Artikel

CLARTÉ + H VEN LC
Neue Zürcher Zeitung

Die Tessiner Architekturakademie als aktive Vermittlerin

Kurz vor den Festtagen hat die Accademia di Architettura in Mendrisio zwei Ausstellungen zum Werk von Le Corbusier eröffnet und illustre Forscher zu einem Symposium geladen. Im Archivio del Moderno zeigt sie unter dem Titel «H VEN LC» den Entwurf des Meisters für ein Hospital in Venedig und im Museo d'Arte eine monographische Darstellung der Maison Clarté in Genf.

30. Dezember 1999 - Adolf Max Vogt
In Mendrisio hat unweit des historischen Borgo die wohl jüngste Architektur-Akademie Europas vor kaum vier Jahren ihre Zelte aufgeschlagen - in einem früheren Spitalgebäude, einem Patrizierhaus, einem Einkaufszentrum und einem ehemaligen Kloster. An diesen Orten spürt man die Konzentration auf das, was die Tessiner seit dem Mittelalter als ihre berufliche Qualifikation erachten. Denn ähnlich wie der Schweizer Jura stolz ist auf seine Tradition des Uhrenhandwerks, lebt das Tessin im Stolz auf seine Kompetenz für Architektur. Als Nomaden der Baukunst sind die Magistri Comacini und Campionesi (Künstler und Architekten aus der Region rund um den Luganersee) seit je über ganz Europa ausgeschwärmt. Beim Bau des Domes zu Speyer sind sie bereits nachgewiesen. Am Errichten des barocken Rom sind sie massgebend beteiligt. Borromini aus Bissone ist der prägnante Name über diesem Arbeitsheer. Peter der Grosse rief sie zu Tausenden, um St. Petersburg zu errichten. Im 19. Jahrhundert gelangten einige von ihnen von dort aus nach Istanbul, wo sie die Kuppel und die Mosaiken der Hagia Sophia retten helfen, sich aber auch am Aufbau von Pera, dem europäischen Viertel, beteiligen. Pietro Bianchi schliesslich verdankt Neapel einen Höhepunkt des Klamizismus: die prachtvolle Kulisse von San Francesco di Paola. Insgesamt eine grandiose Leistung der Professionalität, und zwar genau auf jener Vibrationsgrenze, wo Handwerk allemal zur Kunst wird.


Bekenntnis zu Le Corbusier

Nun ist ein solcher Rang des Herkommens noch lange kein Garantieschein für künftige Ausnahmetaten. Im Tessin erwuchs aus der Not eine Kraft, die plötzlich Wunder wirkte. Das «Wirtschaftswunder» nach der Nachkriegsphase wirkte sich in Form der Zersiedelung verheerend auf das Tessin aus. Immer krasser verlor es sein Gesicht. Heimatschutz und Denkmalpflege kämpften verzweifelt auf bedrängtestem Posten. Doch Bewahren allein genügte nicht. Erst ein qualifiziert modernes Bauen der Tessiner selbst eröffnete einen Ausweg. Die Generation von Galfetti, Flora Ruchat, Carloni, Snozzi und Vacchini tat diesen entscheidenden Schritt. Die nächste Generation mit Bruno Reichlin und Mario Botta präzisierte die Art von Moderne, welche dem Tessiner Temperament am nächsten zu liegen scheint, durch ein Bekenntnis zu Le Corbusier. Bruno Reichlin organisierte im Herbst 1980 die Ausstellung «Le Corbusier - la ricerca paziente» in der Villa Malpensata in Lugano, mit einem hochkarätigen Katalog übrigens, der die aktuelle Forschung international zu Wort kommen liess. Wobei auch der damals kaum bekannte Mario Botta auftrat mit «L'ultimo progetto di Le Corbusier», womit er das Spitalprojekt für Venedig meinte.

Diese Andeutungen machen klar, dass die Bauleute im Tessin fähig waren, über zwei Generationen gemeinsam und folgerichtig zu handeln. Das weltweit bekannte Spiel, dass die jüngere Generation auszuwischen versucht, was die ältere erstrebte, blieb aus. Die Folgerichtigkeit der Tessiner wurde so zwingend und klar, dass sie in dieser Zeitspanne von nur 25 Jahren den Schritt vom Aufbruch in die Avantgarde bis zur Installation einer lebensvollen Akademie vollbringen konnten. Wobei das Vorbild des ebenfalls am Rand der Schweiz aufgewachsenen Neuchâtelois und Chaux-de-Fonniers Le Corbusier mit derselben bestrickenden Konsequenz verbindlich blieb bis auf den heutigen Tag.

Die beiden Ausstellungen zum Immeuble Clarté in Genf und zum (nicht verwirklichten) Spital von Venedig kennzeichnen die Lebensmitte und die letzten Jahre des Meisters. Die Räume der Clarté erreichen mühelos die flutende Grosszügigkeit der klassischen Moderne - jene von «H VEN» nähern sich der Mönchszelle, bezeugen somit entschiedene Distanz zur Laboratoriumsnähe des heutigen Spitals (was den Entscheid zur Realisierung schliesslich auch blockierte). Beide Ausstellungen sind technisch perfekt aufgebaut und strömen dennoch das Vergnügen an der lockeren Improvisation aus, das die junge Accademia zu beflügeln und zu tragen scheint.


Funken der Gelehrsamkeit

Für die Clarté-Ausstellung zeichnet Luca Bellinelli mit seinen Tessiner und Genfer Mitarbeitern. Für die Spital-Ausstellung stehen Letizia Tedeschi und die beiden Venezianer Renzo Dubbini und Roberto Sordina, denn «H VEN» ist ein Gemeinschaftsprodukt der Architekturschulen von Venedig und Mendrisio - eine mehr als erstaunliche Freundschaftsverbindung, die noch vor Jahren niemand dem stillen Mendrisio zugetraut hätte. Bestätigt wird die Beziehung dadurch, dass Massimo Cacciari, der Philosoph mit Architekturinteresse, der Venedig als Bürgermeister vorsteht, einmal im Monat in Mendrisio unterrichtet. Ebenfalls im Monatsrhythmus fliegt der prominente Architekturhistoriker Kenneth Frampton von Columbia (New York) ins Südtessin. Und als Statthalter von beiden fungiert der soziologisch kompetente Historiker und Theoretiker Jacques Gubler. Mit Gubler entschied sich ein Westschweizer für die Schule, genauso wie es der Bündner Peter Zumthor getan hat, der als Architekt des Bades von Vals und des Museums in Bregenz zu den grossen Hoffnungen einer anders wahrnehmenden Bauweise gehört. Kurz: Die Tessiner Architekten erweisen sich als weltoffen, wie es sich für Nomaden der Baukunst gehört, und Berührungsängste haben sich bisher keine gemeldet.

Die Zeit zwischen den beiden Ausstellungseröffnungen wurde für eine Vortragsreihe genützt, an der zunächst Frampton, Reichlin, Dubbini, dann Lucan, von Moos, Rüegg und Gubler ihre These vortrugen. Stiebende Funken, Perlen mit und ohne Schimmer, Forscherbeharrlichkeit, kryptische Gelehrsamkeit, Andeutungskoketterie - nichts fehlte in dieser Reihe. Immerhin: Le Corbusier bleibt der überragende Magnet für aufgeweckte Köpfe. Und weshalb? Weil die Qualität und Originalität seiner jeweiligen Fragestellung auch dann überdauert, wenn die von ihm entwickelten Lösungen heute nicht mehr verbindlich wirken.

Eine neue Optik auf den grossen Alten war bei Jacques Lucan (Paris/Lausanne) wahrzunehmen, der über «L'informe» im Spätwerk sprach und dabei das Halbgeformte und Ungeformte souverän diskutierte. Und eine alte Optik bestach erneut: jene von Arthur Rüegg (ETH Zürich). Rüegg tritt auf mit dem Bodenpersonal der Forschung und scheint die höheren Gefilde zu meiden. Er entdeckt die ursprünglichen Farben an den Bauten und erkundet die Masse. Diesmal befasste er sich mit den Proportionen jenes Bettes, das Le Corbusier für seine Cabane am Cap Martin, direkt über dem Meer, entwarf - und das zu seinem letzten Lager wurde: Wassertod im Mittelmeer nach der Wasserfeier des Spitalentwurfs für Venedig. Rüegg notiert die Details dazu.

Auf der Rückreise ein Halt bei Bottas «Borromini sul Lago» in Lugano. Dieser errichtete sein hölzernes Schnittmodell der Kirche San Carlo alle Quattro Fontane im Massstab 1:1 auf einem Floss vor der Quaimauer im Namen der Università della Svizzera Italiana und der Accademia di architettura Mendrisio. Als Feier des grössten Barockmeisters des Kantons, aber dargestellt mit den Mitteln der Aufklärung, als Modellschnitt im Sinne von Gondoin, 1765. Ein weiteres Beispiel der wachen und ideenreichen Kommunikation, welche die Akademie anstrebt.


[ Die Ausstellungen im Archivio del Moderno und im Museo d'Arte von Mendrisio dauern bis zum 6. Februar und sind von drei Katalogen begleitet. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: