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San Carlino als provisorisches Monument
Mario Bottas virtueller Städtebau im Zeichen Borrominis
Anlässlich des 400. Geburtstags des Tessiner Architekten Francesco Borromini konstruierte Mario Botta als Ergänzung der Borromini-Ausstellung im Museo Cantonale d'Arte von Lugano ein Modell im Massstab 1:1 der römischen Kirche San Carlino alle Quattro Fontane. Nicht zum erstenmal rührt er mit einer seiner Erfindungen Bodensatz symbolischer Atavismen auf.
6. November 1999 - Stanislaus von Moos
Handelt es sich beim hölzernen «San Carlino» an der Rivetta Tell in Lugano um eine Festdekoration? Einen gebauten Capriccio in der Tradition Canalettos oder Guardis? Oder ist das prächtige Architekturmodell (Massstab 1:1) vor allem eine PR-Aktion des Verkehrsvereins? - Eine merkwürdige Koalition der Themen und der Interessen ist jedenfalls im Spiel: eine vielleicht gefährliche Leidenschaft für Möglichkeiten und Grenzen architektonischer Monumentalität heute sowie, damit verbunden, das Ansinnen, mit Städtebau aufs Wasser auszuweichen, da das schweizerische Festland dafür offenbar keine Spielräume mehr bietet. Anlass ist der 400. Geburtstag von Francesco Borromini, geboren am 27. September 1599 in Bissone, und Initiant ist Mario Botta.
Disney-Verdacht
Die mächtige Holzkonstruktion, über einer Plattform von 22×22 m aufgebaut, 33 m hoch, 350 Tonnen schwer, mit einem Stahlskelett als Kern, ist zunächst Teil des allestimento der Ausstellung, die noch bis zum 14. November im nahen Museo Cantonale d'Arte gezeigt wird: «Francesco Borromini. L'opera giovanile». Sie illustriert live deren thematischen Schwerpunkt - die Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane in Rom (1638-1641) als Schlusspunkt und Apotheose des Frühwerks dieses überragenden Tessiner Meisters. Und ist zugleich eine Demonstration modernster elektronischer Verfahren der Bauaufnahme und der archäologischen Rekonstruktion, wie sie an der Università della Svizzera italiana praktiziert wird, d. h. an der Accademia di Architettura in Mendrisio. 40 000 Pläne waren erforderlich, bevor man im elektronisch gesteuerten Sägewerk mit dem Zuschneiden der 660 übereinander aufzuschichtenden Bretterlagen von je 5 Zentimeter Stärke begann. Mit den 400 Kubikmetern Tannenholz, die zu seiner Realisierung benötigt wurden, ist «San Carlino» der grösste jemals im Tessin erbaute Holzbau.
Wie kaum anders zu erwarten, war das Vorhaben im Tessin bereits Monate vor Baubeginn vom Disney-Verdacht eingeholt worden. Tita Carloni, der ebenso kultivierte wie scharfzüngige Spiritus rector des Tessiner Architekturgewissens, ging gar so weit, das Projekt seines ehemaligen Schülers auf Grund des ephemeren Charakters mit dem (übrigens durchaus nicht als ephemer konzipierten) «Casinò Admiral» in Mendrisio gleichzustellen, einem offenbar für viele Architekten besonders argen Stachel im Fleisch der Tessiner Architektur: «Jedermann kennt die spätkaiserzeitliche Fassade des neuen Teatro Admiral. An der Tragstruktur aus Eisen sind wie über Nacht vorfabrizierte Elemente in rosa-gelblich eingefärbtem Zement angebracht worden. Die Kapitelle sind aus vergoldetem Plastik. Die Pferde, der Rennwagen, die Zenturionen sind in patiniertem Glaskunstharz und heben sich vor dem feierlichen Hintergrund von Ventilatoren und Abluftschächten ab wie diese vor dem suggestiven Panorama der Felsen des Generoso» («Corriere del Ticino», 3. Februar 1999).
Und wie sehr sich jetzt plötzlich alle bemühen, Borromini von den Niederungen touristischer Vermarktung fernzuhalten (mit dem Virgilio Gilardoni zugeschriebenen Argument: «Chi vuol vedere Borromini vada a Roma. Vedrà Borromini ed altro!»). Längst ist auch die Jagd auf die «Missverständnisse» freigegeben, die durch das Luganeser Projekt bezüglich Borromini beim bildungsbeflissenen Publikum angeblich kolportiert werden. Durch die «Rekonstruktion» im See werde Borrominis Kirche aus ihrem urbanen Kontext herausgelöst und durch die Halbierung in ein frontales, statisches und szenographisches Bild gepresst. Die dynamische Beziehung von Innenraum und Aussenform des Baus werde durch den kubischen Mantel von Bottas «Präparat» in unzulässiger Weise verunklärt. Ausserdem wird daran erinnert, wie sehr dies alles den Eindruck verfälsche, den man in situ empfängt: wo sich San Carlino, bedingt durch die Engführung der Strassen, in der Tat nur der Übereckansicht darbietet usw. . . . Als ob eine «Rekonstruktion» von Borrominis Kirche, die solchen Argumenten standhalten würde, anders vorstellbar wäre als in der Form einer banalen historistischen Replik, vermutlich massiv miniaturisiert, um auf begrenztem Terrain mindestens Ansätze des städtebaulichen Kontexts einbegreifen zu können . . .
Lehrgarten und Festarchitektur
Der Festakt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung «Il giovane Borromini» im Museo Cantonale d'Arte musste zwar kurzfristig vom Podium des «San Carlino» ins Innere des nahen Palazzo dei Congressi verlegt werden: des strömenden Regens wegen, und weil eine Gruppe von Manifestanten zu Füssen des Telldenkmals von Vincenzo Vela mit einem Lautsprecherwagen das Gehör und mit Transparenten die Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen verstanden (von «Lohndumping» war u. a. die Rede; in der Tat war das Projekt seitens der Stadt Lugano nur im Rahmen eines Arbeitslosenprogramms finanzierbar gewesen). An offizielle Reden auf der Plattform war unter diesen Umständen nicht zu denken. Dieweil gruppierten sich im Park der Villa Ciani die ersten Touristen vor der über dem Wasser schwebenden Kaaba zum Erinnerungsbild.
In einer prompt erschienenen Monographie (Borromini sul Lago, Skira Mailand/Genf, 1999) insistiert der Architekt auf dem Charakter des Projekts als «szenographischer Konstruktion», die ihre raison d'être in sich selbst findet und nicht im Endziel einer Illusion. Einer Konstruktion, die keine anderen Absichten verfolgt als jene, die «mit ihrem Wesen als Architektur zusammenhängt und mit der Art, wie diese sich als ein Instrument konstituiert, zum Zweck, den Raum zu organisieren.» - Nur wenige Kilometer von «Swissminiatur» entfernt, liegt es trotzdem nahe, dem Phänomen der architektonischen «Rekonstruktion» und den Unabänderlichkeiten von deren Beziehung zur Erinnerungs- und Freizeitkultur von heute nachzugrübeln. Natürlich hat Bottas Projekt als didaktisches Präparat und als ephemere Festdekoration mit alledem mehr als nur zufällig zu tun.
Allerdings wird hier das, worauf es bei der Scheinarchitektur im Lehrgarten ankommt, mit Absicht vermieden: die Illusion einer möglichst täuschenden Originaltreue. Wo das «Imagineering» der Freizeitkultur sich bemüht, die architektonische Epidermis und die Bauornamentik möglichst täuschend zu imitieren, da schichtet Botta einen gigantischen Stapel von Holztafeln auf, und zwar so, dass zwischen den einzelnen Lagen ein kleiner Abstand frei bleibt. Dadurch prägt sich dem Betrachter der Modellcharakter derart nachhaltig ein, dass eine «Täuschung» gar nicht aufkommen kann. Wie der Restaurator in Teilen des Bildes, die verloren sind, die Technik des rigatino einsetzt, um den Abstand zwischen der heute gegebenen Bildfläche und unserer Vorstellung davon, wie das Bild einmal ausgesehen hat, zu überbrücken, so bedient sich Botta einer abenteuerlichen Mischung von Computer-Know-how und Zimmermannstechnik, um das Original sowohl dreidimensional abzubilden als auch zu verfremden. Das Resultat ist infolgedessen keine «Kopie», sondern ein didaktisches Präparat.
Wobei der «Cube» (schwarz und halbiert, im Gegensatz zum weissen und kompletten Cube von Sol LeWitt) so arrangiert ist, dass sich der goldschimmernde nicchione mit seinem Vorplatz westwärts, gegen die gründerzeitliche Rivetta Tell hin öffnet, während die Rückseite vom Park der Villa Ciani mitsamt der aufgesetzten halbierten Kuppellaterne als eine minimalistische folie am Rande des englischen Gartens in Erscheinung tritt. Dank Bottas siebentem Sinn für lapidare urbanistische Wirkung ist so das Seeufer von Lugano mit sich selbst ins reine gekommen.
Monumentalität und das «Botta-Zelt»
Mario Bottas Hang zum Monumentalen hat dem Tessin und darüber hinaus der Weltarchitektur nicht wenige markante und zugleich eigenartig konzepthaft, abstrakt gebliebene Bauten geschenkt. Eine auf 1600 m ü. M. im Berghang verankerte Aussichtsplattform mit, in die Substruktion verstaut, einer Kapelle auf dem Monte Tamaro. Grosse, lotrecht aufgemauerte oder schräg zur Seite geneigte und oben gekappte Mauerkegel oder -zylinder über riesigen Prismen aus Backstein oder Granit als Kathedralen oder Pfarrkirchen im Maggiatal, in Evry oder in Pordenone bzw. als Museum für moderne Kunst in San Francisco. Ausserdem ganze Quartiere aus wuchtigen Corporate Headquarters in Lugano (Gotthardbank) oder in Bellinzona (Basler Versicherung, Swisscom). Und weitere stolze Verwaltungsbauten in Dortmund, Basel und anderswo.
Thematisch, als verkapptes Nationalmonument, und in seinem Charakter als Provisorium knüpft «San Carlino» jedoch vor allem an eine unter den Realisierungen dieses Architekten an: das «Botta-Zelt» (1991). Wer erinnert sich nicht! Seit der Bundeshauskuppel kam die Schweizer Architektur nicht mehr näher an das ja nicht ganz unproblematische Ideal eines Nationaldoms heran. Erstmals in Bellinzona aufgestellt, wanderte die Zelt-Kalotte u. a. nach Sils Maria, Brunnen und Hannover als ambulanter Festplatz für eine Vielzahl der offiziellen Veranstaltungen in dem an Kunst- und Architektur im übrigen ja armen Gedenkjahr. Als Silhouette bilden die radial angeordneten Fachwerkträger des Zelts einen Halbkreis. Die Träger (13 an der Zahl; wie anders hätten sich die erforderlichen 26 Flaggen der Kantone und Halbkantone daran festmachen lassen?) zeichnen die Form einer Kuppelschale in den Luftraum. Darüber aufgepflanzt folgt eine Art kolossaler Laterne, gemacht aus Fahnenstangen. Kuppel und Tambour sind nicht in Stein gebaut, sondern als ephemere Zeichen evoziert; das Zeltdach selbst ist, wie jedes Zirkuszelt, in der Form eines polygonal gebrochenen Kegels unten an den Trägern befestigt. Ein Fest der Wappen und Standarten: nur dass Botta den Fahnenstangenwald im Bild des Peripteros fasst, der über der Quasi-Halbkugelkalotte aufsteigt und so bei den Eingeweihten die Erinnerung an das Pantheon mit jener an den Tempel der Fortuna Virilis verknüpft. Dies alles im Massstab der Miniatur, in der Form eines baulichen Provisoriums; als - allerdings kostspielige - Billigausgabe eines nationalen Memorials. (Dass der Ernstfall eines Nationalmonuments, z. B. in Gestalt eines neuen Bundeshauses - ein solches hätte Botta ja auch gern gebaut -, zu diesem Zeitpunkt ausserhalb der Reichweite lag, gehört zu den Unabänderlichkeiten des schweizerischen Pragmatismus . . .)
Nationalidee und das Gewissen
Mit dem transportablen Rundbau wäre es Botta um ein Haar gelungen, der später dann diagnostizierten «Havarie» der offiziellen schweizerischen Erinnerungspolitik (Jakob Tanner) vorzubeugen. Die Kunst und die Architektur unseres Jahrhunderts scheinen die Vorstellung endgültig festgelegter «Gedächtnisorte» (Pierre Nora) mitsamt den dazugehörigen Inhalten ad acta gelegt zu haben. Man weiss nicht mehr, woran man diese Gedächtnisorte als solche erkennen kann; im Zeitalter des privatisierten Gewissens vermag ein Steinhaufen, eine Schiefertafel mit runenartigen Kreidezeichen zum metaphysischen Richtwert zu werden. Und dies trotz oder gerade wegen der nicht wenigen Versuche der dreissiger Jahre, das öffentliche Bewusstsein noch einmal an die überlieferten Figuren nationaler Identität zurückzubinden: Albert Speer und seine zum Glück dann doch nicht realisierten Kolossalbauten für «Germania», alias Berlin, oder Mussolinis Terza Roma sind lediglich die eklatantesten Beispiele.
Jede offizielle «Gedächtniskultur» hat seither das Problem, Analogien mit solchen Unternehmungen à tout prix vermeiden zu müssen. Das gilt auch für die Schweiz. Was ist ihre vielbeschworene «Identitätskrise», wenn nicht das Abbild ihrer Unfähigkeit, nationale Identität überhaupt heute noch vorzustellen jenseits der patriotischen Klischees einerseits und der politischen Selbstzerknirschung andererseits! Mit der fast unverfroren evozierten Sakralität und Monumentalität seines Zelts hat Botta den Versuch unternommen, an eine lange Zeit für definitiv unterbrochen gehaltene Tradition anzuknüpfen. Dass die Aura des Orts, der als Rahmen für die erste Aufstellung diente, den feierlichen und offiziellen Charakter der nationalen Feierstunde vom 1. August 1991 noch untermauerte - buchstäblich! -, ist eine Sache für sich. In den 1980iger Jahren eben erst einer umfassenden Restaurierung und Renovation unterzogen, ist das Castelgrande in Bellinzona als ehemaliger Sitz der Visconti-Fürsten und später der Vögte aus der Innerschweiz ein Baukomplex von höchster historischer und auch beträchtlicher architektonischer Brisanz.
Die «Berufung zum Sakralen»
Nicht zufällig hielt Werner Oechslin unlängst dem Trend der heutigen Architektur, sich mit der Erledigung alltäglicher Probleme zufriedenzugeben, Bottas «Berufung zum Sakralen und Monumentalen» entgegen («La vocazione di Mario Botta per il sacro e il monumentale», 1997). In der Tat: diese Radikalität im Zeichensetzen, diese Entschlossenheit zum Lapidaren, diese hochgemut inszenierten Synthesen von zisterziensischer Armut und boulléescher Absolutheit . . . Das Vertrauen ins vermeintlich noch intakte oder doch wenigstens als Ideal rückbaubare Kulturganze! Welch eine Bildersprache der «Solidität» (= firmitas), der «Dauer», der «zukunftsgerichteten Archaik» - in dieser Epoche der ins Wanken geratenen oder sich multikulturell und multimedial verflüchtigenden Werte!
Unerbittlich führt die Erfolgsgeschichte Botta der Spur einer konservativen Kulturkritik entlang; wie anders wäre denn auch ihre ungeheure Breitenwirkung in unserem «Fin de siècle» zu erklären, gerade auch in der Schweiz? Die Tatsache, dass Bottas Name seit dem Bau des Basler Jean- Tinguely-Museums inzwischen unauslöschlich mit demjenigen des abgesprungenen Uhrmachers unter den Schweizer Kunstfürsten der Nachkriegszeit gekoppelt ist, stellt nur scheinbar einen Widerspruch dar. In Wirklichkeit gibt sie dem Phänomen zusätzliches Relief. Botta und Tinguely: der Rückgriff auf die euklidischen Gewissheiten einer modernen Archaik und die Grenzaufhebung zwischen Kunst, Hokuspokus, Mystik und Klamauk - das sind innerhalb der Schweizer Kunst der letzten Jahrzehnte die komplementären Aspekte einer wenn auch nicht als solche deklarierten katholischen Kulturoffensive . . .
Bottas Bauten sind Bekenntnisse, gebaute Predigten, und sie sind andererseits nicht immer gleichermassen geglückte Häuser, Plätze, Versammlungs- und Arbeitsstätten. Gerade deshalb gehören die beiden grossen Provisorien in seinem bisherigen Werk, das «Botta-Zelt» und «San Carlino», zu den Höhepunkten - ein bedenkenswertes Paradox im Rahmen eines so emphatisch auf «Dauer» eingeschworenen Architekturglaubens! Ausserdem (und hier liegt das Maliziöse seiner Aktualität) ist der «Borromini sul Lago» natürlich auch ein Vorgriff auf alle Arteplages, die die Zukunft noch bringen mag (oder auch nicht). Oder soll man sich damit begnügen, von einem geglückten Bühnenbild zu sprechen: Velas Tell vor dem Hintergrund des halbierten, abends im Trompetengold glänzenden «San Carlino» aus Holz: ein Stück inszenierter Eidgenossenschaft, frei nach Rossini! - Höchste Zeit, die Nörglerpfeile in den Köcher zu stecken. Wer hier nicht staunt und Beifall spendet, dem ist wohl auch mit dem «echten» San Carlino nicht zu helfen.
Disney-Verdacht
Die mächtige Holzkonstruktion, über einer Plattform von 22×22 m aufgebaut, 33 m hoch, 350 Tonnen schwer, mit einem Stahlskelett als Kern, ist zunächst Teil des allestimento der Ausstellung, die noch bis zum 14. November im nahen Museo Cantonale d'Arte gezeigt wird: «Francesco Borromini. L'opera giovanile». Sie illustriert live deren thematischen Schwerpunkt - die Kirche S. Carlo alle Quattro Fontane in Rom (1638-1641) als Schlusspunkt und Apotheose des Frühwerks dieses überragenden Tessiner Meisters. Und ist zugleich eine Demonstration modernster elektronischer Verfahren der Bauaufnahme und der archäologischen Rekonstruktion, wie sie an der Università della Svizzera italiana praktiziert wird, d. h. an der Accademia di Architettura in Mendrisio. 40 000 Pläne waren erforderlich, bevor man im elektronisch gesteuerten Sägewerk mit dem Zuschneiden der 660 übereinander aufzuschichtenden Bretterlagen von je 5 Zentimeter Stärke begann. Mit den 400 Kubikmetern Tannenholz, die zu seiner Realisierung benötigt wurden, ist «San Carlino» der grösste jemals im Tessin erbaute Holzbau.
Wie kaum anders zu erwarten, war das Vorhaben im Tessin bereits Monate vor Baubeginn vom Disney-Verdacht eingeholt worden. Tita Carloni, der ebenso kultivierte wie scharfzüngige Spiritus rector des Tessiner Architekturgewissens, ging gar so weit, das Projekt seines ehemaligen Schülers auf Grund des ephemeren Charakters mit dem (übrigens durchaus nicht als ephemer konzipierten) «Casinò Admiral» in Mendrisio gleichzustellen, einem offenbar für viele Architekten besonders argen Stachel im Fleisch der Tessiner Architektur: «Jedermann kennt die spätkaiserzeitliche Fassade des neuen Teatro Admiral. An der Tragstruktur aus Eisen sind wie über Nacht vorfabrizierte Elemente in rosa-gelblich eingefärbtem Zement angebracht worden. Die Kapitelle sind aus vergoldetem Plastik. Die Pferde, der Rennwagen, die Zenturionen sind in patiniertem Glaskunstharz und heben sich vor dem feierlichen Hintergrund von Ventilatoren und Abluftschächten ab wie diese vor dem suggestiven Panorama der Felsen des Generoso» («Corriere del Ticino», 3. Februar 1999).
Und wie sehr sich jetzt plötzlich alle bemühen, Borromini von den Niederungen touristischer Vermarktung fernzuhalten (mit dem Virgilio Gilardoni zugeschriebenen Argument: «Chi vuol vedere Borromini vada a Roma. Vedrà Borromini ed altro!»). Längst ist auch die Jagd auf die «Missverständnisse» freigegeben, die durch das Luganeser Projekt bezüglich Borromini beim bildungsbeflissenen Publikum angeblich kolportiert werden. Durch die «Rekonstruktion» im See werde Borrominis Kirche aus ihrem urbanen Kontext herausgelöst und durch die Halbierung in ein frontales, statisches und szenographisches Bild gepresst. Die dynamische Beziehung von Innenraum und Aussenform des Baus werde durch den kubischen Mantel von Bottas «Präparat» in unzulässiger Weise verunklärt. Ausserdem wird daran erinnert, wie sehr dies alles den Eindruck verfälsche, den man in situ empfängt: wo sich San Carlino, bedingt durch die Engführung der Strassen, in der Tat nur der Übereckansicht darbietet usw. . . . Als ob eine «Rekonstruktion» von Borrominis Kirche, die solchen Argumenten standhalten würde, anders vorstellbar wäre als in der Form einer banalen historistischen Replik, vermutlich massiv miniaturisiert, um auf begrenztem Terrain mindestens Ansätze des städtebaulichen Kontexts einbegreifen zu können . . .
Lehrgarten und Festarchitektur
Der Festakt anlässlich der Eröffnung der Ausstellung «Il giovane Borromini» im Museo Cantonale d'Arte musste zwar kurzfristig vom Podium des «San Carlino» ins Innere des nahen Palazzo dei Congressi verlegt werden: des strömenden Regens wegen, und weil eine Gruppe von Manifestanten zu Füssen des Telldenkmals von Vincenzo Vela mit einem Lautsprecherwagen das Gehör und mit Transparenten die Aufmerksamkeit in Beschlag zu nehmen verstanden (von «Lohndumping» war u. a. die Rede; in der Tat war das Projekt seitens der Stadt Lugano nur im Rahmen eines Arbeitslosenprogramms finanzierbar gewesen). An offizielle Reden auf der Plattform war unter diesen Umständen nicht zu denken. Dieweil gruppierten sich im Park der Villa Ciani die ersten Touristen vor der über dem Wasser schwebenden Kaaba zum Erinnerungsbild.
In einer prompt erschienenen Monographie (Borromini sul Lago, Skira Mailand/Genf, 1999) insistiert der Architekt auf dem Charakter des Projekts als «szenographischer Konstruktion», die ihre raison d'être in sich selbst findet und nicht im Endziel einer Illusion. Einer Konstruktion, die keine anderen Absichten verfolgt als jene, die «mit ihrem Wesen als Architektur zusammenhängt und mit der Art, wie diese sich als ein Instrument konstituiert, zum Zweck, den Raum zu organisieren.» - Nur wenige Kilometer von «Swissminiatur» entfernt, liegt es trotzdem nahe, dem Phänomen der architektonischen «Rekonstruktion» und den Unabänderlichkeiten von deren Beziehung zur Erinnerungs- und Freizeitkultur von heute nachzugrübeln. Natürlich hat Bottas Projekt als didaktisches Präparat und als ephemere Festdekoration mit alledem mehr als nur zufällig zu tun.
Allerdings wird hier das, worauf es bei der Scheinarchitektur im Lehrgarten ankommt, mit Absicht vermieden: die Illusion einer möglichst täuschenden Originaltreue. Wo das «Imagineering» der Freizeitkultur sich bemüht, die architektonische Epidermis und die Bauornamentik möglichst täuschend zu imitieren, da schichtet Botta einen gigantischen Stapel von Holztafeln auf, und zwar so, dass zwischen den einzelnen Lagen ein kleiner Abstand frei bleibt. Dadurch prägt sich dem Betrachter der Modellcharakter derart nachhaltig ein, dass eine «Täuschung» gar nicht aufkommen kann. Wie der Restaurator in Teilen des Bildes, die verloren sind, die Technik des rigatino einsetzt, um den Abstand zwischen der heute gegebenen Bildfläche und unserer Vorstellung davon, wie das Bild einmal ausgesehen hat, zu überbrücken, so bedient sich Botta einer abenteuerlichen Mischung von Computer-Know-how und Zimmermannstechnik, um das Original sowohl dreidimensional abzubilden als auch zu verfremden. Das Resultat ist infolgedessen keine «Kopie», sondern ein didaktisches Präparat.
Wobei der «Cube» (schwarz und halbiert, im Gegensatz zum weissen und kompletten Cube von Sol LeWitt) so arrangiert ist, dass sich der goldschimmernde nicchione mit seinem Vorplatz westwärts, gegen die gründerzeitliche Rivetta Tell hin öffnet, während die Rückseite vom Park der Villa Ciani mitsamt der aufgesetzten halbierten Kuppellaterne als eine minimalistische folie am Rande des englischen Gartens in Erscheinung tritt. Dank Bottas siebentem Sinn für lapidare urbanistische Wirkung ist so das Seeufer von Lugano mit sich selbst ins reine gekommen.
Monumentalität und das «Botta-Zelt»
Mario Bottas Hang zum Monumentalen hat dem Tessin und darüber hinaus der Weltarchitektur nicht wenige markante und zugleich eigenartig konzepthaft, abstrakt gebliebene Bauten geschenkt. Eine auf 1600 m ü. M. im Berghang verankerte Aussichtsplattform mit, in die Substruktion verstaut, einer Kapelle auf dem Monte Tamaro. Grosse, lotrecht aufgemauerte oder schräg zur Seite geneigte und oben gekappte Mauerkegel oder -zylinder über riesigen Prismen aus Backstein oder Granit als Kathedralen oder Pfarrkirchen im Maggiatal, in Evry oder in Pordenone bzw. als Museum für moderne Kunst in San Francisco. Ausserdem ganze Quartiere aus wuchtigen Corporate Headquarters in Lugano (Gotthardbank) oder in Bellinzona (Basler Versicherung, Swisscom). Und weitere stolze Verwaltungsbauten in Dortmund, Basel und anderswo.
Thematisch, als verkapptes Nationalmonument, und in seinem Charakter als Provisorium knüpft «San Carlino» jedoch vor allem an eine unter den Realisierungen dieses Architekten an: das «Botta-Zelt» (1991). Wer erinnert sich nicht! Seit der Bundeshauskuppel kam die Schweizer Architektur nicht mehr näher an das ja nicht ganz unproblematische Ideal eines Nationaldoms heran. Erstmals in Bellinzona aufgestellt, wanderte die Zelt-Kalotte u. a. nach Sils Maria, Brunnen und Hannover als ambulanter Festplatz für eine Vielzahl der offiziellen Veranstaltungen in dem an Kunst- und Architektur im übrigen ja armen Gedenkjahr. Als Silhouette bilden die radial angeordneten Fachwerkträger des Zelts einen Halbkreis. Die Träger (13 an der Zahl; wie anders hätten sich die erforderlichen 26 Flaggen der Kantone und Halbkantone daran festmachen lassen?) zeichnen die Form einer Kuppelschale in den Luftraum. Darüber aufgepflanzt folgt eine Art kolossaler Laterne, gemacht aus Fahnenstangen. Kuppel und Tambour sind nicht in Stein gebaut, sondern als ephemere Zeichen evoziert; das Zeltdach selbst ist, wie jedes Zirkuszelt, in der Form eines polygonal gebrochenen Kegels unten an den Trägern befestigt. Ein Fest der Wappen und Standarten: nur dass Botta den Fahnenstangenwald im Bild des Peripteros fasst, der über der Quasi-Halbkugelkalotte aufsteigt und so bei den Eingeweihten die Erinnerung an das Pantheon mit jener an den Tempel der Fortuna Virilis verknüpft. Dies alles im Massstab der Miniatur, in der Form eines baulichen Provisoriums; als - allerdings kostspielige - Billigausgabe eines nationalen Memorials. (Dass der Ernstfall eines Nationalmonuments, z. B. in Gestalt eines neuen Bundeshauses - ein solches hätte Botta ja auch gern gebaut -, zu diesem Zeitpunkt ausserhalb der Reichweite lag, gehört zu den Unabänderlichkeiten des schweizerischen Pragmatismus . . .)
Nationalidee und das Gewissen
Mit dem transportablen Rundbau wäre es Botta um ein Haar gelungen, der später dann diagnostizierten «Havarie» der offiziellen schweizerischen Erinnerungspolitik (Jakob Tanner) vorzubeugen. Die Kunst und die Architektur unseres Jahrhunderts scheinen die Vorstellung endgültig festgelegter «Gedächtnisorte» (Pierre Nora) mitsamt den dazugehörigen Inhalten ad acta gelegt zu haben. Man weiss nicht mehr, woran man diese Gedächtnisorte als solche erkennen kann; im Zeitalter des privatisierten Gewissens vermag ein Steinhaufen, eine Schiefertafel mit runenartigen Kreidezeichen zum metaphysischen Richtwert zu werden. Und dies trotz oder gerade wegen der nicht wenigen Versuche der dreissiger Jahre, das öffentliche Bewusstsein noch einmal an die überlieferten Figuren nationaler Identität zurückzubinden: Albert Speer und seine zum Glück dann doch nicht realisierten Kolossalbauten für «Germania», alias Berlin, oder Mussolinis Terza Roma sind lediglich die eklatantesten Beispiele.
Jede offizielle «Gedächtniskultur» hat seither das Problem, Analogien mit solchen Unternehmungen à tout prix vermeiden zu müssen. Das gilt auch für die Schweiz. Was ist ihre vielbeschworene «Identitätskrise», wenn nicht das Abbild ihrer Unfähigkeit, nationale Identität überhaupt heute noch vorzustellen jenseits der patriotischen Klischees einerseits und der politischen Selbstzerknirschung andererseits! Mit der fast unverfroren evozierten Sakralität und Monumentalität seines Zelts hat Botta den Versuch unternommen, an eine lange Zeit für definitiv unterbrochen gehaltene Tradition anzuknüpfen. Dass die Aura des Orts, der als Rahmen für die erste Aufstellung diente, den feierlichen und offiziellen Charakter der nationalen Feierstunde vom 1. August 1991 noch untermauerte - buchstäblich! -, ist eine Sache für sich. In den 1980iger Jahren eben erst einer umfassenden Restaurierung und Renovation unterzogen, ist das Castelgrande in Bellinzona als ehemaliger Sitz der Visconti-Fürsten und später der Vögte aus der Innerschweiz ein Baukomplex von höchster historischer und auch beträchtlicher architektonischer Brisanz.
Die «Berufung zum Sakralen»
Nicht zufällig hielt Werner Oechslin unlängst dem Trend der heutigen Architektur, sich mit der Erledigung alltäglicher Probleme zufriedenzugeben, Bottas «Berufung zum Sakralen und Monumentalen» entgegen («La vocazione di Mario Botta per il sacro e il monumentale», 1997). In der Tat: diese Radikalität im Zeichensetzen, diese Entschlossenheit zum Lapidaren, diese hochgemut inszenierten Synthesen von zisterziensischer Armut und boulléescher Absolutheit . . . Das Vertrauen ins vermeintlich noch intakte oder doch wenigstens als Ideal rückbaubare Kulturganze! Welch eine Bildersprache der «Solidität» (= firmitas), der «Dauer», der «zukunftsgerichteten Archaik» - in dieser Epoche der ins Wanken geratenen oder sich multikulturell und multimedial verflüchtigenden Werte!
Unerbittlich führt die Erfolgsgeschichte Botta der Spur einer konservativen Kulturkritik entlang; wie anders wäre denn auch ihre ungeheure Breitenwirkung in unserem «Fin de siècle» zu erklären, gerade auch in der Schweiz? Die Tatsache, dass Bottas Name seit dem Bau des Basler Jean- Tinguely-Museums inzwischen unauslöschlich mit demjenigen des abgesprungenen Uhrmachers unter den Schweizer Kunstfürsten der Nachkriegszeit gekoppelt ist, stellt nur scheinbar einen Widerspruch dar. In Wirklichkeit gibt sie dem Phänomen zusätzliches Relief. Botta und Tinguely: der Rückgriff auf die euklidischen Gewissheiten einer modernen Archaik und die Grenzaufhebung zwischen Kunst, Hokuspokus, Mystik und Klamauk - das sind innerhalb der Schweizer Kunst der letzten Jahrzehnte die komplementären Aspekte einer wenn auch nicht als solche deklarierten katholischen Kulturoffensive . . .
Bottas Bauten sind Bekenntnisse, gebaute Predigten, und sie sind andererseits nicht immer gleichermassen geglückte Häuser, Plätze, Versammlungs- und Arbeitsstätten. Gerade deshalb gehören die beiden grossen Provisorien in seinem bisherigen Werk, das «Botta-Zelt» und «San Carlino», zu den Höhepunkten - ein bedenkenswertes Paradox im Rahmen eines so emphatisch auf «Dauer» eingeschworenen Architekturglaubens! Ausserdem (und hier liegt das Maliziöse seiner Aktualität) ist der «Borromini sul Lago» natürlich auch ein Vorgriff auf alle Arteplages, die die Zukunft noch bringen mag (oder auch nicht). Oder soll man sich damit begnügen, von einem geglückten Bühnenbild zu sprechen: Velas Tell vor dem Hintergrund des halbierten, abends im Trompetengold glänzenden «San Carlino» aus Holz: ein Stück inszenierter Eidgenossenschaft, frei nach Rossini! - Höchste Zeit, die Nörglerpfeile in den Köcher zu stecken. Wer hier nicht staunt und Beifall spendet, dem ist wohl auch mit dem «echten» San Carlino nicht zu helfen.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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