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Konversionen und Transformationen
Dezentrale Expo-Projekte in Nordostdeutschland
Zum ersten Mal findet mit der Expo 2000 eine Weltausstellung nicht nur an einem Ort statt, sondern spannt ein Netz dezentraler Projekte über die Welt. Eine Reise durch Mittel- und Norddeutschland führt zu einigen architektonisch bemerkenswerten Stationen.
3. Oktober 2000 - Hubertus Adam
Beim Landeanflug auf Leipzig wirkt das Stadtgebiet wie eine Oase inmitten einer Mondlandschaft: Bis auf wenige hundert Meter haben sich die Räder der Schaufelradbagger dem Stadtrand genähert. Dörfer und Siedlungen sind über Jahrzehnte dem sich ständig erweiternden Braunkohleabbau zum Opfer gefallen, übrig blieben Krater und Schutthalten, eine Kunstlandschaft, von der nun die Spontanvegetation Besitz ergreift. Obgleich die Braunkohlewirtschaft durch das Ende der DDR nicht vollends zum Erliegen gekommen ist, wandelt sich der Leipziger Süden seit einem Jahrzehnt: Kokereien, veraltete Kraftwerke und Brikettfabriken wurden stillgelegt, ebenso viele Tagebauareale. Mit Hilfe von Expo-Fördermitteln gelang es, den stadtnahen Tagebau Cospuden zu renaturieren und in eine Freizeitlandschaft zu verwandeln. Rund um einen Badesee entstanden Biotope; die für Leipzig charakteristische Auenlandschaft, die als Grünzug die gesamte Siedlungsfläche durchzieht, konnte um ein wesentliches Element bereichert werden.
Brachen der Industrielandschaft
Doch die Transformation der Industriegesellschaft wird auch in der Stadt selbst anschaulich. Plagwitz, ein westlich der City gelegener Stadtteil, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Industriequartier angelegt. Wer vor zehn Jahren in den verqualmten Strassen umherging, entdeckte ein Fabrikareal des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an dem die Zeit beinahe spurlos vorbeigegangen war. Mit dem Kollaps der Maschinen- und Textilfabrikation wurde Plagwitz zur Problemregion der Stadt. Zweifellos ist es gelungen, mit attraktiven neuen Wegen an den historischen Kanälen, aber auch durch erfolgreiche Konversionsprojekte das Image des Viertels zu verbessern. Allerdings lässt sich beim besten Willen nicht jede denkmalwerte Industriehalle in ein Businesszentrum, nicht jede Fabriketage in Künstlerateliers umwandeln. Dem aufmerksamen Besucher vermag das Expo-Projekt «Plagwitz auf dem Weg ins 21. Jahrhundert» somit auch die Grenzen aufzuzeigen, die dem Konzept Konversion gesetzt sind. Für Fritz Högers klinkerverkleidete Konsumzentrale (1932) beispielsweise, ein Meisterwerk des Neuen Bauens, wurde noch keine Nutzung gefunden. Im Übrigen verhält es sich angesichts fortschreitender Suburbanisierung und stetig sinkender Bevölkerungszahlen mit den Wohnbauten nicht anders, so dass die Kommune den Abriss von mehreren hundert Gründerzeithäusern erwägt.
Verlässt man Leipzig Richtung Norden, so zeigt sich ein ähnliches Bild: die Reihe der Tagebaue zieht sich bis in die Gegend des Chemiestandortes Bitterfeld. Das Projekt «Ferropolis» macht die industrielle Nutzung der Naturressourcen zum Thema: in einem aufgelassenen Tagebau wurden die gigantischen Schaufelradbagger und Förderstrecken in der Art eines bizarren Freilichtmuseums konserviert. Während die sorgsame Restaurierung der von Rudolf Otto Salvisberg für die «Mitteldeutschen Stickstoffwerke AG» errichteten Siedlung Piesteritz (NZZ 6. 9. 00) zu Recht Aufnahme in die von der Expo 2000 unterstützten Projekte gefunden hat, zeugt der Umbau eines Plattenbau-Schulkomplexes im nahen Wittenberg durch Friedensreich Hundertwasser von einer Verwässerung des Expo-Mottos «Mensch - Natur - Technik». Doch Säulchen und Zwiebelkuppeln sind so beliebt, dass Hundertwasser die zwischen Hannover und Hamburg gelegene Bahnstation Uelzen zu - so das Faltblatt - «einem der schönsten Bahnhöfe der Welt» umbauen durfte.
Etwas vollmundig liebt man es auch im südlichen Niedersachsen. «Expo on the rocks» lautet das Motto in Goslar am Nordrand des Harzes. Mitsamt der historischen Altstadt rangiert das Erz- und Silberbergwerk Rammelsberg seit 1992 als Unesco-Weltkulturerbe und fungiert derzeit ebenfalls als Satellit der Weltausstellung. Begehbar sind nicht nur Teile der Stollensysteme, sondern auch die 1935 bis 1942 entstandenen oberirdischen Anlagen der Erzaufbereitung. Die eindrucksvolle Staffelung der Bauten am Hang folgt streng funktional den Erfordernissen der Erzgewinnung, bezeugt aber mit Satteldächern und Holzverkleidung auch eine für die NS-Zeit typische Romantisierung des Produktionsprozesses. Die vornehmlich im Ruhrgebiet als Bergwerksarchitekten tätigen Fritz Schupp und Martin Kremmer, die mit dem Schacht XII der Zeche Zollverein in Essen ein Meisterwerk der Industriebaukunst des 20. Jahrhunderts schufen, suchten in Goslar vernakuläres Bauen und Moderne zu versöhnen. Den Propagandisten einer vor Jahren ausgerufenen «analogen Architektur» könnte das Ensemble als Musterbeispiel dienen.
Einen anderen Weg als jenen der Musealisierung aufgelassener Industriekomplexe beschreitet man in Steinbergen, einer am Hang des Wesergebirges gelegenen Ortschaft 50 Kilometer westlich von Hannover. Da die landschaftsbeherrschenden Kalksteinbrüche nur noch wenige Jahre effizient ausgebeutet werden können, begann schon jetzt die Transformation der Abbaugebiete in einen Themenpark. Im derzeitigen Ausbauzustand indes verliert sich die Absicht: ein wenig Heimatmuseum (Mineraliensammlung), ein wenig Kunst (Videoinstallation von Marcel Odenbach) und etwas Tourismuswerbung wirken gut gemeint, aber wenig überzeugend. Günter Zamp Kelp, früher Mitglied des Wiener Aktionistenteams «Haus-Rucker-Co.» und inzwischen durch das Neandertal-Museum bei Düsseldorf als praktizierender Architekt zu Renommee gelangt, betraute man mit der künstlerischen Oberleitung. Nur Teile seines Konzepts sind bisher realisiert worden, doch lohnt die als «Jahrtausendblick» bezeichnete Installation auf dem höchsten Punkt der «Erlebniswelt steinzeichen steinbergen» auch heute schon den Besuch. Eine Rampe aus Bruchsteinen, die sich in eine Stahlgitterstruktur auflöst und in einer von gläsernen Rahmen gefassten Plattform kulminiert, stellt sich in die Tradition architektonischer Follies, dient sie doch keinem anderen Zweck, als das Sehen selbst zu thematisieren. Die gestaffelten Rahmen geben Perspektiven vor und enttarnen die vorgebliche Naturlandschaft als artifizielle Inszenierung. Zamp Kelp greift damit - allerdings in verändertem Massstab - ein Thema auf, das mit dem «Aue-Tor» in Kassel schon 1977 in Haus-Rucker-Tagen seine Formulierung gefunden hatte.
Sehen, Hören, Verstehen
Ein Themenpark anderer Art ist nahe der nördlich von Osnabrück gelegenen Ortschaft Kalkriese entstanden. Nachdem Münzfunde 1987 erste Hinweise gegeben hatten, konnte auf Grund archäologischer Ausgrabungen erwiesen werden, dass es sich bei der Kalkrieser Senke um den Ort der Varusschlacht handelt, die im Jahr 9 der Ausdehnung des Römerreiches in Germanien ein Ende setzte. Der nach dem Wettbewerbsentwurf der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer entstandene Archäologische Park konnte im Mai eingeweiht werden; der Museumsbau selbst wird im kommenden Frühjahr fertiggestellt sein. Gigon und Guyer ist es gemeinsam mit den Landschaftsarchitekten Zulauf und Partner sowie den Grafikern Ruedi Baur und Lars Müller nicht nur gelungen, ein weit zurückliegendes, sich der Darstellbarkeit entziehendes historisches Ereignis intelligent zu veranschaulichen, ohne in oberflächliche Bildlichkeit zu verfallen; sie spannen ihren Bogen auch in die Gegenwart, interpretieren die Varusschlacht als Paradigma des (kriegerischen) Konflikts. Mit abstrakten Mitteln - Holzschnitzelpfaden für die Bewegungen der Germanen, Stahlplatten als Zeichen für den Weg der Römer - ist es gelungen, die hermeneutische Frage nach der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse aufzuwerfen. Diesem Zweck dienen auch drei über das Gelände verstreute, ebenfalls mit korrodierten Stahlplatten verkleidete Kuben: Durch die kugelförmige Linse des Pavillons «Sehen» blickt man über das um 180 Grad gekehrte einstige Schlachtfeld, während das Hörrohr des «Hören»-Würfels die zufälligen Geräusche der Umgebung bündelt. Im «Verstehen»-Pavillon schliesslich fällt der Lichtschein von ausserhalb auf eine Monitorwand mit einer endlosen Sequenz von Bildern heutiger und vergangener Kriegsschauplätze.
Brachen der Industrielandschaft
Doch die Transformation der Industriegesellschaft wird auch in der Stadt selbst anschaulich. Plagwitz, ein westlich der City gelegener Stadtteil, wurde Mitte des 19. Jahrhunderts als Industriequartier angelegt. Wer vor zehn Jahren in den verqualmten Strassen umherging, entdeckte ein Fabrikareal des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, an dem die Zeit beinahe spurlos vorbeigegangen war. Mit dem Kollaps der Maschinen- und Textilfabrikation wurde Plagwitz zur Problemregion der Stadt. Zweifellos ist es gelungen, mit attraktiven neuen Wegen an den historischen Kanälen, aber auch durch erfolgreiche Konversionsprojekte das Image des Viertels zu verbessern. Allerdings lässt sich beim besten Willen nicht jede denkmalwerte Industriehalle in ein Businesszentrum, nicht jede Fabriketage in Künstlerateliers umwandeln. Dem aufmerksamen Besucher vermag das Expo-Projekt «Plagwitz auf dem Weg ins 21. Jahrhundert» somit auch die Grenzen aufzuzeigen, die dem Konzept Konversion gesetzt sind. Für Fritz Högers klinkerverkleidete Konsumzentrale (1932) beispielsweise, ein Meisterwerk des Neuen Bauens, wurde noch keine Nutzung gefunden. Im Übrigen verhält es sich angesichts fortschreitender Suburbanisierung und stetig sinkender Bevölkerungszahlen mit den Wohnbauten nicht anders, so dass die Kommune den Abriss von mehreren hundert Gründerzeithäusern erwägt.
Verlässt man Leipzig Richtung Norden, so zeigt sich ein ähnliches Bild: die Reihe der Tagebaue zieht sich bis in die Gegend des Chemiestandortes Bitterfeld. Das Projekt «Ferropolis» macht die industrielle Nutzung der Naturressourcen zum Thema: in einem aufgelassenen Tagebau wurden die gigantischen Schaufelradbagger und Förderstrecken in der Art eines bizarren Freilichtmuseums konserviert. Während die sorgsame Restaurierung der von Rudolf Otto Salvisberg für die «Mitteldeutschen Stickstoffwerke AG» errichteten Siedlung Piesteritz (NZZ 6. 9. 00) zu Recht Aufnahme in die von der Expo 2000 unterstützten Projekte gefunden hat, zeugt der Umbau eines Plattenbau-Schulkomplexes im nahen Wittenberg durch Friedensreich Hundertwasser von einer Verwässerung des Expo-Mottos «Mensch - Natur - Technik». Doch Säulchen und Zwiebelkuppeln sind so beliebt, dass Hundertwasser die zwischen Hannover und Hamburg gelegene Bahnstation Uelzen zu - so das Faltblatt - «einem der schönsten Bahnhöfe der Welt» umbauen durfte.
Etwas vollmundig liebt man es auch im südlichen Niedersachsen. «Expo on the rocks» lautet das Motto in Goslar am Nordrand des Harzes. Mitsamt der historischen Altstadt rangiert das Erz- und Silberbergwerk Rammelsberg seit 1992 als Unesco-Weltkulturerbe und fungiert derzeit ebenfalls als Satellit der Weltausstellung. Begehbar sind nicht nur Teile der Stollensysteme, sondern auch die 1935 bis 1942 entstandenen oberirdischen Anlagen der Erzaufbereitung. Die eindrucksvolle Staffelung der Bauten am Hang folgt streng funktional den Erfordernissen der Erzgewinnung, bezeugt aber mit Satteldächern und Holzverkleidung auch eine für die NS-Zeit typische Romantisierung des Produktionsprozesses. Die vornehmlich im Ruhrgebiet als Bergwerksarchitekten tätigen Fritz Schupp und Martin Kremmer, die mit dem Schacht XII der Zeche Zollverein in Essen ein Meisterwerk der Industriebaukunst des 20. Jahrhunderts schufen, suchten in Goslar vernakuläres Bauen und Moderne zu versöhnen. Den Propagandisten einer vor Jahren ausgerufenen «analogen Architektur» könnte das Ensemble als Musterbeispiel dienen.
Einen anderen Weg als jenen der Musealisierung aufgelassener Industriekomplexe beschreitet man in Steinbergen, einer am Hang des Wesergebirges gelegenen Ortschaft 50 Kilometer westlich von Hannover. Da die landschaftsbeherrschenden Kalksteinbrüche nur noch wenige Jahre effizient ausgebeutet werden können, begann schon jetzt die Transformation der Abbaugebiete in einen Themenpark. Im derzeitigen Ausbauzustand indes verliert sich die Absicht: ein wenig Heimatmuseum (Mineraliensammlung), ein wenig Kunst (Videoinstallation von Marcel Odenbach) und etwas Tourismuswerbung wirken gut gemeint, aber wenig überzeugend. Günter Zamp Kelp, früher Mitglied des Wiener Aktionistenteams «Haus-Rucker-Co.» und inzwischen durch das Neandertal-Museum bei Düsseldorf als praktizierender Architekt zu Renommee gelangt, betraute man mit der künstlerischen Oberleitung. Nur Teile seines Konzepts sind bisher realisiert worden, doch lohnt die als «Jahrtausendblick» bezeichnete Installation auf dem höchsten Punkt der «Erlebniswelt steinzeichen steinbergen» auch heute schon den Besuch. Eine Rampe aus Bruchsteinen, die sich in eine Stahlgitterstruktur auflöst und in einer von gläsernen Rahmen gefassten Plattform kulminiert, stellt sich in die Tradition architektonischer Follies, dient sie doch keinem anderen Zweck, als das Sehen selbst zu thematisieren. Die gestaffelten Rahmen geben Perspektiven vor und enttarnen die vorgebliche Naturlandschaft als artifizielle Inszenierung. Zamp Kelp greift damit - allerdings in verändertem Massstab - ein Thema auf, das mit dem «Aue-Tor» in Kassel schon 1977 in Haus-Rucker-Tagen seine Formulierung gefunden hatte.
Sehen, Hören, Verstehen
Ein Themenpark anderer Art ist nahe der nördlich von Osnabrück gelegenen Ortschaft Kalkriese entstanden. Nachdem Münzfunde 1987 erste Hinweise gegeben hatten, konnte auf Grund archäologischer Ausgrabungen erwiesen werden, dass es sich bei der Kalkrieser Senke um den Ort der Varusschlacht handelt, die im Jahr 9 der Ausdehnung des Römerreiches in Germanien ein Ende setzte. Der nach dem Wettbewerbsentwurf der Zürcher Architekten Annette Gigon und Mike Guyer entstandene Archäologische Park konnte im Mai eingeweiht werden; der Museumsbau selbst wird im kommenden Frühjahr fertiggestellt sein. Gigon und Guyer ist es gemeinsam mit den Landschaftsarchitekten Zulauf und Partner sowie den Grafikern Ruedi Baur und Lars Müller nicht nur gelungen, ein weit zurückliegendes, sich der Darstellbarkeit entziehendes historisches Ereignis intelligent zu veranschaulichen, ohne in oberflächliche Bildlichkeit zu verfallen; sie spannen ihren Bogen auch in die Gegenwart, interpretieren die Varusschlacht als Paradigma des (kriegerischen) Konflikts. Mit abstrakten Mitteln - Holzschnitzelpfaden für die Bewegungen der Germanen, Stahlplatten als Zeichen für den Weg der Römer - ist es gelungen, die hermeneutische Frage nach der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse aufzuwerfen. Diesem Zweck dienen auch drei über das Gelände verstreute, ebenfalls mit korrodierten Stahlplatten verkleidete Kuben: Durch die kugelförmige Linse des Pavillons «Sehen» blickt man über das um 180 Grad gekehrte einstige Schlachtfeld, während das Hörrohr des «Hören»-Würfels die zufälligen Geräusche der Umgebung bündelt. Im «Verstehen»-Pavillon schliesslich fällt der Lichtschein von ausserhalb auf eine Monitorwand mit einer endlosen Sequenz von Bildern heutiger und vergangener Kriegsschauplätze.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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