (im Grunde drückt es die linkische Übersetzung einer Informationsbroschüre trefflich aus) ist insofern nicht ganz illusorisch, als nun Ausstellungen, Konzerte und Vorträge den Besuchern die untergegangene Welt des katalanischen Judentums vergegenwärtigen.

Für Girona, das seit dem Ende der Franco-Zeit kontinuierlich an sich gearbeitet hat, ist dieses Reimplantat nur eine Facette einer umfassenden Regenerierung. Die Region gehört zu den Hochburgen des katalanischen Nationalismus; es ist jedoch ein sozialistischer Politiker, der neulich zum fünftenmal wiedergewählte Joaquim Nadal, der seit über zwanzig Jahren als Alcalde die Geschicke der Stadt leitet. Auf symbolischer Ebene mochte nichts besser den Willen zum Wandel zu veranschaulichen als Nadals sanfte Aufforderung zum zivilen Ungehorsam, als er, seiner zaudernden Bürgerschaft zum Vorbild, eigenhändig das Kennzeichen seines Dienstwagens von GE zu GI abänderte - vom spanischen Gerona zum katalanischen Girona, mit jenem stimmhaften G, das zugleich eine neue Sanftheit im Umgang mit der gebauten Umgebung anzukündigen schien.

Einschneidender sind seine urbanistischen Taten. Nadal liess alte Kasernen schleifen und statt ihrer Parks anlegen. Die weitgehend intakte Stadtmauer wurde zu einer Promenade ausgebaut. Die direkt an den Onyar, einen der vier die Stadt durch- bzw. umfliessenden Flüsse, stossenden Altstadtfassaden wurden postkartengerecht renoviert. In der Neustadt am gegenüberliegenden Ufer, deren Katalog lokaler Architekturmoden der letzten 150 Jahre sich durchaus auch sehen lassen kann, zog sich die Gestaltung eines Terrain vague zu einer weitläufigen neuen Platzanlage über zehn Jahre hin. Heute fügen sich die mit geometrischen Folies übersäten Betonfalzen der barcelonesischen Architekten Elias Torres und Antonio Martínez Lapeña, sosehr die konservative Bevölkerung gegen dieses Wagestück aufbegehrte, und trotz einigen offensichtlich missglückten Details, als Plaça de la Constitució selbstverständlich ins Stadtganze.

Unweit davon haben zwei andere Barcelonesen, Esteve Bonell und Josep Gil, eines der wenigen herausragenden Einzelbauwerke Gironas geschaffen: den Gerichtshof, der als L-förmiger Solitär einen ganzen Stadtteil strukturiert und trotz seinen unterschiedlich gestalteten Fassaden als kompositorische Einheit erscheint. Dieselben Architekten konnten etwas ausserhalb des Zentrums auch eine neue Sporthalle bauen, übrigens bei weitem nicht die einzige in Girona. Jeder vierte Gironí ist Mitglied des lokalen Gym-Klubs Geieg. Zu den erwähnenswerten Neubauten gehört ferner die Sprachschule von Víctor Rahola sowie ein dieses Jahr mit dem wichtigsten katalanischen Architekturpreis, dem «Premis FAD», ausgezeichnetes Wohnhaus von Arcadi Pla.

Vom Lokalmatador Pla stammt auch der Masterplan für den Campus im Süden Gironas. Für die erst 1991 gegründete Universität, an der heute 11 000 Studenten eingeschrieben sind, ist indessen kein Gebäude emblematischer als das einstige Dominikanerkloster in der Altstadt, wo die literarische Fakultät untergebracht wurde. Die neue Gelehrsamkeit hat vielleicht mehr als sämtliche urbanistischen Eingriffe zur Verjüngung der Stadt beigetragen. All die adrett hergerichteten Bars und Boutiquen, die heute ihre Strassen säumen, hätten sonst gar kein Publikum. Natürlich fehlt es nicht an Leuten, die das alles ein bisschen spiessig finden. Aber was war denn vorher? Eine zerbröckelnde Altstadt und rundherum die franquistischen Blöcke für südspanische Emigranten. Dort, in den Randzonen der Stadt, haben sich inzwischen neue, vorwiegend aus Nordafrika stammende Einwanderer angesiedelt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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