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Zentrale Peripherie?
Neue Zürcher Zeitung

Eine Grossbaustelle im Stadtzentrum von Hamburg

Natur- und Menschengewalten formten das Stadtbild Hamburgs in den letzten beiden Jahrhunderten stets neu. Nun plant die Hansestadt, den Freihafen wieder dem Stadtzentrum zuzuschlagen. Ein entsprechender Wettbewerb wurde schon durchgeführt und der Masterplan durch das von Kees Christiaanse und Astoc gebildete Team «Hamburgplan» erarbeitet.

4. August 2000 - Serge von Arx
Für Hamburg ist der Handel das Mass aller Dinge. Der weltweite Güteraustausch wurde für die Hansestadt seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zum Quell von Reichtum und Wohlstand. Die Hafenanlage, die mit den technischen und wirtschaftlichen Erfordernissen Schritt halten musste, bestimmt die Stadtgestaltung bis heute. Als die Eingliederung Hamburgs ins Deutsche Reich und in dessen Zollgebiet für 1888 beschlossen wurde, sah sich die Stadt gezwungen, ihre Stellung als Freihafen aufzugeben - unter der ausbedungenen Wahrung eines Freihafenbezirks. Zur Errichtung der Zollanschlussbauten in der Speicherstadt am südlichen Rand der Innenstadt wurde ein barockes Wohnquartier, in dem rund 24 000 Menschen lebten, kurzerhand abgerissen. Wie aus einem Guss reihten sich danach die gotisierenden Klinkerbauten zu einem dichten Speicherkomplex. Die Zollgrenzen verwandelten die faszinierende, fast menschenleere Stadt in der Stadt in eine geschlossene Welt.


Suche nach architektonischer Identität

Grossmassstäbliche Neuplanungen waren für Hamburg seit dem Brand von 1842, der die barocke Innenstadt weitgehend zerstört hatte, kein Novum mehr. Dabei galt das Augenmerk immer den Handelsbauten. Fragen der Stadthygiene - etwa der Bau einer dringend benötigten Sandfiltrationsanlage - wurden vernachlässigt. Erst nachdem 1892 eine Choleraepidemie 8000 Menschenleben hinweggerafft hatte, nahm die Stadt entsprechende Modernisierungen in Angriff. Anfang des 20. Jahrhunderts gab Oberbaudirektor Fritz Schumacher der Stadt eine neue architektonische Identität, indem er auf den örtlichen Backstein und die traditionelle Architektursprache zurückgriff. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt 1943 im Rahmen der Operation «Gomorrha» durch Brandbomben der Alliierten weitgehend zerstört. Obwohl die öffentlichen Bauten und einige Siedlungen rekonstruiert wurden, blieb Schumachers zusammenhängendes Stadtgeflecht als Ganzes verloren.

Nach Jahrzehnten willkürlichen und traditionsverhafteten Bauens ohne gesamtstädtische Vision erlebte Hamburg erst unter Oberbaudirektor Egbert Kossak zwischen 1981 und 1998 wieder einen - wenn auch nur zaghaften - stadtplanerischen und architektonischen Aufschwung. War die erste Dekade seines Wirkens noch dem traditionellen Bauen - dem Backstein und den Blockrändern - verpflichtet und der Reichtum der Stadt so diskret wie möglich repräsentiert, so versuchte er die Stadt in der zweiten Dekade zu öffnen. Architekturimporte, Berücksichtigung jüngerer Architekten, aber auch Veranstaltungen wie der im Dreijahresrhythmus stattfindende «Architektursommer» sollten der Hansestadt helfen, auf der internationalen Architekturbühne eine Rolle zu spielen. Der erste Bau, der definitiv mit der traditionellen Architektur brach, war das für Gruner + Jahr errichtete Gebäude der Münchner Architekten Steidle und Kiessler: eine Medienwerft aus Blech und Glas (1990).

Erst ein knappes Jahrzehnt später versuchte Hamburg erneut als Medienstadt architektonisch Aufmerksamkeit zu erregen. Auf dem Gelände eines ehemaligen Fussballplatzes im noblen Viertel Rotherbaum baute Norman Foster 1999 ein «Multimedia Center», das aber kaum als Werk des englischen Meisters auffällt. Unmittelbar daneben schufen die Architekten vom Atelier 5 eine Wohnanlage, bei der sie die traditionelle Hofform der Hamburger Mietshäuser gelungen verdichteten. Und vom jüngst verstorbenen Enric Miralles stammt die vor zwei Monaten eingeweihte Jugendmusikschule. Im stadtnahen Hafenbereich entstanden im Rahmen sukzessiver Umbauten der obsoleten Mälzerei- und Speicheranlagen am Elbufer Möbelläden und Büroräume in der grossenteils erhaltenen Bausubstanz. Dass die Speicherstadt weitgehend von derartigen Eingriffen verschont geblieben ist und damit ihre Authentizität bewahren konnte, verdankt sie dem auch heute noch bestehenden Freihafenbezirk, der ihre ursprüngliche Nutzung sichert.

Die Speicherstadt liegt wie eine Gabel mit drei nach Westen, also in Richtung der Elbströmung, zeigenden Zinken südlich der Altstadt auf der Kehrwieder-Wandrahm-Insel. Zunehmende Dimensionen und der stärkere Tiefgang der Handelsschiffe sowie die Rationalisierung der Transportlogistik durch den Containerumschlag erforderten eine stete Vergrösserung der Hafenanlage. Südlich der Elbe drängte sich ihr Astwerk aus Häfen und Kanälen immer weiter ins Land vor. Mit dem technischen Wandel geht aber immer auch ein morphologischer einher, und somit liegen einst blühende Industrieareale irgendwann brach. So wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veraltete Hafenanlagen in der westlichen Welt in attraktive Wohn-, Büro- und Erholungsgebiete umfunktioniert. Nach den bedeutenden Restrukturierungen in Barcelona, London und Rotterdam soll nun in Hamburg die Innenstadt um 50 Prozent ausgedehnt werden. Die Speicherstadt bleibt erhalten und bildet die Schweissnaht zwischen dem Zentrum und deren 155 Hektaren grosser Erweiterung im Freihafen unmittelbar südlich der neugotischen Speicherbauten. Gelingt dieses städtebauliche Unternehmen, so gewinnt Hamburg das vor 100 Jahren abgetretene Gebiet zurück und gleichzeitig rückt das Stadtzentrum wieder zur Elbe hin.


Das Wagnis der Identitätsfindung

Aus dem internationalen Wettbewerb für den Masterplan der «Hafen City» ging 1999 «Hamburgplan», das vom international bekannten niederländischen Architekten Kees Christiaanse und Astoc gebildete Planungsteam, als Sieger hervor. Geschickt reagierte es auf die notgedrungen lange Bauzeit (voraussichtlich soll die Stadterweiterung 25 Jahre dauern), indem es das Areal in acht einzelne Quartiere unterteilte, die nach unterschiedlichen Bautypen und Nutzungen sukzessive entstehen sollen. Von eigener Identität ist im Bericht der Jury die Rede, von zukunftsorientierten Typologien und Flexibilität.

Ob diese Schlagwörter eine entsprechende Umsetzung in die Wirklichkeit erfahren werden, wird sich anhand der anstehenden Projektwettbewerbe erweisen müssen. Am Westende der lang gezogenen Speicherstadt, der Kehrwiederspitze, entstanden bereits in den späten neunziger Jahren Kontorhäuser von Kohn, Pedersen, Fox, GMP und Kieffel, Köhnholdt, Gundermann - ein Ensemble, das in Hamburger Manier kommerziellen Aspekten den Vorrang gab und in seiner historisch wichtigen Lage als Mahnmal für Hamburgs unsensiblen Umgang mit seinem baulichen Erbe betrachtet werden kann. - Der überarbeitete Masterplan des Siegerteams wurde Ende Februar vom Senat verabschiedet. Die einzelnen Viertel auf der Insel muten darin wie ein Musterkatalog verschiedener Stadtstrukturen an, in denen der Blockrand als Leitmotiv variiert wird. Obwohl der erste Direktor der Kunsthalle, Alfred Lichtwark, vor einem Jahrhundert noch verlauten liess: «Es lässt sich nicht sagen, ob in Hamburg das Wasser oder das Land sich als das weniger stabile Element erwiesen hat», bleiben die einst nach funktionalen Kriterien angelegten Häfen und Kanäle unberührt. Unspektakulär wurden die einzelnen Parzellen auf die Insel verteilt, die sich in ihrer gewachsenen Form etwas gegen die starren Geometrien des Masterplans zu sträuben scheint. Mit den geplanten 5500 Wohnungen, 20 000 Arbeitsplätzen, Läden, Parks, Cafés und Unterhaltungszentren, mit einem «Sea Science Center» und dem Kreuzfahrt-Terminal können zweifellos breite Kundenkreise angezogen werden.

Der Rentabilität kommt bei diesem Projekt eine besondere Bedeutung zu. Denn der durch die notwendige Verlagerung der jetzigen Hafenanlagen verursachte Schuldenberg muss durch den Verkauf des Hafengeländes mitfinanziert werden. Ob dabei auch Einzelinvestoren und Kleinunternehmen zum Zuge kommen - wie in den Leitzielen des Masterplans formuliert -, um der neuen Stadt die notwendige soziale Durchmischung und somit ein vielfältiges Leben zu garantieren, wird sich zeigen. Shopping-Malls und Vergnügungszentren ziehen immer eine grosse Klientel in ihren Bann - ein Garant für städtisches Leben sind sie aber auch in zentraler Lage nicht.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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