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Geschichtete Moderne
Beispiele neuer Architektur in St. Gallen
4. Mai 2001 - Oliver Herwig
Die barocke Klosteranlage mit der Stiftsbibliothek und die Erker der Altstadt prägten bis heute das touristische Bild St. Gallens. Doch in den vergangenen Jahren hat das Zentrum der Ostschweiz auch auf dem Gebiet der zeitgenössischen Architektur von sich reden gemacht. Neue Bauten und Projekte zeugen von Aufbruchstimmung.
St. Gallen ist reich an Überraschungen. Wer kurz hinter dem Klosterbezirk und der weltberühmten Stiftsbibliothek in die Mühlenstrasse einbiegt und der Steinach folgt, steigt in die Erdgeschichte hinab. Was einst Meeresboden war, sieht man, verdichtet zu Sandstein, Mergel und Nagelfluh, an den Wänden der Schlucht. Das Buch der Natur scheint lesbar. Auch St. Gallens Architekturentwicklung zeigt eine ähnliche Struktur. Klassizismus, Jugendstil, klassische Moderne und zeitgenössische Baukunst sind nicht blosses Sediment, sondern konzentriert erlebbar. Als Gravitationskern wirkt freilich immer noch das Kloster. Doppeltürmig erhebt sich die Kathedrale, eine spätbarocke Kirchenfront mit hervorquellendem Chor.
Streben nach Qualität
Gegenüber den engen Gassen und den vielen Erkern verkörpert der Klosterbezirk einen Massstabssprung. So als hätten seine Baumeister eine sakrale Gegenwelt schaffen wollen. Heute verbinden geradezu minimalistische Eingriffe das Alte mit einer ästhetischen Spätmoderne. Direkt neben dem Karlstor hat Santiago Calatrava St. Gallens Historie in die Gegenwart verlängert. Der Pfalzkeller sowie die kantonale Alarm- und Meldezentrale (1988-98) sind als futuristische Raumerlebnisse gestaltet. Von aussen geben sich die Bauten betont zurückhaltend. Die Linienführung des zwölf Meter hohen Glasdachs der Alarm- und Meldezentrale ist nur als Rückgrat auszumachen. Noch dramatischer ist der Kontrast zwischen Innen und Aussen beim Pfalzkeller, dessen Eingang von einer beweglichen Metallstruktur überspannt wird. In geschlossenem Zustand ist sie begehbarer Teil des Platzes. Darunter, dem Blick verborgen, liegt der Pfalzkeller.
Bauten wie diese nimmt Martin Hitz, der junge Stadtbaumeister von St. Gallen, lächelnd hin. Doch lieber als spektakuläre Solitäre von Stararchitekten sind ihm stimmige Ensembles. Und dies nicht nur bei städtischen Liegenschaften, die in den letzten Jahren auf Vordermann gebracht wurden. «Die Qualität des Bauens insgesamt zu sichern und zu heben», ist für Hitz, der selbständiger Architekt war, bevor er die Aufgabe des Stadtbaumeisters übernahm, wichtigstes Anliegen. Ganz gleich, ob es sich um die Sanierung eines Schulhauses von Johann Christoph Kunkler handelt, bei der Fenster nach alten Massen in Kleinserie ergänzt werden, oder um den Neubau einer Primarschule, die mit hochwertigen Details ausgestattet wurde. Qualität lautet die Devise.
Vom Hochbauamt in der Neugasse sind es nur wenige Schritte zur St. Galler Kulturmeile. Dazwischen liegt Calatravas Wartehalle auf dem Bohl, ein weisser Stahl-Druckbogenträger mit eingehängtem Glasdach. Tonhalle und Stadttheater flankieren den Beginn der Museumstrasse. Wie bei einer Figura serpentinata schrauben sich die Volumina des Stadttheaters in die Höhe - Sechsecke, die eine skulptural geformte Gebäudemasse entstehen lassen. Dieser Theaterbau entstand 1964-68 nach Plänen des Zürcher Architekten Claude Paillard. Heute verkörpert er den Geist der sechziger Jahre in Reinform, auch wenn er durch eine allzu forsche Sanierung etwas von seinem ursprünglichen Charakter eingebüsst hat. Unmittelbar daneben ein Highlight St. Gallens: das Natur- und Kunstmuseum, 1877 von Johann Christoph Kunkler errichtet und 1987 - nach Jahren des Verfalls - von Marcel Ferrier erneuert und ausgebaut. Durch die damals unterlassene Ausgliederung des naturhistorischen Bereichs erwies sich das Haus von Anfang an als zu klein für die Sammlung und den Ausstellungsbetrieb der Kunstabteilung. Nun soll eine Erweiterung durch einen östlich des Museums zu placierenden Solitär, für den demnächst ein Wettbewerb mit internationaler Beteiligung ausgeschrieben werden soll, der Raumnot Abhilfe schaffen.
Anders als Kunklers Stadttheater auf dem Bohl, das 1857 mit «Don Giovanni» festlich eröffnet und 1971 abgerissen wurde, oder dessen gleichfalls abgebrochenes «Helvetia»-Verwaltungsgebäude hatte dieses Werk Bestand. Als 1974 ein Abbruchgesuch vorlag, erkannte man die Bedeutung des Bauwerks und behielt sich Renovierung und spätere Nutzung vor. Das von Klenzes Alter Pinakothek in München inspirierte Museum zeigt den gebürtigen St. Galler auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Die Raumfolgen sind unprätentiös und zwingend, die Fassade differenziert: Während Kunkler das Sockelgeschoss für die Naturaliensammlung vergleichsweise zurückhaltend gestaltete, ist das für die Kunstsammlung reservierte Obergeschoss reich gegliedert. Natur und Kunst, hier haben sie sich gefunden.
«Restaurieren ist nicht blosses Verehren des Denkmals, sondern eine kritische Neuprojektierung, das Sichtbarmachen der massgeblichen Komponenten seiner Architektur», erklärt Marcel Ferrier. Und er hat sich bei der Erneuerung des Museums an diese Maxime gehalten: Kunklers Bau schrieb er ganz rationalistisch einen Kreis ein, als tragende Elementarform, auf der das Museum ruht. Sichtbeton und archaisch-massive Säulen tragen den Bau. Eine Treppe führt ins Naturkundemuseum im Untergeschoss, das sich im gläsernen Rundbogen zum Park öffnet. Diesem sichtbaren Kreis zugeordnet ist ein unsichtbares, auf die Spitze gestelltes Quadrat, das versenkte Magazin. Es liegt genau zwischen dem Natur- und Kunstmuseum und dem östlich angrenzenden historischen Museum, nur gekennzeichnet durch einen Backsteinkamin. Alt und Neu durchdringen sich in Ferriers Entwurf. Diese Koexistenz «ist auch massgebend für den Umgang mit der Stadt, wenn man selbst den Neubau als Erweiterung oder Modifikation des bestehenden Stadtkörpers betrachtet», meint Ferrier.
Neue Schichten im Stadtgefüge
In den letzten Jahren erlebte St. Gallen den Bau mehrerer bedeutender Gebäude. Vier Projekte seien exemplarisch genannt: das Gebäude der Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) im Stadtteil Bruggen, der an die Altstadt anschliessende Raiffeisen-Komplex, die zu Ausstellungszwecken umgebaute Lokremise auf dem Areal des Hauptbahnhofs und die Olmahalle 9 im Osten des Stadtzentrums. All diese Bauten setzen eigene Schwerpunkte. Präzision, eine Tugend der Empa, verkörpert Theo Hotz' Entwurf bereits im äusseren Erscheinungsbild. Die einzelnen Baukörper sind klar akzentuiert und in eine glänzende Hülle aus Aluminium, Chromstahl und Glas gekleidet. 1996 erhielt der Zürcher Architekt dafür den begehrten Constructec-Preis.
Ganz anders war die Ausgangslage für die von Bruno Clerici und Paul Knill 1987 geplanten und vor zwei Jahren vollendeten Verwaltungsgebäude der Raiffeisenbankgruppe. Die beiden St. Galler Architekten hatten Zwänge der Topographie und Stadtplanung gleichermassen mitzubedenken. Ihr Raiffeisen-Zentrum vermittelt zwischen City und Bernegghang. Clerici und Knill entwarfen dazu eine stark urbanistisch gedachte Abfolge von Baukörpern mit markanten Ecklösungen. In der Gartenstrasse ist das ansteigende Gelände am aufgeständerten Bürowinkel direkt abzulesen. Über den kraftvoll ausgreifenden Arkaden entwickelten die Architekten eine gut proportionierte Fassade, deren Leichtigkeit dem monumentalen Unterbau Paroli bietet. Auch die anderen Blickachsen wurden architektonisch aufgewertet: Wie ein Schiffsbug teilt das elliptische Ausbildungszentrum die Verkehrsströme von Schochen- und Wassergasse, während zum Bankenviertel hin ein frei stehender Turm den winkelförmigen Baukörper abschliesst. Wer sich vom Innenhof seiner geschwungenen Betonfassade nähert, fühlt sich an Tadao Ando erinnert, so klar ist die Materialwahl.
Der Raiffeisen-Komplex wuchs in zwei Etappen. Denn erst nachdem der Städtische Werkhof ausgelagert war, konnten die Architekten mit der Front an der Gartenstrasse beginnen. Zehn Jahre waren seit den ersten Planungen vergangen. Während dieser Zeit wurde die Fassade mehrfach umgeplant und die Haustechnik auf den neuesten Stand gebracht. Das Warten hat sich gelohnt; heute wirkt der Komplex frisch im Gefüge St. Gallens. Inzwischen arbeitet Bruno Clerici bereits an einem Erweiterungsbau für die Raiffeisenbank in unmittelbarer Nachbarschaft zur architekturhistorisch bedeutenden Synagoge von Chiodera und Tschudy. Der abstrakte, allein durch Fensterachsen rhythmisierte Kubus nimmt in seiner Farbigkeit bewusst Bezug auf den orientalisierenden Fassadenschmuck des Gotteshauses. Dem Büro Clerici bescherte der Raiffeisen-Erfolg weitere Aufträge. Bereits vollendet ist inzwischen das minimalistisch anmutende Swisscom-Gebäude an der Wassergasse; und für den modisch «St. Gallen West» genannten Stadtteil Winkeln planen sie zurzeit ein multifunktionales Fussballstadion.
Ein Museum im Baudenkmal
Weniger sichtbar, doch ebenso konsequent hat sich die ehemalige Lokremise zum Museum gewandelt, in dem die Zürcher Sammlung Hauser & Wirth mit ihren reichen Beständen an moderner und zeitgenössischer Kunst für die nächsten zehn Jahre einen festen Platz gefunden hat. Für den betont zurückhaltenden Umbau verantwortlich waren Karlpeter Trunz und Hansruedi Wirth aus Henau. Anschliessend entwickelten die flämischen Architekten Paul Robbrecht und Hilde Daem, die mit ihrem Documenta-Provisorium in der Kasseler Karlsaue international bekannt wurden, im Juli 2000 die eigentliche Ausstellungsarchitektur. Auch sie liessen den spröden Charme der einstigen Werkhalle weitgehend unberührt. Über den mit Kies verfüllten Arbeitsgruben und dem Boden aus 330 000 Eschenholzklötzchen der ersten Umbauphase entstanden drei «Cluster»: Raumfolgen mit je eigenen Blickachsen und Situationen, die zunächst unbespielbar anmuten, doch für «manche Arbeit wie geschaffen scheinen». Die Einbauten sollten das gewaltige Vierfünftelrund «musealer, kleiner machen».
Das ist zweifellos gelungen, auch wenn man der verloren gegangenen Weite nachtrauern mag, denn 3300 Quadratmeter ohne innere Begrenzung wären zur steten Herausforderung an die Kuratoren geworden. Über dem Museumscafé entstand so eine zweite, fast schon intim zu nennende Ebene von 280 Quadratmetern Ausstellungsfläche. Dass die Flamen der radialen Grundform der Lokremise einen eigenen Rhythmus entgegensetzten, der sich wider die baulichen Vorgaben stemmt, ist gewöhnungsbedürftig, führt aber zu teils faszinierenden, teils überraschenden Raumfolgen. Wesentlich zurückhaltender verfuhren Trunz & Wirth, als sie für Büros und Bibliothek des abgetrennten Verwaltungsbereichs Elementarformen, Boxen und Kreissegmente, wählten. Sie sind, im Gegensatz zum Ausstellungsbereich, beheizt. Die schlechte Wärmedämmung der alten Mauern macht es nötig, die Ausstellungsräume im Winter zu schliessen. Dies ist das einzige Manko dieses eindrücklichen Gebäudes.
Im Jahr 1999 entstand das neue Wahrzeichen von St. Gallens Traditionsmesse Olma. Im Wettbewerb um den Neubau der Halle 9 wusste das Büro von Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio aus Erlenbach trotz starker Konkurrenz aus der Region zu überzeugen. Ihr Entwurf zeigt wechselnde Gesichter: Da ist der Monolith, mit 10 000 Quadratmetern Dachfläche und gewaltigen Tragwerken, die als Säulenreihe plastisch nach aussen treten. Und da ist ein höchst komplexes Bauwerk mit differenzierten Raumfolgen, gestapelten Boxen, voller Freiräume und Durchbrüche, als wäre ein Bildhauer am Werk gewesen. Dabei musste alles schnell gehen: Am 14. April 1998 fasste der Verwaltungsrat den Baubeschluss, und bereits am 4. Juni 1998 erfolgte die Grundsteinlegung. Rechtzeitig zur vorletzten Olma wurde der Riesenbau fertiggestellt. Der ungeheure Druck hat ein furioses Gebäude hervorgebracht, eine markante architektonische Schicht im sich wandelnden St. Gallen.
St. Gallen ist reich an Überraschungen. Wer kurz hinter dem Klosterbezirk und der weltberühmten Stiftsbibliothek in die Mühlenstrasse einbiegt und der Steinach folgt, steigt in die Erdgeschichte hinab. Was einst Meeresboden war, sieht man, verdichtet zu Sandstein, Mergel und Nagelfluh, an den Wänden der Schlucht. Das Buch der Natur scheint lesbar. Auch St. Gallens Architekturentwicklung zeigt eine ähnliche Struktur. Klassizismus, Jugendstil, klassische Moderne und zeitgenössische Baukunst sind nicht blosses Sediment, sondern konzentriert erlebbar. Als Gravitationskern wirkt freilich immer noch das Kloster. Doppeltürmig erhebt sich die Kathedrale, eine spätbarocke Kirchenfront mit hervorquellendem Chor.
Streben nach Qualität
Gegenüber den engen Gassen und den vielen Erkern verkörpert der Klosterbezirk einen Massstabssprung. So als hätten seine Baumeister eine sakrale Gegenwelt schaffen wollen. Heute verbinden geradezu minimalistische Eingriffe das Alte mit einer ästhetischen Spätmoderne. Direkt neben dem Karlstor hat Santiago Calatrava St. Gallens Historie in die Gegenwart verlängert. Der Pfalzkeller sowie die kantonale Alarm- und Meldezentrale (1988-98) sind als futuristische Raumerlebnisse gestaltet. Von aussen geben sich die Bauten betont zurückhaltend. Die Linienführung des zwölf Meter hohen Glasdachs der Alarm- und Meldezentrale ist nur als Rückgrat auszumachen. Noch dramatischer ist der Kontrast zwischen Innen und Aussen beim Pfalzkeller, dessen Eingang von einer beweglichen Metallstruktur überspannt wird. In geschlossenem Zustand ist sie begehbarer Teil des Platzes. Darunter, dem Blick verborgen, liegt der Pfalzkeller.
Bauten wie diese nimmt Martin Hitz, der junge Stadtbaumeister von St. Gallen, lächelnd hin. Doch lieber als spektakuläre Solitäre von Stararchitekten sind ihm stimmige Ensembles. Und dies nicht nur bei städtischen Liegenschaften, die in den letzten Jahren auf Vordermann gebracht wurden. «Die Qualität des Bauens insgesamt zu sichern und zu heben», ist für Hitz, der selbständiger Architekt war, bevor er die Aufgabe des Stadtbaumeisters übernahm, wichtigstes Anliegen. Ganz gleich, ob es sich um die Sanierung eines Schulhauses von Johann Christoph Kunkler handelt, bei der Fenster nach alten Massen in Kleinserie ergänzt werden, oder um den Neubau einer Primarschule, die mit hochwertigen Details ausgestattet wurde. Qualität lautet die Devise.
Vom Hochbauamt in der Neugasse sind es nur wenige Schritte zur St. Galler Kulturmeile. Dazwischen liegt Calatravas Wartehalle auf dem Bohl, ein weisser Stahl-Druckbogenträger mit eingehängtem Glasdach. Tonhalle und Stadttheater flankieren den Beginn der Museumstrasse. Wie bei einer Figura serpentinata schrauben sich die Volumina des Stadttheaters in die Höhe - Sechsecke, die eine skulptural geformte Gebäudemasse entstehen lassen. Dieser Theaterbau entstand 1964-68 nach Plänen des Zürcher Architekten Claude Paillard. Heute verkörpert er den Geist der sechziger Jahre in Reinform, auch wenn er durch eine allzu forsche Sanierung etwas von seinem ursprünglichen Charakter eingebüsst hat. Unmittelbar daneben ein Highlight St. Gallens: das Natur- und Kunstmuseum, 1877 von Johann Christoph Kunkler errichtet und 1987 - nach Jahren des Verfalls - von Marcel Ferrier erneuert und ausgebaut. Durch die damals unterlassene Ausgliederung des naturhistorischen Bereichs erwies sich das Haus von Anfang an als zu klein für die Sammlung und den Ausstellungsbetrieb der Kunstabteilung. Nun soll eine Erweiterung durch einen östlich des Museums zu placierenden Solitär, für den demnächst ein Wettbewerb mit internationaler Beteiligung ausgeschrieben werden soll, der Raumnot Abhilfe schaffen.
Anders als Kunklers Stadttheater auf dem Bohl, das 1857 mit «Don Giovanni» festlich eröffnet und 1971 abgerissen wurde, oder dessen gleichfalls abgebrochenes «Helvetia»-Verwaltungsgebäude hatte dieses Werk Bestand. Als 1974 ein Abbruchgesuch vorlag, erkannte man die Bedeutung des Bauwerks und behielt sich Renovierung und spätere Nutzung vor. Das von Klenzes Alter Pinakothek in München inspirierte Museum zeigt den gebürtigen St. Galler auf dem Höhepunkt seiner Kunst. Die Raumfolgen sind unprätentiös und zwingend, die Fassade differenziert: Während Kunkler das Sockelgeschoss für die Naturaliensammlung vergleichsweise zurückhaltend gestaltete, ist das für die Kunstsammlung reservierte Obergeschoss reich gegliedert. Natur und Kunst, hier haben sie sich gefunden.
«Restaurieren ist nicht blosses Verehren des Denkmals, sondern eine kritische Neuprojektierung, das Sichtbarmachen der massgeblichen Komponenten seiner Architektur», erklärt Marcel Ferrier. Und er hat sich bei der Erneuerung des Museums an diese Maxime gehalten: Kunklers Bau schrieb er ganz rationalistisch einen Kreis ein, als tragende Elementarform, auf der das Museum ruht. Sichtbeton und archaisch-massive Säulen tragen den Bau. Eine Treppe führt ins Naturkundemuseum im Untergeschoss, das sich im gläsernen Rundbogen zum Park öffnet. Diesem sichtbaren Kreis zugeordnet ist ein unsichtbares, auf die Spitze gestelltes Quadrat, das versenkte Magazin. Es liegt genau zwischen dem Natur- und Kunstmuseum und dem östlich angrenzenden historischen Museum, nur gekennzeichnet durch einen Backsteinkamin. Alt und Neu durchdringen sich in Ferriers Entwurf. Diese Koexistenz «ist auch massgebend für den Umgang mit der Stadt, wenn man selbst den Neubau als Erweiterung oder Modifikation des bestehenden Stadtkörpers betrachtet», meint Ferrier.
Neue Schichten im Stadtgefüge
In den letzten Jahren erlebte St. Gallen den Bau mehrerer bedeutender Gebäude. Vier Projekte seien exemplarisch genannt: das Gebäude der Empa (Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt) im Stadtteil Bruggen, der an die Altstadt anschliessende Raiffeisen-Komplex, die zu Ausstellungszwecken umgebaute Lokremise auf dem Areal des Hauptbahnhofs und die Olmahalle 9 im Osten des Stadtzentrums. All diese Bauten setzen eigene Schwerpunkte. Präzision, eine Tugend der Empa, verkörpert Theo Hotz' Entwurf bereits im äusseren Erscheinungsbild. Die einzelnen Baukörper sind klar akzentuiert und in eine glänzende Hülle aus Aluminium, Chromstahl und Glas gekleidet. 1996 erhielt der Zürcher Architekt dafür den begehrten Constructec-Preis.
Ganz anders war die Ausgangslage für die von Bruno Clerici und Paul Knill 1987 geplanten und vor zwei Jahren vollendeten Verwaltungsgebäude der Raiffeisenbankgruppe. Die beiden St. Galler Architekten hatten Zwänge der Topographie und Stadtplanung gleichermassen mitzubedenken. Ihr Raiffeisen-Zentrum vermittelt zwischen City und Bernegghang. Clerici und Knill entwarfen dazu eine stark urbanistisch gedachte Abfolge von Baukörpern mit markanten Ecklösungen. In der Gartenstrasse ist das ansteigende Gelände am aufgeständerten Bürowinkel direkt abzulesen. Über den kraftvoll ausgreifenden Arkaden entwickelten die Architekten eine gut proportionierte Fassade, deren Leichtigkeit dem monumentalen Unterbau Paroli bietet. Auch die anderen Blickachsen wurden architektonisch aufgewertet: Wie ein Schiffsbug teilt das elliptische Ausbildungszentrum die Verkehrsströme von Schochen- und Wassergasse, während zum Bankenviertel hin ein frei stehender Turm den winkelförmigen Baukörper abschliesst. Wer sich vom Innenhof seiner geschwungenen Betonfassade nähert, fühlt sich an Tadao Ando erinnert, so klar ist die Materialwahl.
Der Raiffeisen-Komplex wuchs in zwei Etappen. Denn erst nachdem der Städtische Werkhof ausgelagert war, konnten die Architekten mit der Front an der Gartenstrasse beginnen. Zehn Jahre waren seit den ersten Planungen vergangen. Während dieser Zeit wurde die Fassade mehrfach umgeplant und die Haustechnik auf den neuesten Stand gebracht. Das Warten hat sich gelohnt; heute wirkt der Komplex frisch im Gefüge St. Gallens. Inzwischen arbeitet Bruno Clerici bereits an einem Erweiterungsbau für die Raiffeisenbank in unmittelbarer Nachbarschaft zur architekturhistorisch bedeutenden Synagoge von Chiodera und Tschudy. Der abstrakte, allein durch Fensterachsen rhythmisierte Kubus nimmt in seiner Farbigkeit bewusst Bezug auf den orientalisierenden Fassadenschmuck des Gotteshauses. Dem Büro Clerici bescherte der Raiffeisen-Erfolg weitere Aufträge. Bereits vollendet ist inzwischen das minimalistisch anmutende Swisscom-Gebäude an der Wassergasse; und für den modisch «St. Gallen West» genannten Stadtteil Winkeln planen sie zurzeit ein multifunktionales Fussballstadion.
Ein Museum im Baudenkmal
Weniger sichtbar, doch ebenso konsequent hat sich die ehemalige Lokremise zum Museum gewandelt, in dem die Zürcher Sammlung Hauser & Wirth mit ihren reichen Beständen an moderner und zeitgenössischer Kunst für die nächsten zehn Jahre einen festen Platz gefunden hat. Für den betont zurückhaltenden Umbau verantwortlich waren Karlpeter Trunz und Hansruedi Wirth aus Henau. Anschliessend entwickelten die flämischen Architekten Paul Robbrecht und Hilde Daem, die mit ihrem Documenta-Provisorium in der Kasseler Karlsaue international bekannt wurden, im Juli 2000 die eigentliche Ausstellungsarchitektur. Auch sie liessen den spröden Charme der einstigen Werkhalle weitgehend unberührt. Über den mit Kies verfüllten Arbeitsgruben und dem Boden aus 330 000 Eschenholzklötzchen der ersten Umbauphase entstanden drei «Cluster»: Raumfolgen mit je eigenen Blickachsen und Situationen, die zunächst unbespielbar anmuten, doch für «manche Arbeit wie geschaffen scheinen». Die Einbauten sollten das gewaltige Vierfünftelrund «musealer, kleiner machen».
Das ist zweifellos gelungen, auch wenn man der verloren gegangenen Weite nachtrauern mag, denn 3300 Quadratmeter ohne innere Begrenzung wären zur steten Herausforderung an die Kuratoren geworden. Über dem Museumscafé entstand so eine zweite, fast schon intim zu nennende Ebene von 280 Quadratmetern Ausstellungsfläche. Dass die Flamen der radialen Grundform der Lokremise einen eigenen Rhythmus entgegensetzten, der sich wider die baulichen Vorgaben stemmt, ist gewöhnungsbedürftig, führt aber zu teils faszinierenden, teils überraschenden Raumfolgen. Wesentlich zurückhaltender verfuhren Trunz & Wirth, als sie für Büros und Bibliothek des abgetrennten Verwaltungsbereichs Elementarformen, Boxen und Kreissegmente, wählten. Sie sind, im Gegensatz zum Ausstellungsbereich, beheizt. Die schlechte Wärmedämmung der alten Mauern macht es nötig, die Ausstellungsräume im Winter zu schliessen. Dies ist das einzige Manko dieses eindrücklichen Gebäudes.
Im Jahr 1999 entstand das neue Wahrzeichen von St. Gallens Traditionsmesse Olma. Im Wettbewerb um den Neubau der Halle 9 wusste das Büro von Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio aus Erlenbach trotz starker Konkurrenz aus der Region zu überzeugen. Ihr Entwurf zeigt wechselnde Gesichter: Da ist der Monolith, mit 10 000 Quadratmetern Dachfläche und gewaltigen Tragwerken, die als Säulenreihe plastisch nach aussen treten. Und da ist ein höchst komplexes Bauwerk mit differenzierten Raumfolgen, gestapelten Boxen, voller Freiräume und Durchbrüche, als wäre ein Bildhauer am Werk gewesen. Dabei musste alles schnell gehen: Am 14. April 1998 fasste der Verwaltungsrat den Baubeschluss, und bereits am 4. Juni 1998 erfolgte die Grundsteinlegung. Rechtzeitig zur vorletzten Olma wurde der Riesenbau fertiggestellt. Der ungeheure Druck hat ein furioses Gebäude hervorgebracht, eine markante architektonische Schicht im sich wandelnden St. Gallen.
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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