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Wellen, von Bach beseelt
Architekten und Bühnenbildner schaffen unterschiedliche Spielräume, die freilich über Nutzungsoffenheit, Bautechnik und Gestaltwirkung verwandt sind. Manche Theaterszenerie experimentiert mit Raum, selten wirkt eine auf die Architektur zurück. Betrachtung eines verheißungsvollen Versuchsbilds.
18. November 2000 - Walter Chramosta
Die Theatersphäre ist Präsentierteller für darstellende und bildende Künstlerstars, wie sie auch das Architekturgeschäft kennt. Das Quotendenken lebt in den Theater- wie in den Baudirektionen: Ob über die Reproduktion wiedererkennbarer Muster Teilzeitlabors für neue Raumvorstellungen am Theater entstehen, ist fraglich. Um auf die landläufige Permanenzarchitektur zurückzuwirken, sind lösungsoffene Experimentalanordnungen besser geeignet als geschlossene, anerkannt „perfekte“ Konzepte.
Der Regisseur Peter Brook umreißt 1968 in „Der leere Raum“ seine Zielvorstellungen des guten, „unmittelbaren“ Theaters: „Bei der Arbeit mit einem Bühnenbildner ist eine Gleichstimmung des Tempos von vordringlicher Wichtigkeit. Ich habe mit hervorragenden Bühnenbildnern gearbeitet - fand mich aber manchmal in seltsamen Schlingen gefangen, wenn er eine zwingende Lösung zu schnell gefunden hatte - so daß ich Formen gutheißen oder ablehnen mußte, bevor ich begriffen hatte, welche Formen sich aus dem Text ergaben. Was nottut, ist ein vollendeter Entwurf, der klar ist, ohne starr zu sein; einer, den man ,offen' nennen könnte und nicht ,geschlossen'. Das ist der Kern theaterbezogenen Denkens: Ein echter Bühnenbildner wird seine Entwürfe als immerzu in Bewegung oder Aktion befindlich betrachten.“
Der Unterschied zwischen Bühnen- und Architekturarbeit erklärt, warum sich das Theater fundamental als Raumlabor eignet: Der Bühnenraum entsteht in einer Konfrontation zwischen Regisseur und Ausstatter; in einer Konfrontation künstlerischer Sichten. Der Besucher konsumiert die künstlerische Maximalsetzung gewissermaßen auf Vermutung, der Bauherr will ein Konsensmodell nach vertraulicher Absprache.
Die im April verliehene Doppelauszeichnung im Rahmen des „Prix Benois de la Danse“ beweist, daß die Ballettszene experimentelle Raumkonzepte zu schätzen weiß. Die Auszeichnung ist nach dem russischen Bühnenbildner und Ballettlibrettisten Aleksandr Nikolayevich Benois benannt. Die Vergabe entspringt keinem offenen Wettbewerb, sondern basiert auf den von der Jury erkannten herausragenden Leistungen des Vorjahres in verschiedenen Kategorien.
Der heurige Preisträger für das beste Bühnenbild heißt Jaffar Al Chalabi. 1962 in Bagdad geboren, im österreichischen Ideenuniversum durch Leben und Studium gut verankert, in Wien als Universitätslehrer und Architekt tätig und von hier aus stets nach Neuem strebend, daher eigentlich unaufhaltsam auf dem Weg zum architektonischen Weltbürger.
Sein eindrucksvoller Faltapparat rahmt die von einer Musikcollage nach Johann Sebastian Bach getragene Aufführung „Vielfältigkeit - Formen von Stille und Leere“ des Spaniers Nacho Duato, dem dafür der Choreographie-Preis zugesprochen wurde. - Al Chalabi findet im Herbst 1998 über einen befreundeten Dirigenten Zugang zum renommierten Choreographen und künstlerischen Direktor der Compañía Nacional de Danza in Madrid, dem ein Tanzprojekt „Multiplicidad“ vorschwebt. Duato, der zuvor seine Aufführungen selbst ausstattete, entscheidet sich für den Österreicher, der noch nie für die Bühne gearbeitet hat. Der zündende Funke geht für Al Chalabi von der damals in der Architekturluft der neunziger Jahre liegenden, freilich für diese Arbeit eher zufällig produktive Theorie der Faltung aus.
Seit 1995 liegt auf deutsch das Buch „Die Falte - Leibniz und der Barock“ des Philosophen Gilles Deleuze vor. Der für die gegenwärtige Architekturpraxis und -theorie inspirierende Text leitet ein: „Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein Charakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. Er erfindet die Sache nicht: Es gibt die vielen aus dem Orient stammenden Falten, die griechischen, römischen, romanischen, gotischen, klassischen und so weiter Falten. Sondern er krümmt die Falten um und um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.“
Tänzer und Choreographen wünschen sich freie Aktionsräume auf der Bühne und müssen sich bisher meist mit flachen, statischen Hintergrundbildern begnügen. Al Chalabis Ansatz, auf einem demontablen Fachwerk seidenmattschwarze Kunststoffbahnen mechanisch ein- und ausfalten zu lassen, somit eine ständig veränderliche und doch strenge hintere Fassung des Tanzraumes zu konstruieren, trifft den Nerv Duatos und führt zum Direktauftrag. Mit Daniel Chamier als Detailberater realisiert Al Chalabi in wenigen Monaten die mittlerweile auf mehreren Weltbühnen erfolgreich gezeigte, sechs Meter hohe und 18 Meter lange, von Hand betriebene Wellenmaschine.
Zu sehen, wie sich die Tänzer kongruent auf die temporären Falten einlassen, wie das von Bach beseelte Bewegungsspiel der Personen den Faltapparat durchdringt, wie die Aktion auf dem Gerüst die Vertikale erobert, bedeutet für die Choreographie einen Ausgriff in das von Brook geforderte erweiterte Raum-Zeit-Gefüge. Die Architektur hat mit der unveränderlichen Faltung ihrer Häute, der Fassaden, längst ein klassisch formuliertes Thema; mit der Permanenz der Faltung, mit der Stetigkeit ihrer Veränderung, kann die Architektur jetzt tatsächlich in die vierte Dimension, die Zeit, eintreten.
Die Visualisierungsmethoden zu „atmenden“ Architekturen sind ausgereift, die Bautechniken hinken noch nach: Doch die unbändige Vielfältigkeit des flexiblen Raums wird einen maßgebenden Architekturtrend dieser Zeit begründen.
Der Regisseur Peter Brook umreißt 1968 in „Der leere Raum“ seine Zielvorstellungen des guten, „unmittelbaren“ Theaters: „Bei der Arbeit mit einem Bühnenbildner ist eine Gleichstimmung des Tempos von vordringlicher Wichtigkeit. Ich habe mit hervorragenden Bühnenbildnern gearbeitet - fand mich aber manchmal in seltsamen Schlingen gefangen, wenn er eine zwingende Lösung zu schnell gefunden hatte - so daß ich Formen gutheißen oder ablehnen mußte, bevor ich begriffen hatte, welche Formen sich aus dem Text ergaben. Was nottut, ist ein vollendeter Entwurf, der klar ist, ohne starr zu sein; einer, den man ,offen' nennen könnte und nicht ,geschlossen'. Das ist der Kern theaterbezogenen Denkens: Ein echter Bühnenbildner wird seine Entwürfe als immerzu in Bewegung oder Aktion befindlich betrachten.“
Der Unterschied zwischen Bühnen- und Architekturarbeit erklärt, warum sich das Theater fundamental als Raumlabor eignet: Der Bühnenraum entsteht in einer Konfrontation zwischen Regisseur und Ausstatter; in einer Konfrontation künstlerischer Sichten. Der Besucher konsumiert die künstlerische Maximalsetzung gewissermaßen auf Vermutung, der Bauherr will ein Konsensmodell nach vertraulicher Absprache.
Die im April verliehene Doppelauszeichnung im Rahmen des „Prix Benois de la Danse“ beweist, daß die Ballettszene experimentelle Raumkonzepte zu schätzen weiß. Die Auszeichnung ist nach dem russischen Bühnenbildner und Ballettlibrettisten Aleksandr Nikolayevich Benois benannt. Die Vergabe entspringt keinem offenen Wettbewerb, sondern basiert auf den von der Jury erkannten herausragenden Leistungen des Vorjahres in verschiedenen Kategorien.
Der heurige Preisträger für das beste Bühnenbild heißt Jaffar Al Chalabi. 1962 in Bagdad geboren, im österreichischen Ideenuniversum durch Leben und Studium gut verankert, in Wien als Universitätslehrer und Architekt tätig und von hier aus stets nach Neuem strebend, daher eigentlich unaufhaltsam auf dem Weg zum architektonischen Weltbürger.
Sein eindrucksvoller Faltapparat rahmt die von einer Musikcollage nach Johann Sebastian Bach getragene Aufführung „Vielfältigkeit - Formen von Stille und Leere“ des Spaniers Nacho Duato, dem dafür der Choreographie-Preis zugesprochen wurde. - Al Chalabi findet im Herbst 1998 über einen befreundeten Dirigenten Zugang zum renommierten Choreographen und künstlerischen Direktor der Compañía Nacional de Danza in Madrid, dem ein Tanzprojekt „Multiplicidad“ vorschwebt. Duato, der zuvor seine Aufführungen selbst ausstattete, entscheidet sich für den Österreicher, der noch nie für die Bühne gearbeitet hat. Der zündende Funke geht für Al Chalabi von der damals in der Architekturluft der neunziger Jahre liegenden, freilich für diese Arbeit eher zufällig produktive Theorie der Faltung aus.
Seit 1995 liegt auf deutsch das Buch „Die Falte - Leibniz und der Barock“ des Philosophen Gilles Deleuze vor. Der für die gegenwärtige Architekturpraxis und -theorie inspirierende Text leitet ein: „Der Barock verweist nicht auf ein Wesen, sondern vielmehr auf eine operative Funktion, auf ein Charakteristikum. Er bildet unaufhörlich Falten. Er erfindet die Sache nicht: Es gibt die vielen aus dem Orient stammenden Falten, die griechischen, römischen, romanischen, gotischen, klassischen und so weiter Falten. Sondern er krümmt die Falten um und um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.“
Tänzer und Choreographen wünschen sich freie Aktionsräume auf der Bühne und müssen sich bisher meist mit flachen, statischen Hintergrundbildern begnügen. Al Chalabis Ansatz, auf einem demontablen Fachwerk seidenmattschwarze Kunststoffbahnen mechanisch ein- und ausfalten zu lassen, somit eine ständig veränderliche und doch strenge hintere Fassung des Tanzraumes zu konstruieren, trifft den Nerv Duatos und führt zum Direktauftrag. Mit Daniel Chamier als Detailberater realisiert Al Chalabi in wenigen Monaten die mittlerweile auf mehreren Weltbühnen erfolgreich gezeigte, sechs Meter hohe und 18 Meter lange, von Hand betriebene Wellenmaschine.
Zu sehen, wie sich die Tänzer kongruent auf die temporären Falten einlassen, wie das von Bach beseelte Bewegungsspiel der Personen den Faltapparat durchdringt, wie die Aktion auf dem Gerüst die Vertikale erobert, bedeutet für die Choreographie einen Ausgriff in das von Brook geforderte erweiterte Raum-Zeit-Gefüge. Die Architektur hat mit der unveränderlichen Faltung ihrer Häute, der Fassaden, längst ein klassisch formuliertes Thema; mit der Permanenz der Faltung, mit der Stetigkeit ihrer Veränderung, kann die Architektur jetzt tatsächlich in die vierte Dimension, die Zeit, eintreten.
Die Visualisierungsmethoden zu „atmenden“ Architekturen sind ausgereift, die Bautechniken hinken noch nach: Doch die unbändige Vielfältigkeit des flexiblen Raums wird einen maßgebenden Architekturtrend dieser Zeit begründen.
Für den Beitrag verantwortlich: Spectrum
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