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Visualisierung des Zerstörten
Neue Zürcher Zeitung

Virtuelle Rekonstruktionen deutscher Synagogen in Bonn

20. September 2000 - Mathias Remmele
Als ein bedeutsames Datum in der Geschichte der Entrechtung und Verfolgung der Juden in Deutschland sind die Pogrome vom 9. und 10. November 1938 im historischen Gedächtnis der Deutschen verankert. Der brutale Terror wurde von einem beispiellosen Akt kultureller Barbarei begleitet: Dem zentral gesteuerten, von SA-Männern und dem sympathisierenden Mob ausgeführten Zerstörungswerk fielen in der «Reichskristallnacht» die Hälfte der rund 2800 Synagogen und Bethäuser in Deutschland zum Opfer. Viele dieser Bauwerke haben das Bild von Städten und Dörfern wesentlich mitgeprägt und damit Zeugnis abgelegt vom jüdischen Leben in Deutschland. Sie verdienen aber auch unter architekturhistorischen Gesichtspunkten Beachtung. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang nur die nach Plänen von Gottfried Semper 1838-1840 errichtete Synagoge in Dresden. An die systematische Zerstörung der Synagogen, die bereits vor dem November 1938 einsetzte, während des Weltkriegs weiterging und sogar in der Nachkriegszeit noch eine Fortsetzung fand, erinnern heute vielerorts nur mehr Gedenktafeln. Aus dem Bewusstsein der Menschen sind sie weitgehend verschwunden.

Eine in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn präsentierte Ausstellung mit dem Titel «Synagogen in Deutschland - eine virtuelle Rekonstruktion» rückt nun die verlorenen Bauwerke ins Zentrum der Betrachtung. Die von einem Team aus Dozenten und Studenten der Technischen Universität Darmstadt seit Jahren mit grossem Engagement vorbereitete Schau stellt insgesamt 14 grosse Synagogenbauten vor, die die Bedeutung, Bandbreite und Vielfalt der jüdischen Sakralarchitektur in Deutschland beispielhaft dokumentieren. Bemerkenswert an der Bonner Ausstellung ist vor allem die neuartige Darstellungsform. Gezeigt werden - teils als Videoanimation, teils als Diaprojektion - virtuelle Rekonstruktionen der Gebäude. Diese mit den Mitteln avancierter Computertechnik und hoch entwickelter CAD-Software erzeugten künstlichen Bilder, die sich bisweilen von realen Photographien oder Filmen kaum mehr unterscheiden lassen, entwickeln eine erstaunliche Überzeugungskraft. Sie veranschaulichen, besser als es die wenigen Originaldokumente (historische Photographien und Pläne) könnten, diese herausragenden Kulturgüter, deren Verlust hier beklagt wird. Gleichzeitig sind diese Bilder und die durch sie transportierten Informationen auch einem Publikum unmittelbar zugänglich, das mit dem eher spröden Archivmaterial - das freilich als wesentliche Grundlage für die virtuellen Rekonstruktionen in der Ausstellung ebenfalls seinen Platz hat - wenig anzufangen wüsste.

Die Bonner Schau präsentiert ein «work in progress». Das Projekt - entstanden unter dem Eindruck des Brandanschlags auf die Lübecker Synagoge von 1994 - wird fortgesetzt, auch in der Ausstellung selbst, wo zwei Studenten an ihren Rechnern den aufwendigen Rekonstruktionsprozess selbst vorführen. Eine der wesentlichen Zielsetzungen ist dabei die Zusammenführung und Verdichtung des Wissens über die zerstörten Synagogen. Angesichts der oft nur lückenhaften Dokumentation der Bauten durch Pläne und Fotos - die Nazis vernichteten in zahlreichen Fällen nicht nur die Gebäude selbst, sondern auch die dazugehörigen Bauakten und Dokumente - war und ist man während der Arbeit an den Rekonstruktionen auf die Hinweise und Beschreibungen noch lebender Zeitzeugen angewiesen. Die mit ihrer Hilfe entstehenden Bilder, die bewusst nur als Annäherungen an die Realität verstanden werden, sind eine Chance, das Gedächtnis dieser Menschen und das Gedenken an das unwiederbringlich Zerstörte zu bewahren. Nach den Vorstellungen der Darmstädter Projektleiter sind die computergenerierten virtuellen Rekonstruktionen der Synagogen schliesslich auch ein Weg, die digitalen Technologien und speziell das Internet der Erinnerungskultur dienstbar zu machen. Die Entwicklung immaterieller, den Bedingungen und Möglichkeiten der neuen Medien angepasster Gedenkstätten scheint in der Tat eine zukunftsweisende Aufgabe.


[Bis 1. Oktober. Katalog: Synagogen in Deutschland - eine virtuelle Rekonstruktion. Hrsg. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2000. 79 S., DM 10.-. Unter www.cad.architektur.tu-darmstadt.de sind zusätzliche Informationen abrufbar. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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