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Weg vom Volksschullehrer-Modernismus
Neue Zürcher Zeitung

In den Niederlanden boomt die Architektur

7. Dezember 2001 - Robert Kaltenbrunner
Rechenschaft darüber abzulegen, was ein Architekt heute noch bewirken kann, in einer Welt, die von Desintegration, Unordnung, Massstabsvergrösserung, Flüchtigkeit und neuen Kommunikationsmitteln bestimmt wird, das ist eineTugend, über die nicht allzu viele Baumeister verfügen. In den Niederlanden indes hat dergleichen Konjunktur, wenn man Bart Lootsma Glauben schenken darf. Unter der Überschrift «Super Dutch» stellt der renommierte Kritiker ein Dutzend impulsgebender Büros vor, die seiner Meinung nach repräsentativ für ein neues Verständnis sind.

Seit zehn Jahren blüht in den Niederlanden eine Architektur, deren offenes Raumkonzept nach wie vor der Moderne verpflichtet ist, die jedoch eine reiche Bandbreite an Formen, Farben, Texturen und Materialien vor Augen führt. Der grafischen Abstraktion der Architektur von Wiel Arets stehen die komplexen, an den Tastsinn appellierenden Werke Ben van Berkels gegenüber. Adriaan Geuze vom Büro West 8 laboriertmit einer «funktionalistischen» Landschaftsarchitektur (Schouwburgplein in Rotterdam), währendMecanoo (etwa bei der Fakultät für Volkswirtschaft und Management in Utrecht) mit raffinierten Typologien arbeitet und eine starke Betonung auf die Gestaltung des öffentlichen Raums setzt. Das Atelier van Lieshout schliesslich lancierte Pläne, eine autarke Kommune namens AVL-Ville zu gründen inklusive Werkstätten für die Produktion von Waffen und Alkoholika - ein Vorschlagstark polemischen Charakters, eher darauf bedacht, eine Diskussion zu provozieren, als eine reale Umsetzung zu erfahren.

Das Vorgehen des Atelier van Lieshout ist bezeichnend für ein gesellschaftliches Klima, in dem neue Konzepte gedeihen können. Allerorts ist eine unbeschwerte «Just do it»-Mentalität spürbar, die sich - weitgehend frei von Moralismusund Ideologie - in den Dienst der Modernisierung stellt und mit Phantasie und Tatkraft aufeine Aufgabe stürzt. Mehrheitlich abgelehnt werden Bauformen, die sich allein auf die Ästhetik und das sinnliche Detail richten. Für die jungen Architekten heute beginnt jeder Auftrag deshalb mit einem buchstäblichen Kartieren aller denkbaren internen und externen Kräfte, die eventuelleinen wichtigen Einfluss auf das Zustandekommen eines Projektes haben könnten. Das macht selbst vermeintlich abgehobene Planungsansätze realitätstauglich. Kein Wunder also, wenn die niederländische Baukunst der neunziger Jahre in der Regel konzeptueller, minimalistischer, reduzierter oder auch «trockener» ausfällt als die des internationalen Mainstreams. - Dass sich die jüngere niederländische Architektur insgesamt einer durchschlagenden Wirkung erfreut, lässt sich indes auch auf das flankierende publizistischeLeuchtfeuer zurückführen, mit dem selbst die jungen Holländer sich und ihre Ideen höchst professionell vermarkten. Das Beispiel Rem Koolhaashat Schule gemacht: Mit provozierenden Vorträgen, fulminanten Buchprojekten, Gastprofessuren an internationalen Eliteschmieden und durch die Entwicklung von Theorien tritt man bewusst und medienwirksam in Erscheinung, will man sich selbst zum Markenartikel machen. In gewisser Weise knüpft das vorliegende Buch daran an: mit klarem theoretischen Impetus, attraktiver Gestaltung und alles andere als langatmig. Und es setzt Massstäbe für die weitere Rezeption.


[Bart Lootsma: Super Dutch. Neue niederländische Architektur. DVA, Stuttgart 2001. 264 S., 300 Abb., Fr. 98.-.]

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