Artikel

Weitsicht im dichten Häuserwald
Neue Zürcher Zeitung

Hongkongs Suche nach einem eigenen Profil in China

6. Juli 2001 - Philipp Meuser
Vier Jahre nach der Rückgabe an China droht Hongkong im Schatten Schanghais und des nahen Pearl-River-Deltas seine Bedeutung einzubüssen. Doch mit Stadtentwicklungsprojekten und einem städtebaulichen Wettbewerb soll nun das Interesse der internationalen Architektenschaft wieder auf die Metropole gelenkt werden.

Wenn Edward Li aus seinem Fenster schaut, blickt er auf die Silhouette von Kowloon, jener Halbinsel, die dem dichten Häuserwald von Hongkong Island vorgelagert ist. Und so beginnt der Stadtplaner denn von den grossen Ideen für den gegenüberliegenden Victoria Harbour zu schwärmen. Innerhalb einer Generation solle auf dem Kai Tak Airport, wo bis vor zwei Jahren die Jets landeten, ein neuer Stadtteil mit Parks und Erholungsflächen entstehen. Derzeit gleicht das ehemalige Flughafenareal allerdings noch einer Mondlandschaft. Für Li, Mitarbeiter der Stadtverwaltung, ist dies ein vorübergehender Zustand. Kai Tak habe Hongkong jahrzehntelang mit der Welt verbunden, nun dürfe man nicht erwarten, dass der alte Flughafen sofort aus dem Stadtbild entfernt würde.


Vom Flugfeld zum Wohnquartier

Der von Norman Foster geplante und 1998 eröffnete Flughafen Chek Lap Kok wurde als letztes grosses Projekt der Kolonialherren auf einerkünstlichen Insel 30 Kilometer vom Geschäftszentrum entfernt errichtet, wobei dank der neuen Flughafenbahn die Fahrzeit nach Hongkong Island nun kürzer ist als vom näher gelegenen alten Flughafen. Durch den Flughafen-Neubau hatte das ständig unter Landknappheit leidende Hongkong quasi über Nacht knapp 250 Hektaren innerstädtische Baufläche dazugewonnen. Unmittelbar nach Schliessung des Kai Tak Airport abermusste das Flugfeld unter die Aufsicht von Toxikologen gestellt werden, die im Boden neben Kerosin und Öl auch Schwermetalle nachwiesen. Seitdem wurde das Gelände zu einem Fünftel dekontaminiert, unterirdische Kraftstofftanks beseitigt und nahezu alle Gebäude entfernt. Lediglichdie weitläufige Abfertigungshalle und das Parkhaus werden noch zwischengenutzt: als Gebrauchtwagenmarkt, Bowling- und Go-Kart-Bahn, ja sogar als Büros. Jährliche Mieteinnahmen von rund zehn Millionen Franken tragen zu einer Reduzierung der Sanierungskosten bei.

Wenn die Abbrucharbeiten Anfang 2002 abgeschlossen sind, wird man vom ehemaligen KaiTak Airport allenfalls noch die schmale Piste erahnen, deren Umrisse sich wie eine Mole im Meer abzeichnen. Nach heutiger Planung sollen bis 2006 der Grossteil des Victoria Harbour sowie das schmale Hafenbecken Kwun Tong zwischen der ehemaligen Piste und dem gleichnamigen Stadtteil zugeschüttet sein. Um Transportkosten zu vermeiden, haben die Wasserbauingenieure ein Verfahren entwickelt, das die Nutzung des Bauschutts als Befestigung des Meeresbodens erlaubt - trotz Kontamination des Betons. Mit Hilfe eines Sprays werden die Bruchstücke der Piste versiegelt und erst danach in der Bucht versenkt.

Das städtebauliche Muster des neuen Stadtteils, der in den Plänen schlicht South East Kowloon Development heisst, unterscheidet sich kaum von den monotonen Hochhaussiedlungen, die sich entlang der Küste erstrecken. Auch die Einzelgebäude verheissen kaum Individualität. Die Türme stehen entweder auf kreuzförmigem Grundriss, um eine möglichst grosse Oberfläche für Fenster zu erhalten, oder sind in ihrer Höhe gestaffelt, um zahlreiche Wohnungen mit Weitblick anbieten zu können. Mit 53 000 Einwohnern pro Quadratkilometer ist das neue Quartier extrem dicht besiedelt. Selbst die Parks, die im Modell wie Schneisen im Häuserwald erscheinen, können diesen Superlativ kaum relativieren.

Offiziell reduzierten die Behörden die Fläche für die Neulandgewinnung auf Grund von Beschwerden zahlreicher Anwohner. Doch die vordergründig demokratische und politisch korrekte Entscheidung wird durchaus kritisch betrachtet. In Bankkreisen spricht man sogar von gezielter Propaganda. Grund für die geringere Anzahl von Wohnhochhäusern sei allenfalls die für die kommende Dekade nach unten korrigierte Bevölkerungsprognose. Am äusseren Ende der ehemaligen Start- und Landebahn soll ein Fährschiffterminal entstehen; und neben einem Luftfahrtmuseum sollen ein Aussichtsturm und ein Heliport zumindest etwas vom genius loci bewahren.


Luxuriöses «Fischerdorf»

Der für europäische Verhältnisse gigantomanische Massenwohnungsbau gehört zu einer Reihe von Stadtentwicklungsprojekten, die den Standort Hongkong für ausländische Immobilienbroker wieder attraktiv machen soll. Während in East Kowloon zu einem Drittel Sozialwohnungen entstehen, ist in den vergangenen Jahren an der Südseite der Insel Lantau eine Art Gegenmodell realisiert worden. Die Siedlung in der malerisch gelegenen Discovery Bay ist autofrei, verfügt dafürüber einen Jachthafen und direkte Fährverbindungen nach Hongkong Island. Breite Uferpromenaden und ein Sandstrand suggerieren Ferienstimmung. Wären nicht die 20-geschossigen Wohnhochhäuser, liesse sich das simulierte Fischerdorf durchaus als Beitrag zur New-Urbanism-Bewegung verstehen. Als eine Art Themenpark ist auch die sogenannte Silicon Bay in Pokfulam, an der Westküste Hongkongs, angelegt. Sobald das neu gewonnene Land befestigt ist, soll dort mit dem Bau von Büros und Wohnungen für Softwarespezialisten begonnen werden.

Währenddessen plant die Regierung Hongkongs einen städtebaulichen Wettbewerb, um nicht nur die Aufmerksamkeit der internationalen Architekturelite auf West Kowloon und das dort neu gewonnene Land zu lenken. Anfang 2001 soll die bereits mit Spannung erwartete Auslobung erfolgen. Ob es sich dabei um ein zu realisierendes Grossprojekt handelt oder lediglich um eine PR- Massnahme für das Stadtmarketing, steht freilich noch offen. Diese bittere Erfahrung musste vor knapp zwanzig Jahren Zaha Hadid machen, als sie sich mit ihrem Wettbewerbsbeitrag für ein Klubhaus auf dem Hongkong Peak zwar gegen 600 Konkurrenten aus aller Welt behauptete und so in die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts einschrieb, ihr Entwurf aber nie realisiertwurde. Die Unternehmerfamilie, die den Wettbewerb ausgeschrieben hatte, profitiert jedoch bis heute von dem so erzielten Bekanntheitsgrad.

Auf dem schmalen, dicht mit Hochhäusern besetzten Küstenstreifen auf Hongkong Island, der durch den Postkartenblick vom Peak weltberühmt ist, hat sich seit dem Abzug der Briten 1997 nur wenig verändert - einmal abgesehen von zwei Neubauten: der blütenförmigen Kongresshalle von SOM (NZZ 6. 6. 97) und einem gläsernen Hochhaus von Cesar Pelli. Dieser vor einigen Monaten eingeweihte Wolkenkratzer, der sich zwischen Peis Bank of China (1990) und Fosters Hongkong & Shanghai Bank (1986) erhebt, kann bezüglich der architektonischen Qualität allerdings kaum mit seinen Nachbarn rivalisieren.


Leben im Happy Valley

Architektonische Massstäbe - im typologischen Sinn - setzt da vielmehr ein neues Produkt auf dem Immobilienmarkt, das sich inzwischen auch in Europa durchsetzt: Wohnungen, bei denen der Unterschied zum Hotel nur noch darin besteht, dass man die eigenen Möbel mitbringt. Das derzeit exklusivste Projekt entsteht im Happy Valley, wo Hongkongs Pferderennbahn allwöchentlich Tausende von wettfreudigen Zuschauern anlockt. Am Fusse des Leighton Hill ragen acht 30-stöckige Rohbauten in den Himmel. Die Eigentumswohnungen werden für stolze 25 000 Franken pro Quadratmeter verkauft. Im Sockel der nach Feng-Shui-Regeln auf wellenförmigem Grundriss angeordneten Türme befinden sich Parkgaragen, Serviceräume und sogar ein Ballsaal. Private Bedürfnisse wie Sonnenbäder, Schwimmen und Fitness werden in den obersten Stockwerken mit grandiosem Blick auf die Skyline befriedigt. In den «Schlafgeschossen» sorgen Catering- und Reinigungsdienste rund um die Uhr für das Wohl der Bewohner. Als Mitglieder des Leighton Hill müssen die Bewohner lediglich ihre Klubkarte vorzeigen, um die Dienstleistungen in Anspruch nehmen zu können. Das an Exklusivität kaum zu übertreffende Projekt führt exemplarisch vor, dass die bei der Übernahme durch das kommunistische China gehegte Angst vor wirtschaftlicher Bevormundung vollends verflogen zu sein scheint.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: