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Die dekorierte Platte
Neuer Umgang mit grossen Fertigbauteilen
Nach einem schwierigen Start in den zwanziger Jahren und einem Boom in der Nachkriegszeit rangierte sich der Plattenbau in den letzten Dezennien aufs Abstellgleis. Doch heute erlebt das Bauen mit grossen Fertigteilen eine neue Blüte. Zwei exzentrische Projekte veranschaulichen das baukünstlerische Potenzial des Plattenbaus.
1. Dezember 2000 - Johann Christoph Reidemeister
In seiner beruflichen Anfangszeit habe die Architektenschaft immer noch geglaubt, die bautechnischen Realitäten mit verniedlichenden Fassaden retuschieren zu müssen. Verschlafen habe sie die Entwicklung des industriellen Bauens, verschlafen die Chance, der Vorfabrikation einen frühen, vom Architekten gelenkten Start zu verschaffen. Zu fein sei man sich gewesen, gegen das visuelle Analphabetentum der Massen vorzugehen, und habe es vorgezogen, sich auf Kulturinseln zu flüchten. Solche Kurzsichtigkeit sei nun mit «dem hässlichen Anblick schäbiger Minimal-Behausungen der Spekulanten» belohnt worden und der Einstieg in eine architektonisch wertvolle Vorfabrikation verpasst, polterte Walter Gropius vor 35 Jahren in «Tradition und Kontinuität in der Architektur».
Gropius ist nur ein Beispiel unter den Modernen, die in der Vorfabrikation ein Mittel sahen, weite Kreise mit den Ideen vom Neuen Bauen in Kontakt zu bringen. Gedacht war sie von Anfang an als ein wesentlicher Beitrag zur sozialen Utopie. In der Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg wurde fieberhaft daran gearbeitet, das drängende Problem der Wohnungsnot zu lösen. Experimentiert wurde mit neuen Werkstoffen wie dem Beton. Viel versprach man sich von der rationalen Baustelle, auf der effektiver montiert und organisiert werden sollte. Schnelleres, billigeres Bauen war das Ziel. Der Traum vom Haus aus der Fabrik, wie ihn Le Corbusier hegte, war der Traum aller Modernen. Als eine Spielart industrieller Vorfabrikation etablierte sich früh die Plattenbauweise, bei dem ein Gebäude per Definition aus grossen, transportfähigen und montagefertigen Elementen meist aus Beton zusammengefügt wird.
Verkannt und verstossen
Trotz drängenden Aufgaben im Massenwohnungsbau lesen sich die frühen Versuche, dem Plattenbau auf die Beine zu helfen, wie eine Kette verunglückter Gutmütigkeiten. Letztlich scheiterten alle an der Unwirtschaftlichkeit zu geringer Bauvolumen oder zu hoher Transport- und Montagekosten. Hinzu kamen eine ablehnende Öffentlichkeit, die um ihr individuell gestaltetes Heim fürchtete, sowie alarmierte konservative Kreise, die der soziale Hintergedanke erschreckte. Der Segen über dem Projekt Plattenbau war ein dünner und es selbst ein ungeliebtes Kind, obwohl es doch nur allen das Allerbeste wollte.
Das endgültige Aus kam mit dem im Osten staatlich angeordneten Plattenbau im grossen Massstab, der die immanenten Gefahren dieses Bautypus ins Monströse steigerte. Die DDR etwa entwickelte mit dem WBS 70 ein einheitliches nationales Baukastensystem. Zweifellos hätten sich aus dem umfangreichen Teilekatalog einigermassen variable Lösungen entwickeln lassen, doch dem standen städtische Sparmassnahmen entgegen. Zudem wurden die meisten Plattenbauten als Trabantenquartiere an den Stadträndern errichtet, da die Kranmontage und die Anlieferung sperriger Elemente grosse Bauplätze erforderte. Resultat waren Bausünden übelster Sorte, mit deren sozialen Folgen noch heute gerungen wird. Aus technokratischen Architekturküchen brodelte ein neuer Superfunktionalismus empor, der die maximale Entmythologisierung der Welt und die totale Abstumpfung des Menschen generierte. Alle Vorbehalte gegenüber standardisiertem Bauen waren hier Wirklichkeit geworden, das Projekt Fertighaus gründlichst desavouiert.
In dieser Wüste der zu feinem Schutt gemahlenen Hoffnungen keimt neuerdings wieder Unbefangenheit im Umgang mit Plattenbauelementen, als hätte deren desaströse Vorgeschichte nie stattgefunden. Fast scheint es, als kämen ihre Vorzüge unter der wesensgerechteren Behandlung, die sie kürzlich in einigen Projekten erfahren haben, nun erstmals zu voller Geltung. Die wohl entschiedenste Neuerung besteht darin, dass nicht auf einen reduzierten Formenkatalog einer vorab registrierten, gestapelten und versandfertig gemachten Platte zurückgegriffen wird, sondern den frei entwickelten Entwürfen individuelle Fertigbauteile nachträglich angepasst werden. Spektakulärstes Beispiel für diesen Paradigmenwechsel ist der kürzlich fertiggestellte Neue Zollhof von Frank O. Gehry in Düsseldorf (NZZ 20. 5. 99). Dessen mittlerer Turm ist ein konstruktiver Zwitter aus Ortbeton- und Fertigteilbauweise. Während Decken und Stützen aus Stahlbeton in Ortbetonbauweise errichtet wurden, entschied man sich bei den Aussenwänden für Stahlbeton in Fertigteilbauweise. Nach aussen wird das nicht sichtbar, denn um den Bau wirbelt ein glitzerndes Fassadenkleid aus polierten Edelstahlpaneelen. Sie sind den 355 unterschiedlich geformten, geschosshohen und vorgefertigten Bauelementen vorgeblendet. Mit diesen Plattenbauteilen wurden die weich modellierten Wellen nachgebildet, die der kalifornische Architekt über die Aussenhaut seines Bauwerks fliessen lässt. Das Unikat Betonfertigteil war die wirtschaftlichste Lösung, diese Freiformflächen zu realisieren.
Eine gekrümmte Stahlkonstruktion hinter der Fassade wie bei Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao wäre hier aus bauphysikalischen Gründen gescheitert. Die Ausführung in Massivbauweise blieb der einzig gangbare Weg. Um die Fassadenelemente herzustellen, wurde ein neues, mittlerweile zum Patent angemeldetes Verfahren entwickelt: Zuerst wird die Wand im Computer modelliert, in einem zweiten Schritt berechnet er die Negativform, um diese anschliessend mit einer computergesteuerten Fräse aus einem Styroporblock herauszuschneiden. Die Schalform wird mit Bewehrung versehen und mit Beton ausgegossen. Das fertige Element wird zum Bauplatz transportiert und dort an der vorgesehenen Stelle montiert. Auch wenn überschwängliche Kritiker jubilieren, mit dieser Technik sei der Fordismus in der Architektur ebenso überholt worden wie der Irrglaube, ein Gebäude würde mit zunehmender Standardisierung immer billiger, und obwohl dem Computer tatsächlich egal ist, ob er kantige oder geschwungene Formen aus dem Styropor fräst: Die Kosten differieren ganz erheblich. Extravaganz hat auch weiterhin ihren Preis, und wieso sollte es überhaupt anders sein?
Hängende Gärten
Seinen neu errichteten Wohnungsbau Château Le Lez in Montpellier nennt der französische Architekt Edouard François «das spriessende Gebäude». Dessen Fassade besteht aus der wohl ungewöhnlichsten Plattenbauweise, die sich denken lässt: der sich selbst begrünenden Felsplatte. Mit seiner Idee schlägt der junge Architekt den Weg zurück in eine Zeit ein, in der noch in Höhlen gehaust wurde. Der Weg dorthin führt über das auf der Baustelle vorgefertigte grosse Fertigbauteil. Dieses besteht bei François neben der üblichen Betonwand aus einem mit ihr verflochtenen Drahtkorb voller Bruchsteine der Region. Durch dieses Fassadengeröll wachsen spärliche Pflänzchen aus der Familie der Sukkulenten. So jedenfalls will es die Baubeschreibung. Das bisschen Wasser, das sie zum Leben brauchen, ziehen sie aus eingeschlossenen Filzlappen und hydrophilem türkischen Lavakies. Ziel ist, das Apartmenthaus in üppiger Vegetation einwachsen zu lassen.
Der neueste Umgang mit der Platte zeugt von Phantasie. Ausgangspunkt des Bauens mit grossen Fertigbauteilen ist nicht mehr der verbissene Versuch, ein modulares System zu entwickeln, das beliebig jeder Situation übergestülpt wird. Die Platte wird vielmehr nur partiell zur Fassadengestaltung eingesetzt. Das übrige Gebäude wird im Ortbetonbau errichtet. Nicht mehr konstruktive Überlegungen leiten das Interesse am Fertigbauteil, sondern ästhetische. Denn der Griff nach der Platte steht jetzt erst am Ende eines individuellen Architekturentwurfs, der sich nur zu oft mit der bohrenden Kostenfrage konfrontiert sieht und künstlerische Ansprüche per Plattenvorfabrikation in das gebaute Resultat hinüberrettet. Verblüffend sind die neusten Versuche in ihrer unerwarteten Formvielfalt. Gänzlich unterschiedlich sind die erzielten Effekte an den Fassaden, die von felsiger Grobheit bis hin zu einem ephemeren Hauch aus Stahl reichen. Einer jedenfalls wäre überrascht: Denn dass sich der Moderne-Prophet Gropius an Platten hängende Gärten vorstellte, als er das architektonische Publikum beschimpfte, die ästhetischen Möglichkeiten des pre-fab nicht einmal vermutet zu haben, ist so gut wie ausgeschlossen.
Gropius ist nur ein Beispiel unter den Modernen, die in der Vorfabrikation ein Mittel sahen, weite Kreise mit den Ideen vom Neuen Bauen in Kontakt zu bringen. Gedacht war sie von Anfang an als ein wesentlicher Beitrag zur sozialen Utopie. In der Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg wurde fieberhaft daran gearbeitet, das drängende Problem der Wohnungsnot zu lösen. Experimentiert wurde mit neuen Werkstoffen wie dem Beton. Viel versprach man sich von der rationalen Baustelle, auf der effektiver montiert und organisiert werden sollte. Schnelleres, billigeres Bauen war das Ziel. Der Traum vom Haus aus der Fabrik, wie ihn Le Corbusier hegte, war der Traum aller Modernen. Als eine Spielart industrieller Vorfabrikation etablierte sich früh die Plattenbauweise, bei dem ein Gebäude per Definition aus grossen, transportfähigen und montagefertigen Elementen meist aus Beton zusammengefügt wird.
Verkannt und verstossen
Trotz drängenden Aufgaben im Massenwohnungsbau lesen sich die frühen Versuche, dem Plattenbau auf die Beine zu helfen, wie eine Kette verunglückter Gutmütigkeiten. Letztlich scheiterten alle an der Unwirtschaftlichkeit zu geringer Bauvolumen oder zu hoher Transport- und Montagekosten. Hinzu kamen eine ablehnende Öffentlichkeit, die um ihr individuell gestaltetes Heim fürchtete, sowie alarmierte konservative Kreise, die der soziale Hintergedanke erschreckte. Der Segen über dem Projekt Plattenbau war ein dünner und es selbst ein ungeliebtes Kind, obwohl es doch nur allen das Allerbeste wollte.
Das endgültige Aus kam mit dem im Osten staatlich angeordneten Plattenbau im grossen Massstab, der die immanenten Gefahren dieses Bautypus ins Monströse steigerte. Die DDR etwa entwickelte mit dem WBS 70 ein einheitliches nationales Baukastensystem. Zweifellos hätten sich aus dem umfangreichen Teilekatalog einigermassen variable Lösungen entwickeln lassen, doch dem standen städtische Sparmassnahmen entgegen. Zudem wurden die meisten Plattenbauten als Trabantenquartiere an den Stadträndern errichtet, da die Kranmontage und die Anlieferung sperriger Elemente grosse Bauplätze erforderte. Resultat waren Bausünden übelster Sorte, mit deren sozialen Folgen noch heute gerungen wird. Aus technokratischen Architekturküchen brodelte ein neuer Superfunktionalismus empor, der die maximale Entmythologisierung der Welt und die totale Abstumpfung des Menschen generierte. Alle Vorbehalte gegenüber standardisiertem Bauen waren hier Wirklichkeit geworden, das Projekt Fertighaus gründlichst desavouiert.
In dieser Wüste der zu feinem Schutt gemahlenen Hoffnungen keimt neuerdings wieder Unbefangenheit im Umgang mit Plattenbauelementen, als hätte deren desaströse Vorgeschichte nie stattgefunden. Fast scheint es, als kämen ihre Vorzüge unter der wesensgerechteren Behandlung, die sie kürzlich in einigen Projekten erfahren haben, nun erstmals zu voller Geltung. Die wohl entschiedenste Neuerung besteht darin, dass nicht auf einen reduzierten Formenkatalog einer vorab registrierten, gestapelten und versandfertig gemachten Platte zurückgegriffen wird, sondern den frei entwickelten Entwürfen individuelle Fertigbauteile nachträglich angepasst werden. Spektakulärstes Beispiel für diesen Paradigmenwechsel ist der kürzlich fertiggestellte Neue Zollhof von Frank O. Gehry in Düsseldorf (NZZ 20. 5. 99). Dessen mittlerer Turm ist ein konstruktiver Zwitter aus Ortbeton- und Fertigteilbauweise. Während Decken und Stützen aus Stahlbeton in Ortbetonbauweise errichtet wurden, entschied man sich bei den Aussenwänden für Stahlbeton in Fertigteilbauweise. Nach aussen wird das nicht sichtbar, denn um den Bau wirbelt ein glitzerndes Fassadenkleid aus polierten Edelstahlpaneelen. Sie sind den 355 unterschiedlich geformten, geschosshohen und vorgefertigten Bauelementen vorgeblendet. Mit diesen Plattenbauteilen wurden die weich modellierten Wellen nachgebildet, die der kalifornische Architekt über die Aussenhaut seines Bauwerks fliessen lässt. Das Unikat Betonfertigteil war die wirtschaftlichste Lösung, diese Freiformflächen zu realisieren.
Eine gekrümmte Stahlkonstruktion hinter der Fassade wie bei Gehrys Guggenheim-Museum in Bilbao wäre hier aus bauphysikalischen Gründen gescheitert. Die Ausführung in Massivbauweise blieb der einzig gangbare Weg. Um die Fassadenelemente herzustellen, wurde ein neues, mittlerweile zum Patent angemeldetes Verfahren entwickelt: Zuerst wird die Wand im Computer modelliert, in einem zweiten Schritt berechnet er die Negativform, um diese anschliessend mit einer computergesteuerten Fräse aus einem Styroporblock herauszuschneiden. Die Schalform wird mit Bewehrung versehen und mit Beton ausgegossen. Das fertige Element wird zum Bauplatz transportiert und dort an der vorgesehenen Stelle montiert. Auch wenn überschwängliche Kritiker jubilieren, mit dieser Technik sei der Fordismus in der Architektur ebenso überholt worden wie der Irrglaube, ein Gebäude würde mit zunehmender Standardisierung immer billiger, und obwohl dem Computer tatsächlich egal ist, ob er kantige oder geschwungene Formen aus dem Styropor fräst: Die Kosten differieren ganz erheblich. Extravaganz hat auch weiterhin ihren Preis, und wieso sollte es überhaupt anders sein?
Hängende Gärten
Seinen neu errichteten Wohnungsbau Château Le Lez in Montpellier nennt der französische Architekt Edouard François «das spriessende Gebäude». Dessen Fassade besteht aus der wohl ungewöhnlichsten Plattenbauweise, die sich denken lässt: der sich selbst begrünenden Felsplatte. Mit seiner Idee schlägt der junge Architekt den Weg zurück in eine Zeit ein, in der noch in Höhlen gehaust wurde. Der Weg dorthin führt über das auf der Baustelle vorgefertigte grosse Fertigbauteil. Dieses besteht bei François neben der üblichen Betonwand aus einem mit ihr verflochtenen Drahtkorb voller Bruchsteine der Region. Durch dieses Fassadengeröll wachsen spärliche Pflänzchen aus der Familie der Sukkulenten. So jedenfalls will es die Baubeschreibung. Das bisschen Wasser, das sie zum Leben brauchen, ziehen sie aus eingeschlossenen Filzlappen und hydrophilem türkischen Lavakies. Ziel ist, das Apartmenthaus in üppiger Vegetation einwachsen zu lassen.
Der neueste Umgang mit der Platte zeugt von Phantasie. Ausgangspunkt des Bauens mit grossen Fertigbauteilen ist nicht mehr der verbissene Versuch, ein modulares System zu entwickeln, das beliebig jeder Situation übergestülpt wird. Die Platte wird vielmehr nur partiell zur Fassadengestaltung eingesetzt. Das übrige Gebäude wird im Ortbetonbau errichtet. Nicht mehr konstruktive Überlegungen leiten das Interesse am Fertigbauteil, sondern ästhetische. Denn der Griff nach der Platte steht jetzt erst am Ende eines individuellen Architekturentwurfs, der sich nur zu oft mit der bohrenden Kostenfrage konfrontiert sieht und künstlerische Ansprüche per Plattenvorfabrikation in das gebaute Resultat hinüberrettet. Verblüffend sind die neusten Versuche in ihrer unerwarteten Formvielfalt. Gänzlich unterschiedlich sind die erzielten Effekte an den Fassaden, die von felsiger Grobheit bis hin zu einem ephemeren Hauch aus Stahl reichen. Einer jedenfalls wäre überrascht: Denn dass sich der Moderne-Prophet Gropius an Platten hängende Gärten vorstellte, als er das architektonische Publikum beschimpfte, die ästhetischen Möglichkeiten des pre-fab nicht einmal vermutet zu haben, ist so gut wie ausgeschlossen.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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