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4. November 2002 Neue Zürcher Zeitung

Madrilenische Fieberkurve

Die Gran Vía als architektonische Kulisse des spanischen Eklektizismus

Die Gran Vía in Madrid, um 1900 geplant und nach dem Spanischen Bürgerkrieg vollendet, bildet eine der betörendsten urbanen Szenerien Europas. Von jeher Kinostrasse par excellence, ist sie architektonisch der Tummelplatz des spanischen Eklektizismus - eine spektakuläre Kulisse der Geschichte, des Lebens, der Vergnügungen.

Die Madrider sind stolz darauf, dass ihre Stadt sie umbringt. «Madrid me mata», bemerken sie gern anerkennend. Es ist ja auch wahr, dass Madrid als Moloch in Europa seinesgleichen sucht. «Dabei war das», erinnert sich der Künstler Eugenio Cano, «noch vor einigen Jahren eine liebenswürdige Stadt.» Er sagt es, als wäre gestern erst jener Hang zur Megalomanie erwacht, der sich heute in Form unzähliger Tunnels durch die Stadt gräbt und an ihren Rändern in neuen Megastrukturen aufschiesst. Wahr ist, dass sich das Madrider Selbstbewusstsein schon früher gern imposante Kulissen baute. Die urbanste von allen ist bis heute die Gran Vía.


Hauptschlagader mit Medienfassaden

Vor fünfundzwanzig Jahren waren die Kinoplakate an der Gran Vía, die teilweise ganze Fassaden überdeckten, noch handgemalt. Dass die Gesichtszüge der Stars - Jane Fonda, Clint Eastwood - durchweg leicht hispanisiert erschienen, mutete wunderlich an, ein wenig provinziell. Zugleich aber waren diese über zehn Meter hohen Malereien eine metropolitane Geste sondergleichen. Verglichen mit dem Métier eines Madrider Kinodekorateurs, der wöchentlich solche Riesentableaus fertigte, nahm sich die Kunst der damals aktuellen «jungen Wilden» geradezu betulich aus. Schnellmaler, Spitzenkönner der angewandten Kunst, hatten sie das ganze Stadtvolk zum Publikum, und ihr Handwerk war Ausdruck eines urbanen Fiebers - eines Gemischs aus Tempo, Tamtam und Bombast, das wirklich weitherum unübertroffen ist: der Puls einer Grossstadt, gemessen an ihrer Hauptschlagader.

Die handgemalten Affichen sind heute verschwunden. Laut der städtischen Bauordnung hätten sie schon 1978 nicht ganze Fassaden überdecken dürfen, denn Madrid hatte in Sachen Gebäudeschutz früh, noch in franquistischen Zeiten, scharfe Bestimmungen erlassen. Gegen Investoren, die auf Auskernungen drängen, hat die Stadt zwar einen schweren Stand. Äusserlich aber ist die Gran Vía in der Originalgestalt auf uns gekommen - mit der einzigen Ausnahme eines postmodernen Misstons, einer aufgestülpten Curtain- wall nahe der Telefónica, und abgesehen von drei Neubauten aus den sechziger Jahren. Erstaunlicherweise erstreckte sich der Schutz teilweise auch auf das Innere der Gebäude, namentlich auf einige Kinos. Der Architekt Antón Capitel zitiert auswendig - sind nicht die Namen ein Gedicht? -, welche Prachtsäle, ein jeder mit über tausend Plätzen, bis heute nicht angetastet wurden: «Das Capitol, das Coliseum, das Rialto und der Palacio de la Música. Auch das Lope de Vega, das jetzt freilich mit Musicals bespielt wird. Verschandelt wurde das Imperial; in mehrere Säle unterteilt: das Azul, das Avenida, der Palacio de la Prensa, das Callao, das Gran Vía. Ganz verschwunden sind nur das Pompeya und das Actualidades.»

Es waren Madrids teure Premierenkinos, und auch heute wird gelegentlich ein roter Teppich ausgerollt für Tom Cruise und Konsorten. Bloss dass kein Kinomaler mehr ihre Gesichtszüge hispanisiert. Die Grossplakate waren übrigens bei manchen dieser Paläste, so beim vorzüglichen Callao (1926), schon im Fassadenplan vorgesehen. Das Capitol (1931) mit seinem neonumflackerten Turm von Mendelsohn'schem Schwung und seinem breiten Maul, in dem sich über den Kartenschaltern die letzten handgemalten Plakate bis heute halten, kann als eine der ersten reinen Medienfassaden überhaupt gelten.


Geknickte Szenographie

Die Strasse, die wir eine geglückte nennen, will indes nicht nur als Reklamewand wahrgenommen werden. Schneise im Stadtkörper, nimmt sie uns in diesen auf, gleichviel ob als Fussgänger oder als Insasse eines Fahrzeugs. Der Verkehr röhrt, ohne den Schlendrian zu beeinträchtigen: Aufputschmittel eher denn Zumutung. Metromäuler, Ampelzirkus, sechsspuriger Verkehr, aber auch beidseits je sieben Meter Trottoir, nachts jetzt freilich allzu grell beleuchtet - der übliche Sicherheitswahn. Jedenfalls ist solche Verflechtung aller urbanen Fortbewegungsarten nachgerade eine Rarität geworden. Anderswo hat man es, wo nicht mit einer Autobahn, gewöhnlich mit einer adrett hergerichteten Fussgängerzone zu tun. Die Gran Vía hingegen kennt nur, wer sie gehender- wie fahrenderweise erlebt hat, in die eine wie in die andere Richtung. Gerade Letzteres ist heute, da Einbahnstrassen in Grossstädten die Regel sind, ein Zeichen klassischer Distinguiertheit.

Diese Gegenläufigkeit bildet sich auf fabelhafte Weise auch im Trassee ab. Nahezu symmetrisch, beschreibt es ein lang gestrecktes S - von keinem Blickpunkt aus ist der Prospekt als Ganzes zu erfassen. Die Dramatik wird durch das Profil erhöht, das zunächst ansteigt, um nach der ersten Biegung in eine Horizontale überzugehen und nach der zweiten wieder abzusinken. Man könnte von einer Sonatenstruktur sprechen: Allegro - Andante - Allegro vivace, die den der Beschleunigung des fahrenden Autos ausgesetzten Passagier unfehlbar in eine Art Trance versetzt. Denn zugleich hat man alle architektonischen Register gezogen, um die sinnbetörende Wirkung der Topographie noch zu erhöhen. Jedes der drei Teilstücke hat, zumal bauhistorisch um je ungefähr ein Jahrzehnt verschoben, seine eigene Monumentalität. Es sind jedoch die Übergänge, markiert durch zwei in jeder Hinsicht herausragende Gebäude - die Telefónica und das Capitol -, die den Sog dieser urbanistischen Komposition unwiderstehlich machen.

Die Gran Vía durchschneidet die Altstadt in ost-westlicher Richtung: eine Schneise durch ein Dickicht von Gassen, die teilweise noch der islamischen Stadtanlage folgen. Um 1860, zeitgleich mit dem Stadterweiterungsprojekt von Castro, lagen die ersten Pläne für ein solches percement vor. Eine Gesetzesänderung sah seit 1879 die Möglichkeit von Enteignungen zugunsten grosser Neubauprojekte vor. Aber erst um die Jahrhundertwende, als sich die angrenzenden Stadtteile Salamanca und Argüelles zu den bevorzugten Wohnlagen der Begüterten entwickelt hatten, wurde eine direkte Verbindung durch die Altstadt vordringlich. Und erst im Jahre 1910 wurde das lange zuvor bewilligte Projekt der Architekten Sallaberry und Octavio in Angriff genommen, finanziert von einem französischen Magnaten. 1917 war der erste Abschnitt vollendet. An der Stelle des unterweltlichen Gassengewirrs war ein neobarockes Ensemble von verblüffender Einheitlichkeit entstanden.

Ausgangspunkt, sofern man bei ihrer unmenschlichen Weite von einem Punkt sprechen kann, ist die Plaza de Cibeles. Hier hinterliess 1904 der damals erst dreissigjährige Architekt Antonio Palacios die erste jener architektonischen Ungeheuerlichkeiten, mit denen er bald darauf den ganzen Stadtteil prägte: den Palacio de Telecomunicaciones, nach einem Wort von Trotzki auch «Unsere liebe Frau von der Post» genannt. Ungeheuerlichkeit im Sinn eines Exzesses, was die architektonischen wie die dekorativen Mittel betrifft. Dieser Baukünstler hatte die Fähigkeit, in einem einzigen Gebäude einen kleinen New Yorker Art-déco-Wolkenkratzer in eine barocke Voute zu fassen, gekrönt von einem griechischen Tempel - ohne dass die Harmonie des Ganzen darunter litt. Die Rede ist hier vom Banco Mercantil, einem Spätwerk an der Calle Alcalá, an der die meisten seiner Hauptwerke stehen: so der Banco Español del Río de la Plata und der Círculo de Bellas Artes. Zwei überaus stattliche Gebäude, die Casa Matasanz und das Hotel Avenida, errichtete Palacios auch an der Gran Vía, die kurz nach der Plaza de Cibeles von der Calle Alcalá abzweigt. Nicht von ihm stammen jedoch die beiden Bauten, der eine kuppel-, der andere tempelgekrönt, an denen sich die beiden Prachtstrassen gabeln.

So entstand nach 1910 diese Verzweigung zweier grosser Achsen, die nach ähnlichen szenographischen Gesichtspunkten geplant, aber verschieden genutzt wurden. Die Calle Alcalá, seit dem 18. Jahrhundert die Hauptarterie der Stadt, wurde durch die aufstrebende Hochfinanz noch einmal vollkommen transformiert: das bisher Gewachsene niedergerissen und durch Prunkbauten für Banken und andere Institutionen ersetzt. Derselbe imperiale Gestus nahm an der Gran Vía alsbald einen kommerziellen, populären, fast übermütigen Charakter an: Tanzsäle in den Untergeschossen, auf Strassenebene Kinos, Geschäfte, Bars, darüber einst Wohnungen, heute aber meist Hotels und Büros. Beide Strassen haben einen potemkinschen Einschlag, denn hinter den auftrumpfenden Fassaden schliesst unmittelbar die kleinteilige Gassenwelt an.

Die Abruptheit dieses Übergangs ist einer der faszinierendsten Aspekte der Gran Vía. Es gibt im Zentrum Madrids keine ärmlicheren Zonen als gerade die Rückseiten dieser Buildings, wo kaum szenographische Rücksichten genommen wurden, jedoch der Massstabwechsel zu den um mehrere Geschosse niedrigeren Gassenstrukturen irgendwie bewältigt werden musste. Natürlich dringen die Lebewelten aus diesen schattigen Back Alleys auch auf die Trottoirs der Prachtstrasse vor. Von Flanieren kann an der Gran Vía nicht die Rede sein; eher von Passieren, sofern dies das zum Passanten passende Verb ist. Es passieren Leute, und es passieren Dinge. Es zieht die Dame am Fussgängerstreifen die Lippen nach. Es krächzen die Funkgeräte der Stadtpolizisten. Es werden einem Kärtchen zugesteckt von wildfremden Herren. Man muss sich vorsehen, nicht über CDs, die auf Tüchern ausgebreitet sind, oder - je nach Saison, Tageszeit und Wetter - über Sonnenbrillen, Foulards und Regenschirme zu stolpern: den improvisierten Basar der Immigranten. Vielleicht verdient es auch als Seltsamkeit erwähnt zu werden, dass Leute für ein Sandwich bei «Pans & Co.» Schlange stehen. Da ist es ein Glück, dass gegen Mitternacht unfehlbar eine Gruppe von Chinesinnen mit dampfenden Nudeltöpfen auftaucht zur Verköstigung des passierenden Volkes.


Hybride Lebewelt

Es gab eine Zeit, da nicht nur die Premierenkinos, sondern die luxuriösesten Geschäfte Madrids an der Gran Vía domiziliert waren; später hüteten sie sich davor und zogen ins Salamanca- Viertel. So wie die fünfziger und sechziger Jahre als Glanzzeit, gelten die siebziger Jahre als Epoche des Niedergangs. Heute spricht man von Revitalisierung und meint damit eigentlich ein properes Image; keine schlagartige Disneyifizierung wie an New Yorks 42nd Street, doch steckt dahinter derselbe Wille zur Familientauglichkeit. McDonald's hatte sich schon 1978 in den exquisiten Räumlichkeiten eines einstigen Ledergeschäfts eingerichtet, nicht ohne sich an gewisse bauliche Auflagen halten zu müssen: Die fein ziselierte Spiegelmarkise blieb erhalten. Inzwischen hat vor allem die Hotelnutzung zugenommen. Für Kaufhäuser wie El Corte Inglés und die Fnac, beide an der Plaza del Callao, wo sich die Energie mit jener der nahen Puerta del Sol bündelt, empfiehlt sich die Adresse schon wegen des enormen Passantenaufkommens. Aber auch die spanische Luxusmarke Loewe hat jetzt wieder einen Outlet hier, und eine wiewohl pitoyable Mitsukoshi-Filiale hält Fächer und Toledo-Messer für argwöhnische Japaner feil. Den Standard für die kommerzielle Gegenwart setzt eher der Megaladen des Fussballklubs Atlético Madrid. Daneben Reiseagenturen, Eisdielen, Sexshops, Apotheken, Mobiltelephonie, Immobilien, Spielsalons. Irgendwo liest man «Tanzsalon Golden», vielleicht der letzte «baile» alter Schule, der sich hier hält. Im Edificio Los Sótanos, einem franquistischen Brocken bar aller Anmut, aber wie das Capitol oder der Palacio de la Prensa nach New Yorker Vorbild voll gestopft mit Kinos, Cafeterias und Apartments, lockt der «Cool Ballroom» eine wesentlich jüngere Szene an. Auch die Bar Chicote, ein Art-déco-Kleinod des Architekten Gutiérrez Soto und Wahrzeichen des ältesten Teilstücks der Gran Vía, wurde jüngst à jour, sprich um ihre Barmen im weissen Sakko gebracht. Stattdessen gibt es jetzt DJ-Gelärme und bunte Lichtchen in dem sonst respektierten Interieur, in welchem sich einst die Intelligenzia der zweiten Republik vergnügte. In unmittelbarer Umgebung liegen einige weitere Klassiker des Madrider Nachtlebens: das «Sol», das «Cock» . . . Tritt man aber zufällig durch das Portal vis-à-vis, so steht man unvermittelt vor zwei mittelalterlichen Rüstungen, die den Eingang zu einem Salon flankieren, zu dem man schwerlich Zutritt erlangen wird: Es ist das Militärkasino.


Main Street España

Manche Madrilenen haben für die Gran Vía nicht viel übrig. Sie möge, sagt eine junge Frau, eigentlich nur den Blick nach oben: zu all den Kuppeln und Fialen und Figuren - vor allem zu diesen Dachfiguren, absurde Garnitur hoch über allen irdischen Angelegenheiten, vor dem klirrenden kastilischen Himmel. In architektonischer Hinsicht ist die Gran Vía der Ort, an dem sich der spanische Eklektizismus ungehemmt auslebte. Mit dem 20. Jahrhundert nahm der späte Historizismus, bis dahin der Klassik zugetan, eine neubarocke Wende: vor allem in Madrid, wo der Barock auf etwas gezwungene Art als der der Kapitale eigene Stil deklariert wurde. Man versteifte sich geradezu auf diese Idee, Madrid sei eine Barockstadt, was den pompösen Auftakt der Gran Vía erklärt. 1928 setzte das 81 Meter hohe Stahlskelett der Telefónica, damals wohl der höchste Bau Europas, neue Massstäbe und liess eine klare Amerikanisierung erkennen. Und schon 1933 waren die beiden heute meistgeschätzten Bauten des ganzen Strassenzugs vollendet: das Capitol und das Coliseum.

Nach dem Krieg wurde der westliche Abschluss bis zur Plaza de España vorangetrieben, an der zwischen 1947 und 1954 zwei zu Ikonen des Franco-Regimes bestimmte Prestigebauten entstanden: das Edificio España, ein abgestufter Koloss von nachgerade moskowitischen Dimensionen (32 Aufzüge!), eher plump und bautechnisch mit seiner Stahlbetonstruktur und den Kalkstein- und Klinkerfassaden hinter der Telefónica zurückbleibend; sodann die Torre de Madrid, auch kein besonders guter Bau, der aber immerhin einen neuen nationalen Höhenrekord setzte und eine ansehnliche schlanke Silhouette präsentiert. Insgesamt ein imposantes Pendant zur Plaza de Cibeles, ein halbes Jahrhundert und einen Bürgerkrieg später.

Immer schon wollte die Gran Vía zugleich madrilenisch und amerikanisch sein, in der Tradition verwurzelt und doch modern, und bei aller Disparatheit ist dieser Mix gelungen. Einzelne Bauwerke mögen eher an Pittsburg als an Manhattan denken lassen. Dafür ist die Gran Vía auch mehr als der Broadway von Madrid: Sie ist die Main Street des ganzen Königreichs. Noch kein Jahrhundert alt, aber von Geschichte voll gesogen. Die Caballeros der fünfziger Jahre, die auf Epochenfotos vor der Cafeteria Nebraska ihre Zigarren rauchen, können nicht das Bleierne des Franquismus verbergen, machen aber zugleich die Überwindung der Nachkriegsmisere anschaulich. Die gebaute Pracht war schon da, bloss fehlte noch das Geld, um sie mit Glamour zu erfüllen. Aber war der Kommerz, der mit dem Corte Inglés Einzug hielt, dann verführerischer?

Die Gran Vía ist auch einer der Lieblingsschauplätze des spanischen Films - unlängst etwa als menschenleere Kulisse in Amenábars «Abre los ojos», von Tom Cruise im Remake «Vanilla Sky» mit wenig Erfolg am Times Square nachgestellt. Und der Maler Antonio López hat es mit seinen fotorealistischen Ansichten fast zum Nationalkünstler gebracht. Aus dem Bildervorrat des spanischen 20. Jahrhunderts ist diese Strasse nicht wegzudenken. Ihr Paradox besteht darin, dass sie in dem Moment, da sie vollendet wurde, bereits nicht mehr die Hauptarterie Madrids war. Diese Rolle fiel nun dem Paseo de la Castellana zu, der acht Kilometer langen Nord-Süd-Achse, die um 1930 Gestalt anzunehmen begann. Wenig später wurde das monumentalste Projekt des Architekten Antonio Palacios, die Verlängerung der Gran Vía als über den Río Manzanares sich hinausschwingende Gran Vía Aérea, ad acta gelegt.

18. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Kein einsames Genie

Gaudí und seine Zeit - eine Ausstellung in Barcelona

Antoni Gaudí bleibt auch im Jahr seines 150. Geburtstags eine kontroverse Figur. Dabei steht kaum mehr seine Bedeutung an sich zur Debatte, wohl aber, worin diese genau bestehe. Ist er jener «Baumeister der Jahrhundertwende», als den ihn Le Corbusier pries - mithin ein Vorläufer der Moderne? Oder eher das göttlich inspirierte Genie, herausgelöst aus jeglichem geschichtlichen Kontext - eine fast mythische Gestalt? Weder noch, meint Juan José Lahuerta, Kurator der Ausstellung «Univers Gaudí» im Centre de Cultura Contemporània in Barcelona, die ursprünglich einfach «Gaudí Entorns» heissen sollte: «Gaudís Umfeld».

Im Erbauer der Sagrada Familia allein den Konstrukteur zu sehen, der geometrische Regelflächen in nie gesehene Strukturen verwandelte, ist offensichtlich eine unstatthafte Engführung. Ohne den ornamentalen Exzess, der nicht zuletzt ein Spiegel seiner Gesinnung ist, lässt sich dieser Architekt nicht begreifen. Vernachlässigt wurden aber bisher von beiden Seiten, den Rationalisten und den Mystifizierern, die Einflüsse, die ihn prägten, sowie die Parallelen zur Arbeitsweise einiger Zeitgenossen. Eben diese Lücke schliesst nun eine Ausstellung in Barcelona, deren dritter Teil auch einige Aspekte der Wirkungsgeschichte behandelt.


Ruskin und Wagner

Die Präsentation der 420 Exponate in einer weichen, aus zu Nischen gespannten Stoffbahnen bestehenden Ausstellungsarchitektur ist bewusst der Üppigkeit einer Maison d'artiste des Fin de Siècle nachempfunden. Schon der erste Saal widerlegt eine Legende: die vom angeblichen Desinteresse des jungen Gaudí, eines der ersten Absolventen der barcelonesischen Architekturschule, an seinem Studium. Die frühen Entwürfe sind nicht nur ambitioniert, sondern sie führen im Fall des Projekts für einen Monumentalbrunnen, 1877, auch bereits klar über die Beaux-Arts-Tradition hinaus - ganz im Sinn jener katalanischen Bourgeoisie, die es für ihre Selbstinszenierung nach einer genuin katalanischen Expressivität verlangte. Die geniale Einzelfigur, als die Gaudí gern gesehen wird, verlieh dem Traumreich der barcelonesischen Industriebarone, allen voran sein Hauptauftraggeber Eusebi Güell, märchenhafte Gestalt. Zwar scheint sich der formale Exzess schwerlich mit unserer Vorstellung eines kommerziellen Architekten vereinbaren zu lassen, der allenfalls durch chronische Budgetüberschreitungen abschreckte. Doch wenn 125 Jahre später ein Kulturreferent der katalanischen Generalitat als einen der Hauptzwecke dieses Gaudí-Jahrs jenen nennt, ihn als «Markenzeichen der katalanischen Identität» bekannt zu machen, so bringt er damit bloss die Urabsicht auf den Begriff.

Die Ausstellung, unter Dutzenden in diesem Gaudí-Jahr wohl die interessanteste, geht indessen andere Wege. Sie versucht zunächst die laut Lahuerta «beinahe osmotische Beziehung Gaudís zu Ruskin» aufzuzeigen, die geistigen Parallelen zu William Morris und den Präraffaeliten. Dann folgt sie jener andern Spur, die den Architekten, der weder Paris noch Rom gesehen hat, immerhin einmal bis nach Carcassonne führte. Seine einzige Reise zu einem «modernen» Bauwerk galt den Eingriffen von Viollet-le-Duc an der dortigen Kathedrale. Dessen Einfluss zumindest auf das Frühwerk ist denn auch unverkennbar - und Viollet-le-Ducs ätherisch präzise Zeichnungen gehören zu den Höhepunkten der Ausstellung.

Eine weitere, wie eigenwillig auch immer interpretierte Inspirationsquelle war der Symbolismus. Wie kein Zweiter bot Wagner das ästhetische und ideologische Modell, an dem sich die mythischer Legitimation so bedürftige katalanische Bourgeoise ergötzte und orientierte. Nicht umsonst gelten die frühen Wagner-Aufführungen im Liceu in Barcelona bis heute als historische Ereignisse, und zweifellos wurde auch Gaudí damals vom «wagnerianismo» erfasst. Lässt sich die gestirnte Kuppel des Güell-Palasts nicht genauso als Gral deuten wie dessen parabolische Bögen als architektonisches Leitmotiv? Ins Gigantische gesteigert aber wird der Gesamtkunstwerks-Charakter dieser Architektur bei der Sagrada Familia. In das unvollendete Hauptwerk eingeflossen ist auch das Höhlen- und Tropfsteinmotiv, von dessen Beliebtheit bei Gaudís Zeitgenossen ein weiterer Saal Zeugnis gibt. Nicht nur nach, sondern mit und aus der Natur zu schaffen, war in Neuschwanstein eine Kaprize, im Park Güell hatte es Methode.

Nein, Gaudí war nicht allein, er war purer Zeitgeist, zum steinernen Wahn gesteigert. Von Haeckels «Kunstformen der Natur» über die Falten eines Fortuny bis zu zeitgenössischen Lehrbüchern über orientalische Ornamentierung, die der Student selbst in der Hand gehalten haben mag - «Univers Gaudí» weist die Einflüsse nach, taucht den Betrachter in ein geistiges Magma und schlüsselt es zugleich auf. Vermisst wird allenfalls die den Sagrada-Familia-Türmen morphologisch verwandte afrikanische Lehmarchitektur. Und nur im Katalog wird angesprochen, was Gaudí vorsätzlich ignorierte: den Impressionismus und, schwerwiegender für einen Baukünstler, die Schule von Chicago. So brillant seine konstruktiven Lösungen waren, strukturell und in der Materialwahl war er nicht auf der Höhe seiner Zeit. Umso wundersamer, dass dieser Mischmasch aus Gotik und Barock, aus Beaux-Arts und Byzanz, aus Hellenismus und Lokalismus nicht nur in jedem einzelnen Bau seine Stringenz bewahrte, sondern den Kubismus, den Surrealismus und den architektonischen Biomorphismus vorwegnahm.


Die mythische Bauhütte

Den Hintergrund zu diesen hochbürgerlichen Delirien gibt das verelendete Proletariat ab. Das gewaltgeschwängerte soziale Umfeld ging auch an Gaudís Werk nicht spurlos vorüber - berühmt ist die Darstellung eines Mannes, der von einem Teufel mit einer von den Anarchisten für ihre Anschläge verwendeten Orsini-Bombe in Versuchung geführt wird, in der Rosenkranz-Kapelle der Sagrada Familia. In Lahuertas Schau weist «Die Kathedrale der Armen», ein Gemälde von Joaquim Mir, am eindrücklichsten auf diesen Kontext hin und leitet zugleich zum zweiten Ausstellungsteil über, betitelt «Die Bauhütte». Gaudís «obrador», im Spanischen Bürgerkrieg zerstört, hatte wenig mit einem konventionellen Architekturstudio gemein. Eher glich er einem Bildhaueratelier, auch in diesem Fall ins Gigantische gesteigert. Die Arbeitstechniken waren indessen dieselben, deren sich viele Bildhauer um die Jahrhundertwende bedienten: Photographien und Abgüsse des menschlichen Körpers. Juan José Lahuerta hat eine Fülle faszinierender Dokumente verschiedenster Provenienz zusammengetragen, von Geoffroy-Dechaumes fast wieder Fleisch gewordenen Gipsleibern über Jean-Louis Igouts und Josep María Serts photographische Körperstudien bis zu den Aufnahmen von Ricard Opisso, auf denen die aus dem Barrio stammenden Modelle für die Skulpturen der Geburtsfassade zu sehen sind. Mit jedem dieser Objekte, so lose der Zusammenhang erscheint, wird Gaudís demiurgisches Universum greifbarer. Auch und gerade Rodin, der mit der «Porte de l'Enfer» fast ebenso lange gerungen hat wie der Katalane mit der Sagrada Familia, ist dann kein so ferner Zeitgenosse mehr.


[Bis zum 8. September im Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), anschliessend vom 15. Oktober an im Centro de Arte Reina Sofía in Madrid. Katalog, 238 S., Euro 25.-.]

10. Juli 2002 Neue Zürcher Zeitung

Prado-Posse, nächster Akt

Endlich hatten sie angefangen, die Bauarbeiten für die Erweiterung des Madrider Museo del Prado nach dem Entwurf von Rafael Moneo, da verfügte letzte Woche der Oberste Gerichtshof einen vorläufigen Baustopp. Grund: die Klage eines Nachbarschaftsvereins, der sich seit Jahren gegen die Integrierung des verlotterten Kreuzgangs der Kirche San Jerónimo in einen geplanten und im Volksmund als «Moneo-Würfel» bekannten Annexbau wehrt. Ironischerweise fiel der richterliche Entscheid erst, als die Ruine bereits Stein für Stein abgetragen worden war, um künftig als glasüberdachter Lesesaal wieder zu erstehen. Um aber die Sache noch vertrackter zu machen, bürdeten die Leuchten der Rechtsprechung dem klagenden Verein, bevor das Urteil rechtskräftig wird, eine Kaution in der Höhe von 1,25 Millionen Euro für die eventuellen finanziellen Konsequenzen des Baustopps auf. Prompt wurde denn auch ein Spendenkonto eingerichtet.

Die Justizschnurre passt in die Kette von Tollheiten, in die sich das ehrwürdige Museum seit Jahren verwickelt sieht, sowohl was seine bauliche als auch seine administrative Modernisierung betrifft. Sie schreibt sich aber auch ein in die nicht mehr zu übersehende Tendenz, neue Architektur zum Rechtsfall zu machen. Zwei weitere spanische Beispiele dafür: In Madrid vereitelte ein Richter die Realisierung des siegreichen Wettbewerbsprojekts für das Museum, das künftig die Königlichen Sammlungen beherbergen soll, und liess einen neuen Wettbewerb ausschreiben. Und in Sagunt wurde eine seit fast zehn Jahren schwelende Gerichtsfehde - wie im Fall des Prado - zugunsten der Ruinenromantik entschieden (NZZ 5. 7. 02). Der von Giorgio Grassi und Manuel Portaceli vorgenommene Eingriff am römischen Theater, so rigoros er römische Baukunst zeitgenössisch interpretierte, muss demnach rückgängig gemacht werden.

2. April 2002 Neue Zürcher Zeitung

Gaudí feiern

Veranstaltungen zum 150. Geburtstag des grossen Katalanen

Schlange stehen im triefenden Regen - so hatte man sich seinen Osterausflug nach Barcelona gewiss nicht vorgestellt. Für das zeitweise garstige Wetter konnten die Touristen nichts, die Schlangen jedoch verursachten sie selbst. Die Verantwortlichen des Gaudí-Jahres - der Architekt lebte von 1852 bis 1926 - machen sich auf vier Millionen Besucher bis Dezember gefasst. Eine eigens eingerichtete Gaudí-Buslinie erschliesst die bekanntesten der etwa zwanzig in und um Barcelona verstreuten Bauten des Meisters. Gaudís fast magische Anziehungskraft auf kulturelle Normalverbraucher hat die Tourismusstrategen auf den Plan gerufen; die Zeitung «El País» sprach von «Gaudilatrie», nicht ohne nach Kräften daran mitzuwirken. Ein Stück von dem Geburtstagskuchen abschneiden möchte sich auch Gaudís Geburtsstadt Reus, wo am Geburtstag, dem 25. Juni, ein Gaudí-Spektakel der «Comediants» Premiere hat.

An die zwanzig kleinere und grössere Ausstellungen widmet Katalonien im Lauf des Jahres seinem populärsten Architekten, dessen Rang unbestritten, dessen Einordnung in die Geschichte der Moderne jedoch weiterhin Gegenstand von Debatten ist. So kritisierte Oriol Bohigas zum Auftakt des Jubeljahrs die Verklärung seiner konstruktiven Methoden namentlich durch jene Exegeten, die heute den Weiterbau der Sagrada Familia mit Computerhilfe betreiben. Für Bohigas liegt die eigentliche Bedeutung Gaudís in seinen Raumschöpfungen, «im dramatischen Ausdruck der Volumen» - gleich danach aber insistierte Norman Foster wieder auf dem «noch heute revolutionären» Konstrukteur Gaudí. Einig war man sich darüber, dass er zusammen mit seinen Zeitgenossen Eiffel, Sullivan und Wright den Bruch mit der Tradition vollzogen hat.

Gaudí, der einsame Mystiker und konservative Vorläufer der Moderne, bleibt eine widerspruchsvolle Figur. Aber während den einen seine Heiligsprechung zum «San Gaudí» das höchste Anliegen ist, versuchen ihm andere auf rationale Weise beizukommen. So ist zurzeit unter dem Titel «Gaudí. Experiències» im Saló Tinell die erste wichtige Jubiläumsausstellung zu sehen, eine Veranschaulichung seiner Konstruktionsmethoden. Am 30. Mai eröffnet im CCCB «Gaudí. Entorns»: Hier wird einerseits das Umfeld seiner Arbeit, anderseits deren Einfluss auf die Surrealisten und Expressionisten beleuchtet. Ab 17. Juni zeigt schliesslich «Gaudí. Art y disseny» die handwerklichen Details seines Werks. Schauplatz ist die «Pedrera», deren Renovation vor einigen Jahren ebenso kontrovers war wie die des Park Güell. Dieses Jahr werden nun einige weitere Renovationen zum Abschluss gebracht, darunter die der Krypta Güell. Unter den kaum mehr zu zählenden Publikationen ragen die erstmals in einer kritischen Ausgabe versammelten schriftlichen Aufzeichnungen des Architekten heraus.


[Antoni Gaudí, Escritos y documentos. Hrsg. Laura Mercader. El Acantilado, Barcelona 2002. 332 S., Euro 21.-.]

23. Januar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Architecture Boogazine

Die neue Zeitschrift «Verb»

Architekturzeitschriften befassen sich vornehmlich mit einem bestimmten, sehr kurzen Moment in der Geschichte eines Bauwerks: dem seiner Vollendung. Die letzten Spuren des Bauvorgangs sind verwischt, und solche der Benutzung gibt es noch nicht, oder sie werden ausgeblendet. Gegen diese Fetischisierung der Architektur wendet sich eine neue Zeitschrift in Buchform, die sich selbst als «architecture boogazine» definiert. «Verb», so ihr Name, erscheint dreimal jährlich in Barcelona in der ausdrücklichen Absicht, architektonische Entwurfs- und Produktionsprozesse sichtbar zu machen. In Frage gestellt wird dabei auch der Begriff der Urheberschaft - ein Bau ist ja nie nur das Produkt eines Architekten, sondern auch der Umstände, der Baugesetze, der Interessen des Bauherrn, der Ingenieure.

Ein Beispiel dafür ist der Osanbashi Pier in Yokohama. Der oft publizierte Entwurf von Alejandro Zaera (Foreign Office Architects) für ein Hafenterminal soll bis zur Fussball-WM 2002 realisiert sein. Die eben erschienene erste Nummer von «Verb» widmet diesem Projekt 75 Seiten. Nicht ohne Grund: Die an Origami-Faltungen erinnernde Struktur der 400 Meter langen Dachplatte hat das Zeug, zum Architektur-Hype des Jahrzehnts zu werden, in der Nachfolge des Guggenheim-Museums in Bilbao. Gewisse formale Ähnlichkeiten der Entwürfe von Gehry und Zaera täuschen jedoch darüber hinweg, dass beider Vorgehensweise laut dem in London tätigen Spanier unterschiedlicher nicht sein könnte. Die räumlichen Effekte, die jener im Voraus konzipiert, sind bei Zaera das Ergebnis des Konstruktionsprozesses selbst, der «Kohärenz der materiellen Organisation». Ein Text des Strukturplaners Kunio Watanabe ergänzt denn auch seinen Aufsatz. Ein Dutzend weiterer Beiträge fügt sich zu einem ebenso interessanten wie unausgeglichenen Start für das «boogazine» - beides liegt wohl im Konzept begründet. Stellvertretend genannt seien ein Tagebuch von Njiric + Njiric über die Planung und Konstruktion eines Baumaxx-Centers in Maribor, die Geschichte einer Gewächshauswohnung von Lacaton & Vassal bei Bordeaux und eine «Lärmlandschaft» in Amersfoort, Holland. Die grafische Gestaltung mit ihren Querverweisen entspricht dem angestrebten Prozesscharakter von «verb».


[ «Verb» erscheint dreimal jährlich in einer englischen, einer französischen und einer spanischen Ausgabe bei Actar, Barcelona; etwa 280 S., EUR 25.-. ]

4. Januar 2002 Neue Zürcher Zeitung

Die Glory Days der Treppe

Eine Ausstellung in Barcelona

Die Tage der Treppe als architektonisches Glanzstück sind gezählt, hat nicht ohne Wehmut der Architekt Oscar Tusquets festgestellt und eine Schau organisiert, die unter dem Titel «Requiem für die Treppe» zurzeit in Barcelona zu sehen ist. Sie bildet den Auftakt zu einer Ausstellungsreihe des Centre de Cultura Contemporània de Barcelona (CCCB), die sich in den nächsten Jahren mit weiteren Grundelementen der Architektur - Säulen, Schatten, Licht . . . - befassen soll.

Tusquets masst sich nicht an, das Thema umfassend oder nach streng wissenschaftlichen Kriterien zu präsentieren, sondern lässt sich von eigenen Vorlieben leiten. Schön, dass es trotzdem (oder eben deshalb?) eine gut aufgebaute, in sich stimmige Ausstellung geworden ist. Auf zwei Ebenen angelegt, die durch ein Dutzend beispielgebende Treppen miteinander verbunden sind, sortiert sie ihr Thema nach Typen wie der abgewinkelten und der Repetiertreppe, der sich verzweigenden und der Wendeltreppe, der frei schwebenden und der unmöglichen Treppe. Ein Grossteil des Materials sind Photographien; zu sehen sind aber auch Filmausschnitte, Pläne, Modelle und für jeden Treppentyp ein Gemälde. Da entdeckt man traumhafte Treppenanlagen wie die des Wassertempels von Ranji-Ki-Baori oder der Festung von Santiago de Cuba neben einer Holztreppe im Goms, einem Stufengeschnitz der Dogon oder einer um einen Hochkamin sich schlingenden Stiege, die das Kapitel «Bloss kein Geländer» vorzüglich illustriert. Da sind Treppen von Architekten wie Aalto, Barragán, Kahn, Michelangelo, Miralles, Saarinen, Schinkel, Sejima zu sehen, und aus Hitchcocks «Vertigo» gerät man direkt nach Machu Picchu. Eine wenn nicht schwindelerregende, so doch ebenso kapriziöse wie deliziöse Angelegenheit.

Treppen jedoch, so schön sie waren, haben heute ausgedient. Man fährt jetzt per Lift in seinen Fitnessklub, um sich dort auf virtuellen Stufen abzustrampeln. Ein Übriges tut die raumfressende, aber politisch korrekte Rampe; ein aberwitziges barcelonesisches Beispiel dafür bietet gleich neben dem CCCB Richard Meiers Museumsbau. Und Tusquets versäumt nicht, es zu erwähnen: Die Mehrzahl der ausgestellten Treppen könnte schon wegen der Feuerschutzvorschriften heute nicht mehr gebaut werden.


[ Bis 27. Januar. Katalog (span./katalan.), 224 S., Pta. 3000.-. ]

7. Dezember 2001 Neue Zürcher Zeitung

Hinter dem Pflaster liegt der Strand

Portos Stadterneuerung zwischen Zentrum und Meer

Koolhaas' Casa da Música in Porto, geplant als Wahrzeichen der europäischen Kulturhauptstadt 2001, wird nicht vor 2003 eröffnet werden. Bereits zu sehen sind aberandere Ergebnisse des Erneuerungsprozesses, dem sich die nordportugiesische Metropole zurzeit unterzieht. Noch Zukunftsmusik ist Sizas zentrale Avenida da Ponte.

Lange Zeit war Portos Altstadt mit ihren steil zum Douro abfallenden Strassen vom Zerfall bedroht. Heute, da es ihr wieder besser geht (NZZ 14. 6. 99), bildet sie für die Urbanisten nur noch einen Nebenschauplatz. Seit Fernando Távoras Plan für das Barredo-Quartier (1969), am intensivsten aber in den neunziger Jahren, habenpunktuelle Eingriffe die Wohnbedingungen verbessert - erfreulicherweise ohne dass die ansässige Bevölkerung dadurch vertrieben worden wäre. Dazwischen liegen die Nelkenrevolution (1974), die Verlagerung der Machtbefugnisse auf lokale Ebene (was die Planung belebte, aber auch kontroverser machte); und 1996 die Aufnahme des innerhalb der «Muralhas Fernandinas» liegenden Stadtkerns in den Katalog des Weltkulturerbes. Nicht dass der Fall damit erledigt wäre: Die alte Bausubstanz wird auch weiterhin vieler Interventionen bedürfen. Eines der jüngsten Beispiele: Viela do Anjo, ein winziger neuer Platz im Häusergewirr nördlich der Sé, der Kathedrale.

Das Rezept kann statt Auflockerung allerdings auch Verdichtung heissen. Das Paradebeispiel dafür ist Alvaro Sizas Projekt für die AvenidaD. Afonso Henriques, kurz Avenida da Ponte genannt, da es sich um die Verbindung der Dom- Luís-Brücke mit der zentralen Praça da Liberdade handelt. Hier begann die Salazar-Diktatur Ende der dreissiger Jahre mehrere Häuserblöcke abzureissen. Zweck der Übung: die Sé aus dem Gewebe der Altstadthäuser herauszulösen und alsfrei über der Stadt thronendes Gebäude zur Geltung zu bringen. Das Ergebnis war eine unansehnliche Wunde mit einigem Verkehr, die die Sé nach heutigem Verständnis nicht unbedingt attraktiver machte. Dutzende von Studien hatten sich seit dem Bau der Brücke (1886) mit diesem schwierigen Stadtraum befasst. Siza schlug 1968 vor, den Blockrand auf der felsigen Westseite der Avenida zu vervollständigen, ein Projekt, das die Fernansicht des Tempels nicht beeinträchtigt hätte. Sein neuer, umstrittener Entwurf sieht hingegen die Erhaltung der Granitfelsen und die Überbauung der Ostseite vor, um die Kathedrale wieder in einen urbanen Kontext einzubinden. In den Worten des Architekten: «Ihr ihren bescheidenen, nicht mehr triumphalen Platz im Stadtgewebe zurückzugeben.» Ein der Aussichtsterrasse vorgelagerter Turmbau von Fernando Távora weist bereits in dieselbe Richtung. Sizas Masterplan sieht zwar auch einige Wohnungen vor, aber die drei grössten der neun sehr verschieden dimensionierten Baukörper sind einem Stadtmuseum vorbehalten. Auf dem Papier ist dieses Museu da Cidade grösser als Sizas auch schon generös dimensioniertes, 1999 eröffnetes Serralves-Museum. Es ist anzunehmen, dass dieses Nutzungsmuster noch modifiziert wird; kann es doch nicht darum gehen, die eine Monumentalität durch eine andere zu ersetzen.

«Regresso à Baixa»

Den Auftrag zum Projekt Avenida da Ponte erteilte das gemischtwirtschaftliche, von Brüssel und Lissabon finanzierte Konsortium Porto 2001 SA. Der im Hinblick auf das für Porto kapitale Jahr in Gang gesetzte Erneuerungsprozess war jedoch keineswegs auf die Altstadt beschränkt. Unter dem Stichwort «Regresso à Baixa» - zurück ins Zentrum - organisierte Porto 2001 eine Reihe von Wettbewerben, die das angrenzende «bürgerliche» Stadtzentrum betrafen. Anders als die Altstadt, der der Tourismus und das Nachtleben einen gewissen Rückhalt verleihen, war das namentlich nachts eine zunehmend desolate Gegend. Zwar liegen hier mehrere grandiose, jetzt renovierte Theater wie das «Coliseu», das «Rivoli», das «S. João» und das «Carlos Alberto»; andere Marksteine der portuensischen Moderne wie das Café A Brasileira und das Kino Batalha waren jedoch lange dem Zerfall preisgegeben, das Viertel hinter dem Bahnhof São Bento ist durch die Prostitution stigmatisiert. Wegen der mangelnden Sicherheit wollte kaum jemand mehr hier leben.

Das fragliche Gebiet wurde in zwei westlich und zwei östlich der zentralen Avenida dos Aliados liegende Zonen eingeteilt. Im Februar 1999wurden für jede dieser vier Zonen vier Architekten zu einem Ideenwettbewerb eingeladen. Die Gewinner waren nicht nur für die Neugestaltung des öffentlichen Raums verantwortlich, sie hatten zugleich auch die Tiefbauarbeiten zu koordinieren. Ging es hier doch um mehr als Maquillage:Die Kanalisation und andere Infrastrukturen wurden vollständig erneuert, das ganze Viertel verkabelt und mehrere unterirdische Parkhäuser gebaut. Nuno Grande, Chefurbanist bei Porto 2001,räumt ein, dass Parkhäuser heute als eher antiquiertes Konzept anmuten. «Aber wie soll manneue Bewohner anlocken, wenn man ihnen keinen Parkplatz anbieten kann? Von seiner Topographie her ist Porto nun einmal keine Fahrradstadt. Dafür ist auch ein kleiner Strassenbahnringgeplant, der die kulturellen Wahrzeichen vom Coliseu bis zum Museu Soares do Reis verbindet.»

Binnen knapp dreier Jahre sind Portos vier zentrale Hauptplätze vollständig erneuert worden. Der grösste von ihnen ist die Cordoaria, eineenorme dreieckige Esplanade, die Camilo Cortesão durch Reihen paralleler, versenkter Lichtbahnen neu strukturiert hat. Mit der Installation einer Skulptur des unlängst verstorbenen Juan Muñoz werden die Arbeiten demnächst abgeschlossen. Auch in den drei andern Zonen steht je eine Platzanlage im Mittelpunkt der Planung. Zur Praça de Carlos Alberto (Entwurf: Virgínio Moutinho) kommt ein ganzes Netzwerk von Strassen hinzu, so namentlich die kurze, aber imposante Rua de Ceuta: eine in den fünfziger Jahren gelegte Schneise, deren radikal rationalistische Bauten an kühler Urbanität noch übertroffen werden durch ein bereits 1932 projektiertes Parkhaus - Garagem do Comércio -, das die Perspektive wie ein Theater der Motorisierung abschliesst. Je länger man Porto durchstreift, desto mehr stauntman über seinen Reichtum an erstrangigen Bauten auch aus den Jahren des Estado Novo.

Ein faszinierendes Beispiel von Stadtentwicklung bietet auch die Rua Sá de Bandeira. Als städtischer Korridor der Jahrhundertwende anhebend, schwingt sie sich in ihrem Mittelteil zu Portos Broadway auf, um sich erst um 1960, da aberschon in völliger Dissonanz und moderner Auflösung, endgültig Bahn zu brechen: dieses kachelwandige Kirchlein vor dem zehnstöckigen Rundbau eines andern Parkhauses . . . Wie die parallel verlaufende Hauptgeschäftsstrasse Santa Catarina und wie überhaupt ein Grossteil der Baixa-Strassen ist Sá de Bandeira neu gestaltet worden: mit breiteren Bürgersteigen, modernerem Mobiliar. Verantwortlicher Architekt für diese nach der Praça D. João I benannte Zone war Alexandre Alves Costa. - Schliesslich Batalha, der Platz mit dem gleichnamigen, 1947 von Artur Andrade vollendeten Kino, das demnächst restauriert werden soll. Kurz vor dem Abschluss steht der von Adalberto Dias projektierte Umbau des Platzes; die neue Treppenanlage zur Kirche Santo Ildefonso wurde vom Altmeister Távora entworfen.

Für diesen enormen, in sehr kurzer Zeit erbrachten Effort gibt es laut Nuno Grande einVorbild. «In Barcelona wurde die Idee, die Renovation des öffentlichen Raums dynamisiere auchdie privaten Bereiche, zuerst und am konsequentesten verwirklicht. Auch Lissabon hat anlässlich der Expo 98 in seinen östlichen Stadtteilen einen Versuch in dieser Richtung unternommen. Was wir hier aber ausserdem anstreben, ist der Bilbao- Effekt, der Effekt Guggenheim, und zwar in Gestalt der Casa da Música.»

Rem Koolhaas im Service public

Die Casa da Música, so veranschaulicht es Nuno Grande, ist gleichsam «ein Meteorit, der an der Avenida Boavista einschlägt und einen grossen Raum freilegt». Das Projekt übernimmt so nebenbei auch die Funktion des öffentlichen Raums, die die angrenzende Rotonde (Praça Mouzinho de Albuquerque) trotz ihrer Grösse nur ungenügend erfüllt. Hauptsache ist aber natürlich der Meteorit selbst. Rem Koolhaas ging aus einem sehr kurzfristig anberaumten Wettbewerb als Sieger hervor, und sein Entwurf ist denn auch - «unsere Mitarbeiter konnten es selbst kaum fassen, dass wir so zynisch sind», soll er gesagt haben - nichts anderes als die aufgepumpte Version eines für Rotterdam geplanten Einfamilienhauses: ein auskragender Polyeder mit einigen grossen Glasflächen. Die «Schuhschachtel» im Innern des weissen, an die Ästhetik der unsichtbaren Stealth-Bomber erinnernden geometrischen Körpers war ursprünglich ein Wohnraum und ist nun der grössere der beiden Konzertsäle. «Ein seltsamer, sicher Polemiken hervorrufender Bau, mit einer nie gesehenen Axionometrie, konstruktiv knifflig», wie Nuno Grande anmerkt. Das Programm geht weit über das eines traditionellenKonzerthauses hinaus. Da wird es Musikgeschäfte und Buchhandlungen geben, Mediatheken undÜbungsräume für Bands, Studios, eine Musikschule, das Dachrestaurant: Es soll fast rund umdie Uhr etwas laufen. «Ein thematisches Gebäude, Gehrys Rockpalast in Seattle nicht unverwandt, wobei in Europa natürlich die Idee des Service public dazukommt: Man soll die Casa da Música wie sein eigenes Haus benützen können.»

Die Zufallsentwicklungen, nach denen Porto sich seit dem späten 18. Jahrhundert ausdehnte, hinterliessen einen über weite Strecken eher locker bebauten, aus quasi autonomen und oft gegensätzlichen Clusters (man spricht von «ilhas», Inseln) bestehenden Stadtraum. Die ältesten, nach Norden verlaufenden Ausfallachsen wurden Anfang des 20. Jahrhundertsmonumentalisiert: Es ist jenes bürgerliche Zentrum, das jetzt neu gestaltet wird. Im Osten, mit dem Fluchtpunkt des Bahnhofs Campanha, sind die proletarischen Viertel konzentriert. Zögerlicher verlief die Entwicklung westwärts, der fünf Kilometer entfernten Atlantikküste entgegen.

Eine virtuelle Prachtstrasse

So blieb auch die einzige grosse urbanistische Geste des 19. Jahrhunderts, die von der Rotonde ausgehende und bei Foz an den Atlantik stossende Avenida Boavista, bis heute eben dies: eine Geste. In ihrer Ausdehnung und Lage im Stadtganzen den Hauptachsen von Madrid und Barcelona, der Castellana und der Diagonal, durchaus ebenbürtig, bringt ihre Architektur - bis auf vereinzelte frühe Prachtvillen - doch weder die Dramatik noch die Ambition, die der 1854 projektierten Strassenanlage innewohnen, zum Ausdruck. Einige neuere Hotel- und Kommerzbauten sind sogar ausgesprochen lamentabel; und nur indirekt, denn es liegt etwas abseits davon, hat jetzt Sizas Serralves-Museum zur Aufwertung dieser Prachtstrasse in spe beigetragen. Die Avenida Boavista ist aber zweifellos die Achse, an der sich Porto in die Zukunft katapultieren kann.

Koolhaas' Polyeder an der Rotonde wird ihren Auftakt bilden, und auch das meerseitige Ende nimmt jetzt Form an: der 50 Hektaren grosse Stadtpark, Parque da Cidade, nach einem Entwurf des katalanischen Architekten Manuel deSolà-Morales. Eine zweite monumentale Rotonde, erhöht geführt, ermöglicht den direkten Zugang vom landeinwärts sich erstreckenden Park zum Strand. Sie ist zugleich das Gelenk, das die Avenida Boavista mit der Küstenstrasse verbindet, die zur Mündung des Douro und von dortdem Flussufer entlang in die zentrale Ribeira zurückführt. Eine neue Strassenbahnlinie wird dieses fünfzehn Kilometer lange U, das irgendeinmalzu einem Circuit geschlossen werden soll, begleiten. Am Douro-Ufer kann das Tram mangels Platz allerdings nur einspurig geführt werden: Die Konvois kreuzen sich an den Haltestellen. Die engen, trotzdem bis heute fast ländlich anmutenden Verhältnisse haben die Planer ausserdemzum Bau einer Passerelle bewogen, die den Fahrverkehr auf einer kurzen Strecke über den Fluss ausweichen lässt: ein so eleganter Schlenker, als hätte er dort schon immer gestanden - genauso wie übrigens die neuen, pavillonartigen Strandcafés. Mehrere Kilometer sind inzwischen zu veritablen Promenaden vor teilweise ärmlichem Hintergrund ausgebaut worden.

Nebeneinander von Gross und Klein

Das mondänste und das verwunschenste Porto prallen hier aufeinander, und genau dieses Nebeneinander von Gross und Klein, von Provinziell und Metropolitan machte schon immer denReiz der Stadt aus. Kein Gesprächspartner versäumt es, auf die «Caminhos del Romantico» hinzuweisen, so bescheiden sie sich neben den andern Projekten von Porto 2001 ausnehmen: einige frisch gepflästerte Wege und neue Strassenlampen zwischen den alten Granitmauern, welchedie einst von englischen Familien gebauten Anwesen hinter dem Jardim do Palácio de Cristal umfassen. Es ist derselbe Granit, der den seit Jahrzehnten geplanten Bau einer U-Bahn erschwert. Die Tücke des teils sehr harten, teilsporösen Gesteins hat sich bei den nun aufgenommenen Bauarbeiten bereits wiederholt erwiesen: Drei Häuser sind seit 1998 eingestürzt. Die Metro wird vom Bahnhof Campanha unterirdisch in die Stadtmitte führen; von dort oberirdisch, auf einem bestehenden Trassee, bis zur Boavista- Rotonde und weiter zum Flughafen. Eine zweite Metrolinie soll das Zentrum über die Dom-Luís- Brücke mit Vila Nova de Gaia verbinden, während der Autoverkehr über eine neue, bereits imBau befindliche Brücke etwas östlich davon geleitet werden wird. Nuno Grande spricht es mit einem Schulterzucken aus: «Ich fürchte, bei dieser Bauorgie wird auch das eine oder andere Kleinod, das anlässlich von Porto 2001 entstanden ist, wieder zerstört werden.»

5. Dezember 2001 Neue Zürcher Zeitung

Monumentale Bauten

Palacios und Guastavino - zwei Ausstellungen in Madrid

Sein Name war Palacios und seine Aufgabe, solche zu bauen: Paläste wie den Círculo de Bellas Artes, wo zurzeit eine Ausstellung belegt, in welch ausserordentlichem Mass der Architekt Antonio Palacios (1874-1945) das Stadtbild Madrids geprägt hat. Drei weitere seiner Hauptwerke stehen in unmittelbarer Umgebung an der Calle de Alcalá, darunter die von dem erst Dreissigjährigen projektierte, 1919 vollendete Madrider Hauptpost: ein mit Kapitellen und Fialen überzuckerter Brocken, der zu Recht «Palacio de Comunicaciones» heisst oder im Volksmund - Trotzki hat das Wort überliefert - «Unsere liebe Frau vom Postwesen». Wozu brauchte Madrid angesichts solcher Bauwerke noch eine Kathedrale? Palacios selbst war das allerdings noch nicht genug, äusserte er sich doch 1940 wie folgt zu seinem Bau: «Die geforderte Durchlässigkeit liess mir keine andere Wahl, als das Gebäude in ein immenses verglastes Leuchtfeuer zu verwandeln; sie vereitelte indessen mein eigentliches, nicht mit kleinlichen Adjektiven, sondern nur mit massiver tektonischer Substantivität zu erreichendes Vorhaben, wie es den grossen Architekten unserer Renaissance vergönnt war», deren Geheimnis er im Übrigen sehr wohl kenne. Immerhin werde, was das Gebäude dadurch an Charakter eingebüsst habe, «durch seinen exzessiven Funktionalismus wettgemacht, diesen neuerdings so gern herumgebotenen Begriff, an dem freilich nichts neu ist als das Wort selbst». - Sein Leben lang weigerte sich Palacios, ein moderner Architekt zu werden. Er bezauberte das Fussvolk, indem er ihm mit seinem Eklektizismus eine Art imperialen Heimatstil vorgaukelte; und er führte damit auch die Eliten hinters Licht, denn diese Heimat war wohl ein Weltreich gewesen, das aber eben seine letzten Kolonien verloren hatte. Kaum jedoch arbeitete er ein wenig nachlässiger oder war zu wenig Geld für die barocke Pracht vorhanden, fand er zeitgemässe und sogar radikale Lösungen. Ein Beispiel dafür sind die neuyorkisch aufeinander getürmten Säle des Círculo de Bellas Artes (1926), mochte er sie dann auch klassizistisch verbrämen. Ein anderes (spätes: 1940) ist der nur einige Schritte davon entfernte Banco Mercantil e Industrial. Und wenn der äusserliche Bombast der Hauptpost inzwischen eher Bauchgrimmen verursacht, so ist doch die räumliche Wirkung der Halle - einer «Music Hall ohne Musik», laut Ramón Gómez de la Serna - mit ihren um die drei Arme laufenden Galerien und Passerellen nach wie vor überwältigend.

Palacios war von 1917 bis 1945 zudem Chefarchitekt der Madrider Metro. Und glücklich die Madrider, die in einem seiner stattlichen Wohnhäuser leben. Angeblich liebäugelt nun auch Madrids Stadtplanungsamt damit, in einen Palacios-Bau umzuziehen: den auf unzähligen Postkarten verewigten Banco Central Hispano. Ein weniger bekanntes Gebäude, das indessen zu seinen Meisterwerken zählt, nimmt jetzt schon die urbanistische Behörde der Comunidad de Madrid auf: das einstige Tagelöhner-Hospital Maudes. Noch besser als in der Ausstellung lässt sich das alles im Katalog verfolgen, der ein veritables Standardwerk zur Madrider Stadtgeschichte ist.

Eine weitere Madrider Ausstellung dieses Herbsts weist einige Parallelen zu Palacios auf, mehr noch aber bildet sie einen spannenden Gegenpol dazu. Auch die Guastavino Fireproof Construction Company hat, wiewohl weniger offensichtlich, eine Stadt geprägt, nämlich New York; zudem annähernd über denselben Zeitraum. Das Werk des 1842 in Valencia geborenen und 1881 in die USA ausgewanderten Gewölbekonstrukteurs Rafael Guastavino führte sein gleichnamiger Sohn (1871-1950) fort; es sind an die tausend Bauten bekannt, an denen die Firma beteiligt war, darunter die NY Telephone Co., die Oyster Bar und andere Teile von Grand Central, die Williamsburg Bridge, die Public Library in Boston, mehrere Gebäude der Columbia University und die Kathedrale St. John the Divine (die jetzt Guastavinos Landsmann Calatrava vollendet). Guastavino Co. war ein Markenzeichen für formal ansprechende Lösungen struktureller Probleme aller Art. Das System beruhte auf der traditionellen katalanischen Technik für Ziegelgewölbe, wie sie Guastavino in Barcelona erlernt, fortentwickelt und dort bereits auf spektakuläre Weise angewandt hatte. Erstaunlich bleibt die Geschmeidigkeit, mit der sie sich an eine ganz andere architektonische Sprache wie die der Art-déco-Lobbys der New Yorker Wolkenkratzer anpassen liess.


[Antonio Palacios, constructor de Madrid. Bis 2. Januar im Círculo de Bellas Artes. Katalog 5900 Ptas. - Guastavino Co. Bis 6. Januar im Museo de América. Katalog 5500 Ptas.]

14. August 2001 Neue Zürcher Zeitung

Benidorm als Modell

Paradoxe Rehabilitierung eines massentouristischen Ungeheuers

Der Name Benidorm steht für Pauschaltourismus, für Sonne und Suff zu Schleuderpreisen und für eine zubetonierte Küste. Den Verächtern dieses Modells unterläuft indessen ein Denkfehler. Denn nirgendwo wird, gemessen an der Besucherzahl, weniger Raum verschwendet, weniger Land verbaut als in dieser Hochhausstadt nördlich von Alicante, die auf fünf Quadratkilometern jährlich vier Millionen Gäste aufnimmt.

Gibt es ein grossartigeres Beispiel für eine vernünftige, vergleichsweise umweltschonende Kanalisierung des Massentourismus als das dicht bebaute Benidorm? Zwar sieht der negative Mythos in Benidorm, wo kaum Regen fällt, ein Beispiel für die aberwitzige Verschleuderung nicht vorhandener Wasserressourcen. Doch weit gefehlt: Erstens werden nur 140 Liter pro Gast und Tag verbraucht (deutlich unter dem europäischen Durchschnitt), und zweitens ist die Stadt im Recycling weltweit führend: 97 Prozent werden als Brauchwasser wiederverwendet. Die Unesco organisiert gelegentlich Studienreisen nach Benidorm. Vor allem aber hat Benidorm einen ganz eigenen Bautypus hervorgebracht. Es sind extrem schlanke und daher um so höher wirkende Türme, von denen in Wirklichkeit nur sechs die 100-Meter-Marke übertreffen. Das höchste Gebäude ist mit 185 Metern (Europarekord für einen Wohnbau) das Hotel Marina Palace. Aber die Höhe ist gar nicht der entscheidende Faktor. Wichtiger ist die geringe Gebäudetiefe: gewöhnlich nicht mehr als neun oder zehn Meter, was reichlich Tageslicht für alle Zimmer sowie eine gute Querbelüftung gewährleistet. Die Rückseite bleibt der Haustechnik, Treppenhäusern und Aufzügen vorbehalten, meerseitig aber prägen ganze Kaskaden von Balkons die Stadt - Wintergärten eigentlich, denn in vielen Fällen macht eine vorgelagerte Glasfront die Heizung überflüssig: Auch im Januar steigt die Temperatur tags meist über 20 Grad.

Visionäre Planung
Es ist also das Hygiene-Modell des freistehenden Blocks, dem Mittelmeerraum im Grunde fremd, das sich in diesen janusgesichtigen Türmen verwirklicht findet. Fast immer gehört ein Swimmingpool dazu - 500 davon soll es in Benidorm geben. Gleichsam das Unterholz dieses Säulenwalds bilden die unzähligen Pizza- und Souvenirtempel. Wenn es auch oft illegale Konstruktionen sind, so haben sie doch den Vorzug, den Strassenraum zu schliessen, städtische Korridore zu bilden. Denn eben die Dichte, die teilweise anarchische Kompaktheit sind es, die den Feriengästen ein Lebensgefühl vermitteln, das sie zu Hause in ihren öden Suburbs vermissen. Wer zur Stadtgeschichte Näheres erfahren möchte, dem wird, nebst allerlei Prospekten, auf dem Planungsamt das Büchlein «Ayuntamiento de Benidorm. Ordenanzas de Construcción. Año 1955» ausgehändigt. Es ist ein Nachdruck jener Bauordnung, die angeblich das Erfolgsgeheimnis birgt. Die Stadt pflegt inzwischen ihren eigenen urbanen, ja urbanistischen Mythos - schon die Schulkinder werden mit einer Broschüre versorgt, die den Titel trägt: «Die Planung unserer Stadt und was wir darüber wissen müssen».

Um 1950 war Benidorm ein Fischerdorf von knapp 3000 Einwohnern, auf einem kleinen, von einem Kastell gekrönten Kap zwischen zwei jungfräulichen Stränden gelegen. Der alte Kern mit seinen engen Gassen bildet bis heute, wenngleich schwindelerregend kommerzialisiert, das Stadtzentrum. Die Strände und das milde, regenarme Klima hatten seit dem 19. Jahrhundert einzelne Touristen angelockt. Aber es war der Chartertourismus, der in den sechziger Jahren ein explosionsartiges Wachstum auslöste. Dass es kontrolliert verlief, ist das Verdienst der Bauordnung von 1955 und der Planungsrichtlinien (Plan general de ordenación urbana) von 1956. Dieser Plan sah freilich noch keine Hochhäuser vor, sondern eine Art Gartenstadt. Erstaunlich bleibt, wie grosszügig der Strassenraster die bebaubare Fläche mit einem Schlag vervielfachte. Den benidormensischen Seefahrern, deren manch einer New York und Schanghai gesehen hatte, schien das einzuleuchten: als hätten sie geahnt, welche Dimensionen ihr Städtchen eines Tages annehmen würde.

1963 wurden alle Höhenbeschränkungen für Neubauten aufgehoben; man setzte bewusst auf Verdichtung. Die Bautätigkeit hält bis heute an, aber der Grundstock wurde in den frühen siebziger Jahren gelegt. Es entstand die Torre Europa mit ihrer auskragenden Spitze, bis heute der schönste Bau der Stadt. Erwähnenswert auch die 1985 vollendete Torre Levante mit ihren 36 Geschossen bei nur 15 Metern Fassadenbreite. An architektonischem Glanz lag aber den Investoren um so weniger, als sie von den Banken und von den Tour Operators, die ihre Häuser füllten, aber die Preise drückten, in die Zange genommen wurden. Zu den Eigentümlichkeiten des lokalen Immobilienhandels gehört daher der Mitbesitz der einstigen Landeigentümer: Für ihre Grundstücke liessen sie sich von den Investoren mit einer bestimmten Anzahl gebauter Apartments (gewöhnlich 20 Prozent) vergüten. Wie sie stammen auch die Investoren überwiegend aus der Region selbst, allenfalls aus Madrid. Bis heute ist keine einzige internationale Hotelkette in Benidorm präsent. Es sind überwiegend Dreisternbetriebe: 35 000, bald über 40 000 Hotelbetten, im Jahresdurchschnitt zu 92 Prozent belegt, dazu kommt ein Mehrfaches an Apartments. Die Einwohnerzahl ist auf 56 000 gestiegen; in Wirklichkeit sind aber heute nie weniger als 110 000 Menschen in der Stadt anwesend. Im Sommer schnellt ihre Zahl auf beinahe eine halbe Million. Benidorm kennt also sehr wohl saisonale Schwankungen. Aber es ist, und das können sonst nur noch die kanarischen Destinationen von sich behaupten, auch im Winter keine Geisterstadt.

Gehen, kaufen, tanzen
Wohlhabendere, feinsinnigere Reisende denken mit Schaudern an diesen Tummelplatz, das sandige Sommergrab für Millionen. Die angeblich die Küste verschandelnden Betonburgen beanspruchen jedoch nicht mehr Raum als eine Luxussiedlung mit Golfplatz für ein paar hundert Privilegierte - und auch deren Behausungen sind ja nicht immer über alle geschmacklichen Zweifel erhaben; und auch sie zieht es gelegentlich in die Stadt. Dann steigen sie in ihre Autos und schimpfen auf das Verkehrschaos, das sie, die Liebhaber eines pseudoländlichen Lebens, in Wirklichkeit selbst verursachen. Die Besucher von Benidorm hingegen kommen mit Charterflügen aus Birmingham oder mit Bussen aus Bilbao, und einmal da, sind sie zu Fuss unterwegs. Man hat ausgerechnet, dass ein Benidorm-Tourist spazierenderweise täglich 14 Kilometer zurücklegt und mehr Zeit auf den Trottoirs als am Strand verbringt. Das ist ebenso gesund wie unterhaltsam. Wem es auf seinem Balkon im 22. Stockwerk langweilig wird, der steigt in den Lift, und schon ist er mittendrin im «Themenpark Stadt». Gewiss, in Erscheinung tritt da nicht la beautiful, wie die Schönen der Welt auf Neuspanisch heissen, sondern eher el lumpen (ein fast vergessener Ausdruck). Aber Benidorms menschliche Fauna beschränkt sich doch auch nicht auf jene britischen Proleten, die sich schon mittags betrunken auf den Trottoirs fläzen und, falls sie wieder auf die Beine kommen, nachts splitternackt und im Gänsemarsch über die Avenida de Cuenca wackeln.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Untergang der spanischen Folklore, die einst Touristen lockte. Von den 16 Flamenco-Tablaos, die es 1973 in der Stadt gab, hat ein einziges überlebt. Wer zwei Wochen Benidorm bucht, will seinem grauen Alltag entfliehen - aber nur, um zwei Wochen lang Friday Night zu feiern, als wäre er bei sich zu Hause. Er muss das allerdings auch hier in bestimmten Unterhaltungsghettos tun, denn die Stadt legt Wert auf Nachtruhe. Sind doch ausser im Hochsommer Rentner (britische, spanische, holländische, aber nur zwei Prozent deutsche) ihre Haupteinnahmequelle. Schon am Nachmittag legen unzählige ältere Pärchen in irgendwelchen Buden zwischen den Wolkenkratzern ein Tänzchen aufs Parkett; und der Abendspaziergang Tausender älterer spanischer Provinzler an der Playa de Poniente ist einfach herzergreifend. Im Übrigen weist die Stadt vermutlich die höchste Rollstuhldichte der Welt auf.

All diese Leute, die da durch Benidorm gehen und rocken und rollen, geben Geld aus; gemessen an ihrer Kaufkraft sogar sehr viel. Wenn Las Vegas die Stadt ist, in der sich Amerikas untere Mittelklasse mit Vorliebe ruiniert, dann kann Benidorm - ebenso wie in Sachen Bauwut und Lichterzauber - als die ärmliche europäische Variante davon gelten. Auf gerade fünf Kilometern Küstenlinie erwirtschaftet es über 6 Prozent der Tourismuseinkünfte eines Landes, das jährlich 70 Millionen Besucher empfängt. Man hat errechnet, dass 0,024 Prozent der spanischen Landfläche genügen würden, um Spaniens Bruttosozialprodukt allein mittels Pauschaltourismus zu generieren. Um aus Olivenöl denselben Reichtum zu schöpfen, würden hingegen 378 Prozent der vorhandenen Fläche benötigt.

«Upbeat to the Leisure City»
Solch kuriose Daten - und eine Unmenge weiterer - enthält ein Buch, das der holländische Architekt Winy Maas und sein Büro MVRDV zusammen mit Professoren und Studenten der Architekturschule Barcelona erarbeitet haben: «Costa Ibérica». Herausgegeben von Actar, dem Shootingstar unter den Architekturverlagen, lässt es an vor Information strotzender Grafik und vor Grafik strotzenden Planspielen (zur Zukunft Benidorms) selbst die von Bruce Mau gestalteten Bücher hinter sich. Es wäre aber doch kaum mehr als ein amüsantes Quodlibet ohne den Essay «Benidorm, Gebrauchsanweisung» des Soziologen José Miguel Iribas. Der Tourismusspezialist Iribas unterscheidet grundsätzlich zwei Systeme: Entweder wird Qualitätsraum an den Meistbietenden verschleudert (Beispiel Mallorca), oder das Territorium wird gezielt in ein Industrieprodukt verwandelt (Beispiel Benidorm). Benidorm ist für ihn eine Zweiliterflasche Coca-Cola, aus der ausser den Snobs einfach alle, auch die Grossmütter, gelegentlich einen Schluck nehmen. Denn der Mehrheit der Touristen, so Iribas, liegt gar nichts am Raum, sondern nur an der intensiven Nutzung der Zeit. Deshalb sind auch künstliche Erlebnisräume, wie man sie jetzt ausserhalb der Stadt mit dem Themenpark «Terra Mítica» geschaffen hat, zum Scheitern verurteilt. Terra Mítica kann so wenig mit Benidorm konkurrieren wie Disneyland mit Paris. Was Benidorm jedoch selbst Paris - und allen historischen Ferienzielen - voraus hat: Es ist authentischer. Denn Benidorm ist reine Gegenwart.


[MVRDV: Costa Ibérica. Upbeat to the Leisure City (engl. Ausgabe); Hacia la ciudad del ocio (sp. Ausgabe). Actar, Barcelona, 2000. Ptas. 3600.-.]

15. Juni 2001 Neue Zürcher Zeitung

Unternehmen Prado

Ein „Juwel“ wird neu geschliffen

Der Prado steht vor der tiefgreifendsten Reform seiner fast zweihundertjährigen Geschichte. Während der Architekt Rafael Moneo die bauliche Erweiterung in Angriff nimmt, plant der neue Vorsitzende des Stiftungsrats, Eduardo Serra, die Modernisierung der Verwaltung und ein marktwirtschaftlich orientiertes Finanzierungsmodell.

Eduardo Serra empfängt, Zigarre in der Linken, im Madrider Chefbüro der UBS. Die Schweizer Bankiers haben ihn letzten Herbst auf diesen Posten berufen, kurz nach seiner überraschenden Ernennung zum Präsidenten des Stiftungsrates des Prado-Museums. Serra bewältigt nun beide Aufgaben nebeneinander. Davor hatte er als Verteidigungsminister die Professionalisierung der spanischen Armee in die Wege geleitet. Bloss, was hat die «Mili» mit einer Gemäldesammlung, noch dazu einer so bedeutenden wie dem Prado, zu tun?

«Das müssen Sie schon Präsident Aznar fragen.» Denn es war der Regierungschef persönlich, der in dem parteiunabhängigen Serra den geeigneten Mann sah, um die verkrusteten Strukturen des Museums aufzubrechen und ein neues Verwaltungs- und Finanzierungsmodell durchzusetzen. Welche Qualifikationen bringt der Ex-Verteidigungsminister aber dafür mit, ausser seinem marktwirtschaftlichen Credo und seinen unzweifelhaften, bei Unternehmen wie Peugeot España und dem Mobilfunkkonzern Airtel unter Beweis gestellten Führungsfähigkeiten? «Ich bin, wie ja übrigens auch Präsident Aznar, der Kultur sehr zugetan», äussert er in jenem schulmeisterlichen Tonfall, der nachgerade ein Erkennungszeichen der spanischen Rechten ist. Von Kunst jedoch, fügt er unumwunden hinzu, verstehe er nichts. Sollte denn Kunst etwas mit der Verwaltung eines Museums zu tun haben? Immerhin, erklärt er weiter, gehörte zu seinem Ministerportefeuille die geplante Verlegung des Heeresmuseums - Museo del Ejército (NZZ 12. 2. 00) - von Madrid nach Toledo. Das dadurch frei werdende Gebäude wird nun übrigens, nebst weiteren Dépendancen in der unmittelbaren Umgebung, auch in die Prado-Erweiterungspläne einbezogen.


Chefsache

Dass der Prado einer starken Hand bedurfte, bezweifelte nach den Turbulenzen der vergangenen Jahre im Grunde niemand. Mochte die Anekdote auch noch bemüht werden, als es 1996 letztmals in den Velázquez-Saal hineinregnete: Man kann heute nicht mehr alle Übel darauf zurückführen, dass einst die napoleonischen Truppen das Prado-Dach zu Bleikugeln umgossen. Platzprobleme, Pilzbefall von im Keller deponierten Werken, mangelnde Sicherheitsvorkehren, Gerüchte um angeblich falsche Goyas, mysteriöse Preisexplosionen bei Schenkungen, die von der Steuer absetzbar sind, und ein generell als zu tief erachtetes Aktivitätsniveau: Die Mängelliste ist lang. In konservatorischer Hinsicht ist immerhin die im Vergleich zu andern Museen sehr zurückhaltende Arbeit der Restauratoren hoch zu schätzen. Aber allein zwischen 1991 und 1996 hat der Kunsttempel vier Direktoren verschlissen. Der Kunsthistoriker Fernando Checa, der sich seither auf diesem Posten hält, ist nun durch Serra faktisch entmachtet worden. Als dieser seine Strategie für das Museum den Medien präsentierte, sass der nominelle Direktor nicht etwa neben ihm auf dem Podium, sondern im Publikum.

Der Maler Ramón Gaya, der das Museo del Prado ein «umgekehrtes Irrenhaus» genannt hat - «ein Irrenhaus der Vernunft, der Stille, der Gewissheit» -, bezog sich gewiss nicht auf dessen Verwaltung. Eher meinte er die Sammlung, vielleicht auch die altertümliche, trotz jährlich 1,8 Millionen Besuchern durchaus klassische Museumsstimmung. Nun aber übernimmt die Macht in diesem Irrenhaus der Stille und der Gewissheit ein Mann, der darin schlicht ein «Juwel» sieht - «das Kronjuwel» -, das es schleunigst neu und marktgerecht zu schleifen gilt. «Als Patriot», so Serra, könne er es nicht mehr mit ansehen, wie einige an ihren Sitzen klebende Kustoden das Haus als ihr Privatrevier mit lebenslänglicher staatlicher Vollversorgung betrachteten.

Da kann man nur leer schlucken, denn er hat zweifellos Recht: Die in seinem Auftrag von der Boston Consulting Group erstellte Analyse stellt fest, dass vergleichbare Museen wie der Louvre und das Metropolitan ein Mehrfaches an Öffentlichkeitsarbeit leisten, im Klartext: spektakuläre und besucherintensive Temporärausstellungen ausrichten, wie sie der Prado kaum je geboten hat. Das Budget reicht dafür schlicht nicht aus. Es soll daher bis ins Jahr 2005 verdreifacht werden, auf ungefähr 70 Millionen Franken jährlich, inklusive eines Ankaufsetats von 15 Millionen. Sponsoring, Merchandising und Eintrittsgelder (wobei mittelfristig mit einer Verdoppelung des Eintrittspreises zu rechnen ist) sollen künftig über 30 Millionen Franken jährlich generieren. Auch der Staat wird freilich zur Kasse gebeten: Sein Anteil an der Finanzierung soll zwar von 67 Prozent (europäischer Durchschnitt heute: 62 Prozent) auf 50 Prozent sinken, in absoluten Zahlen wird er sich aber mehr als verdoppeln.

Die Consulting-Firma entwarf, abgesehen von der kategorisch geforderten Umsatzsteigerung - mehr Personal, mehr Besucher, mehr Budget, mehr Aktivitäten -, flüchtig auch verschiedene Szenarien für einen neuen rechtlichen Status des Museums, mit den Extremen «reiner Staatsbetrieb» und «Totalprivatisierung». Empfohlen wird eine öffentlichrechtliche Institution mit Teilautonomie. Völlig neu geregelt wird die interne Verwaltung: Ein Generaldirektor - de facto jetzt Eduardo Serra - fungiert als Schlüsselfigur zwischen der ständigen Aufsichtskommission und dem Stiftungsrat einerseits, andererseits den bislang zwei, neu vier Direktoren: künstlerische Leitung, interne Verwaltung, Drittmittelbeschaffung (englisch «Development») und Öffentlichkeitsarbeit.


Gegenstimmen

Die spanische Öffentlichkeit hat auf die geplante Kommerzialisierung ihres kulturellen Flaggschiffs bisher nicht reagiert. Auch intern ist der Widerstand gering, obwohl künftig zweifellos in einem kompetitiveren Umfeld gearbeitet werden wird. Fast 300 zusätzliche Arbeitsplätze zu den 400 bestehenden wiegen indessen schwerer als die Möglichkeit einiger Entlassungen. Kritische Stimmen lassen sich aber auch sonst kaum vernehmen. Er könnte wohl eine solche sein, meint etwa einer der Ex-Direktoren des Museums, ziehe es jedoch vor, sich nicht öffentlich zu dem Thema zu äussern. Der Kurzangebundene war seinerzeit ironischerweise wegen eines Vergehens entlassen worden, das jetzt im Prado gerade zur Norm werden soll: der kommerziellen Nutzung der Säle für Fremdzwecke.

Die oppositionellen Sozialisten hatten zwar die Form gerügt, in der Serra auf präsidiales Geheiss ernannt worden war; verletzte sie doch gröblich nicht nur das Statut des Stiftungsrats, sondern überhaupt alle demokratischen Spielregeln. Aber da mit Kulturpolitik keine Wähler zu gewinnen sind, begnügte man sich mit einer nachträglichen Entschuldigung der Regierung, ohne an der Tatsache zu rütteln, dass Serra heute eine Stellung einnimmt, die ihm rechtens nicht zusteht. Joaquín Leguina, der Kultursprecher des PSOE, will nun abwarten, bis das seines Erachtens unnötige neue «Prado-Gesetz» vors Parlament kommt, um seine Vorbehalte gegen eine Teilprivatisierung präziser zu formulieren. «Da braucht man sich nichts vorzumachen. Aus reiner Wohltätigkeit engagiert sich kein Grossunternehmen für Kunst. Was zur einen Seite hereinkommt, geht via Steuererleichterungen auf der andern wieder raus.»

Laut Serra steht der Stiftungsrat einmütig hinter seinem Projekt. Möglicherweise beruht dieser Konsens aber darauf, dass über entscheidende Fragen gar nicht abgestimmt wird. Dies versichert jedenfalls ein Mitglied des Stiftungsrats, das - obwohl es sich die Mühe nahm, der NZZ gegenüber schriftlich Stellung zu nehmen - nicht namentlich genannt werden möchte. Ist das der Stand der Meinungsfreiheit im heutigen Spanien? Gerade das «scheinbare» Fehlen einer Opposition im Fall Prado zeige die rigorose Kontrolle über die Medien auf, die Spaniens Rechte erlangt habe. Kein Museum sei je auf so unverschämte Weise von einer Regierung als Propagandainstrument missbraucht worden. Das von Serra verfolgte Modell gehe weit über alles hinaus, was in Sachen Sponsoring bislang an Europas Pinakotheken toleriert worden sei. Private Geldgeber neigen nun einmal zum Spektakulum. Sie können kurzfristige Projekte durchführen, sichern jedoch keine Häuser und erlauben keine langfristigen Planungen.

Natürlich liegt in Spanien das Guggenheim-Beispiel nahe. Auch in Bilbao lässt sich ja der Staat das amerikanische Modell des kulturellen Erlebnisparks einiges kosten. «Ob das Museum seine Sache gut oder schlecht macht, muss», so Serra, «das Publikum entscheiden.» Einschaltquoten also auch für den Prado? Den Kürzern ziehen wird, obwohl man sich in Madrid dann «die besten Fachleute» leisten kann, voraussichtlich die Kunstwissenschaft - und wohl auch jenes Publikum, für das der Prado bisher so etwas wie «ein Irrenhaus der Vernunft, der Stille und der Gewissheit» war.

15. März 2001 Neue Zürcher Zeitung

Architekt, Theoretiker, Bürger

Zum Tod von Ignasi de Solà-Morales

Er hat wenig gebaut, aber als Architekturtheoretiker gehörte er zu den Grossen seiner Zeit. Es ist bezeichnend, dass die beiden bekanntesten Bauten des 1942 in Barcelona geborenen, am Montag in Amsterdam einem Herzinfarkt erlegenen Ignasi de Solà-Morales der kritischen Rekonstruktion zuzurechnen sind - wiewohl jeder auf ganz eigene Weise: der deutsche Pavillon von Mies van der Rohe (1929/1986) und die 1994 abgebrannte und fünf Jahre später wiedereröffnete Barceloneser Oper, das Liceu. Zu Solà-Morales' vielfältigen Betätigungen gehörte auch die Neuordnung historischer Stadtkerne (Tarragona, Marseille). Bedeutender aber war sein Wirken als Architekturhistoriker und -theoretiker, eine Berufung, der er als langjähriger Professor an der Architekturschule Barcelona, als Gast an zahlreichen andern Universitäten und internationalen Symposien lebte.

Sein Essay über die «Schwache Architektur» (1987) gehört heute zur Standardlektüre an amerikanischen Hochschulen. Schon zuvor hatte er sich mit Studien zur architektonischen Typologie (in der Nachfolge Pevsners) sowie über Gaudí, Jujol und weitere Aspekte der katalanischen Architekturgeschichte als rigoroser Denker profiliert. In seinem Hauptwerk, «Diferencias. Topografía de la arquitectura contemporánea» (1995), setzte er sich mit den poststrukturalistischen Theorien seiner Zeitgenossen Deleuze, Vattimo und Eisenman auseinander. Nicht zu unterschätzen ist auch seine Rolle als kultureller Agitator in seiner Heimatstadt und als deren Botschafter im Ausland, wo ihn nun - er war für die Verleihung des in Barcelona initiierten Mies-van-der-Rohe-Preises nach Holland gereist - überraschend der Tod ereilte.

1. Dezember 2000 Neue Zürcher Zeitung

Cool Hispania

Ein Blick auf die junge spanische Architektenszene

Der Titel «Young Spanish Architects» - sollte der eine Reminiszenz an die Young British Artists sein? Die Generation ist annähernd dieselbe, die Architekten der 44 hier vorgestellten Bauten und Projekte wurden alle zwischen 1956 und 1964 geboren. Eine geistige Verwandtschaft mit den YBA ist freilich nicht zu konstatieren, es sei denn, man halte die «mala leche» dafür, die Tücke oder Bösartigkeit, welcher das barcelonesische Architektenteam Ruisánchez & Vendrell bei jeder Bauaufgabe nachzuspüren empfiehlt.

Diesen «hard-core character», der das Bauen namentlich in Suburbia kennzeichnet, verniedlicht der deutsche Übersetzer zum «innersten Wesenskern des Problems». Es ist nicht das erste Architekturbuch, das eine etwas sorgfältigere Lektorierung verdient hätte. David Cohn, ein Amerikaner in Madrid, legt mit seiner Monographie einen Überblick über die neusten Regungen einer Architekturszene vor, die neben der holländischen und der schweizerischen als eine der regsamsten Europas gilt, und dies nicht erst seit gestern.

Die Spur der Lehrmeister, namentlich jene von Alejandro de la Sota und Rafael Moneo, findet sich denn auch in den Projekten der vierzehn hier vorgestellten Büros, von denen nur sechs in den traditionellen Architektur-Hochburgen Madrid und Barcelona, acht aber in der Provinz angesiedelt sind. Die Dezentralisierung von Cool Hispania trägt nun offensichtlich auch architektonische Früchte.


[David Cohn: Young Spanish Architects / Junge spanische Architekten. Birkhäuser-Verlag, Basel 2000. 144 S., Fr. 68.-. ]

5. Juli 2000 Neue Zürcher Zeitung

Ein Komet am Himmel der Baukunst

Zum Tod des spanischen Architekten Enric Miralles

Schnelligkeit war seine hervorstechende Eigenschaft. Wer je sein Atelier in der Altstadt von Barcelona besucht hat - und es war längst zu einer Pilgerstätte für junge Architekten aus aller Welt, zu einem eigentlichen Workshop geworden -, der konnte Enric Miralles' Aufnahme-, Koordinations- und Vermittlungsfähigkeit nur bewundern. Nun ist dieses Architektenleben unerwartet, obwohl sich Miralles unlängst in Houston (Texas) wegen eines Hirntumors in medizinische Behandlung begeben hatte, in seiner Geburtsstadt Barcelona zu Ende gegangen. Spaniens grösstes Architekturtalent seiner Generation ist lediglich fünfundvierzig Jahre alt geworden.

Miralles verdiente sich seine Sporen bis 1984 bei Viaplana und Piñón. Deren Bahnhofplatz Sants, sofort als Ikone eines neuen Urbanismus erkannt, gehört zu den ersten Arbeiten, bei denen Miralles' unverkennbare Handschrift sichtbar wurde. Dann entstanden, bis 1989 in Zusammenarbeit mit seiner ersten Frau Carme Pinós, so innovative Bauten wie die Schule La Llauna in Badalona, die olympische Bogenschiessanlage in Barcelona und das Internat in Morella. Auf dem Friedhof von Igualada, einem seiner lyrischsten und zugleich strengsten Werke aus jener Zeit, wurde Miralles am Dienstag zu Grabe getragen.

In den neunziger Jahren begann sein Stern auch am internationalen Architekturfirmament zu leuchten. Als Dozent in Frankfurt und Barcelona, in Harvard und Columbia spielte Miralles seine Gabe aus, das diffizile Gleichgewicht zwischen Chaos und Ordnung zu halten, das auch seine Architektur kennzeichnet. Es entstanden die grossen Sportpaläste in Alicante und Huesca sowie - als erster Bau ausserhalb Spaniens - ein Bahnhofzugang in Takaoka, Japan. Von den zahlreichen internationalen Wettbewerben, zu denen Miralles nun eingeladen wurde, gewann er jene für das schottische Parlament in Edinburgh und die Architekturschule in Venedig. Die Ausführung dieser Hauptwerke bleibt nun seiner zweiten Frau und Partnerin, der Italienerin Benedetta Tagliabue, überlassen. Am meisten am Herzen lag Miralles in jüngster Zeit aber die Planung für das Quartier, in dem er selbst lebte. Als die Erneuerer der barcelonesischen Altstadt mit ihren Tabula- rasa-Methoden zunehmend auf Kritik stiessen, nahmen sie Zuflucht bei dem renommierten Anwohner, der sich der Sache - insbesondere der Neuplanung des Marktes Santa Caterina - mit der ihm eigenen Energie und dem ihm eigenen Gespür annahm. In Barcelona wird er künftig auch mit seinen Entwürfen für die Urbanisierung Diagonal-Mar sowie - sein erster Wolkenkratzer - dem direkt am Meer liegenden Hauptsitz des spanischen Grossunternehmens Gas Natural präsent sein. Der letzte Bau, dessen Fertigstellung er noch erlebte, ist die Musikschule in Hamburg.

Miralles war ein unermüdlicher Erfinder, dem man mit der Schubladisierung als «Dekonstruktivist» nicht wirklich gerecht wird. Unter seiner Hand gerieten Pläne zu geheimnisvollen Kunstwerken, und seinen Fotocollagen mass er dieselbe Bedeutung bei wie jenen aus Stahl und Beton gebauten Wildbächen, die als seine grossen, aber immer mit einem Augenzwinkern geschaffenen Werke bleiben werden.

21. März 2000 Neue Zürcher Zeitung

Erfundene Systeme

Prouvé und Barba Corsini in Barcelona

Unter dem Titel «Systeme erfinden» stellt das Col·legi d'Arquitectes de Catalunya in Barcelona den «industriellen Systemen» von Jean Prouvé die «emotionalen Systeme» von F. J. Barba Corsini gegenüber. Das Werk des 1916 in Tarragona geborenen Aussenseiters Barba Corsini wurde auch in Spanien lange verkannt. Noch in den neunziger Jahren opferte man seine zauberhaften, zwischen 1953 und 1955 im Dachgeschoss von Gaudís Casa Milà eingerichteten Wohnungen bedenkenlos der Einrichtung eines Gaudí-Museums. Neben den Farbskizzen des Architekten und den Photos von Català-Roca, der das Werk Barba Corsinis in der Zeit seiner Entstehung vorzüglich dokumentierte, sind auch einige der eigens für diese Wohnungen geschaffenen Möbel zu sehen, ausserdem die Entwürfe für andere, erst heute gebührend beachtete Bauten wie das Ferienhaus des Dr. Pérez in Cadaqués und die Unité d'habitation Mitre in Barcelona.

3. Dezember 1999 Neue Zürcher Zeitung

Kabbala und neue Baukunst

Gironas Annäherung an die Vergangenheit

Die Provinzhauptstadt Girona galt einmal als eine «Mutterstadt Israels». Seit im 15. Jahrhundert die Juden vertrieben wurden, versank sie in die Bedeutungslosigkeit. Heute besinnt man sich in der Hochburg des katalanischen Nationalismus des sephardischen Erbes. Gleichzeitig tragen ein städtebauliches Erneuerungsprogramm und die Universität zur Renaissance der Stadt bei.

Auch Städte können gezähmt werden - und dennoch ihre Reize entfalten. 1997 verglich die Tageszeitung «El País» in ihrem Sonntagsmagazin die Lebensqualität in Spaniens 52 Provinzkapitalen. Die Kriterien mochten willkürlich anmuten wie bei solchen Veranstaltungen üblich: vom Pro-Kopf-Einkommen bis zur Anzahl der Bibliotheken, von der Sonnenscheindauer bis zur Suizidrate. Überraschen konnte der Ausgang gleichwohl nicht. Am besten lebt sich's demnach in Girona, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten des Landes, mit ihren gerade mal 70 000 Einwohnern. Und dabei spielten gewisse Standortvorteile Gironas noch gar keine Rolle: Man ist von hier aus ebenso schnell in der Grossstadt Barcelona wie im Languedoc, und die Gipfel der Pyrenäen sind so nah wie die Buchten der Costa Brava (die teilweise weniger lädiert sind als ihr Ruf). Auch dass Gironas historisches Zentrum zu den schönsten des Landes zählt, fiel nicht so sehr ins Gewicht. Vor allem zählte, wie untadelig die Stadt dieses Erbe verwaltet - und sogar ihre Peripherie zu hegen versucht: eine richtige Musterschülerin der noch jungen spanischen Demokratie. Zu artig, zu korkig, zu fad vielleicht?

Zum eigentlichen Kleinod der Altstadt entwickelte sich in den letzten Jahren das einstige, El Call genannte jüdische Viertel. Sein wichtigster Strassenzug, der Carrer de la Força, gehörte als Teilstück der Via Augusta schon zum römischen Cardo. Spätestens seit dem 10. Jahrhundert siedelte sich hier eine jüdische Gemeinschaft an, mit einer eigenen, Aljama genannten Verwaltung. Die christliche Bevölkerungsmehrheit unterhielt zu ihr rege, aber nicht durchweg von Toleranz gekennzeichnete Beziehungen. Allein aus der Zeit zwischen 1276 und 1418 sind acht Pogrome belegt.

Aus Girona stammten bedeutende Vertreter der im 12. Jahrhundert in der West-Provence entstandenen kabbalistischen Schule: Ionà ben Abraham, Azriel, Nissim Reuben Gerondí und Messulam ben Selomó. Die repräsentativste Figur unter diesen Philosophen war Nahmanides (1194-1270), Autor des «Torat Ha'Adam», eines der einflussreichsten Werke der jüdischen Mystik. In den finsteren Gassen Gironas fand die Kabbala ihre klassische Ausprägung und strahlte von hier aus in die ganze hebräische Welt aus. Als die Reyes Católicos 1492 die Ausweisung aller Israeliten aus ihrem Herrschaftsgebiet dekretierten, bedeutete dies auch das Ende des jüdischen Girona, das im 13. Jahrhundert als «Mutterstadt Israels» bekannt gewesen war. Die Stadt selbst versank in Bedeutungslosigkeit.

Seit einigen Jahren versucht nun eine von den lokalen Verwaltungen getragene, zum Teil mit amerikanischen Geldern finanzierte Stiftung, das verlorene Erbe der Sephardim in Girona wieder lebendig werden zu lassen. In architektonischer Hinsicht ist das freilich ein trügerisches Unterfangen. Nicht nur weil es keine eigentlich hebräische Bauweise gab; es bleiben auch weder Spuren der drei Synagogen und der Aljama, noch hat sich die mittelalterliche Bausubstanz des Carrer de la Força und seiner engen, steilen, teilweise erst in jüngster Zeit wieder öffentlich zugänglich gemachten Seitengassen erhalten. In einer davon wurde 1990 das «Centre Bonastruc ça Porta» - dies der katalanische Name des grossen Nahmanides - eröffnet. Bittere Ironie, dass als Baujahr für die ältesten Teile dieses Gebäudekomplexes just 1492, das Jahr des Exodus, genannt wird. Hier soll sich die letzte Synagoge befunden haben. Nun ist der Umbau dieser Räume zum jüdischen Studienzentrum (mit Ausstellungssälen, Bibliothek und Boutique) teils bereits abgeschlossen, teils noch in Planung.

Das bauliche Ensemble mit seinen dezent bepflanzten Patios und seinen verschachtelten Kellergewölben vermittelt zumindest eine Ahnung davon, was Gironas abweisende Mauern bergen - und bargen. Und die «Wiedereinsetzung der jüdischen Vergangenheit» (im Grunde drückt es die linkische Übersetzung einer Informationsbroschüre trefflich aus) ist insofern nicht ganz illusorisch, als nun Ausstellungen, Konzerte und Vorträge den Besuchern die untergegangene Welt des katalanischen Judentums vergegenwärtigen.

Für Girona, das seit dem Ende der Franco-Zeit kontinuierlich an sich gearbeitet hat, ist dieses Reimplantat nur eine Facette einer umfassenden Regenerierung. Die Region gehört zu den Hochburgen des katalanischen Nationalismus; es ist jedoch ein sozialistischer Politiker, der neulich zum fünftenmal wiedergewählte Joaquim Nadal, der seit über zwanzig Jahren als Alcalde die Geschicke der Stadt leitet. Auf symbolischer Ebene mochte nichts besser den Willen zum Wandel zu veranschaulichen als Nadals sanfte Aufforderung zum zivilen Ungehorsam, als er, seiner zaudernden Bürgerschaft zum Vorbild, eigenhändig das Kennzeichen seines Dienstwagens von GE zu GI abänderte - vom spanischen Gerona zum katalanischen Girona, mit jenem stimmhaften G, das zugleich eine neue Sanftheit im Umgang mit der gebauten Umgebung anzukündigen schien.

Einschneidender sind seine urbanistischen Taten. Nadal liess alte Kasernen schleifen und statt ihrer Parks anlegen. Die weitgehend intakte Stadtmauer wurde zu einer Promenade ausgebaut. Die direkt an den Onyar, einen der vier die Stadt durch- bzw. umfliessenden Flüsse, stossenden Altstadtfassaden wurden postkartengerecht renoviert. In der Neustadt am gegenüberliegenden Ufer, deren Katalog lokaler Architekturmoden der letzten 150 Jahre sich durchaus auch sehen lassen kann, zog sich die Gestaltung eines Terrain vague zu einer weitläufigen neuen Platzanlage über zehn Jahre hin. Heute fügen sich die mit geometrischen Folies übersäten Betonfalzen der barcelonesischen Architekten Elias Torres und Antonio Martínez Lapeña, sosehr die konservative Bevölkerung gegen dieses Wagestück aufbegehrte, und trotz einigen offensichtlich missglückten Details, als Plaça de la Constitució selbstverständlich ins Stadtganze.

Unweit davon haben zwei andere Barcelonesen, Esteve Bonell und Josep Gil, eines der wenigen herausragenden Einzelbauwerke Gironas geschaffen: den Gerichtshof, der als L-förmiger Solitär einen ganzen Stadtteil strukturiert und trotz seinen unterschiedlich gestalteten Fassaden als kompositorische Einheit erscheint. Dieselben Architekten konnten etwas ausserhalb des Zentrums auch eine neue Sporthalle bauen, übrigens bei weitem nicht die einzige in Girona. Jeder vierte Gironí ist Mitglied des lokalen Gym-Klubs Geieg. Zu den erwähnenswerten Neubauten gehört ferner die Sprachschule von Víctor Rahola sowie ein dieses Jahr mit dem wichtigsten katalanischen Architekturpreis, dem «Premis FAD», ausgezeichnetes Wohnhaus von Arcadi Pla.

Vom Lokalmatador Pla stammt auch der Masterplan für den Campus im Süden Gironas. Für die erst 1991 gegründete Universität, an der heute 11 000 Studenten eingeschrieben sind, ist indessen kein Gebäude emblematischer als das einstige Dominikanerkloster in der Altstadt, wo die literarische Fakultät untergebracht wurde. Die neue Gelehrsamkeit hat vielleicht mehr als sämtliche urbanistischen Eingriffe zur Verjüngung der Stadt beigetragen. All die adrett hergerichteten Bars und Boutiquen, die heute ihre Strassen säumen, hätten sonst gar kein Publikum. Natürlich fehlt es nicht an Leuten, die das alles ein bisschen spiessig finden. Aber was war denn vorher? Eine zerbröckelnde Altstadt und rundherum die franquistischen Blöcke für südspanische Emigranten. Dort, in den Randzonen der Stadt, haben sich inzwischen neue, vorwiegend aus Nordafrika stammende Einwanderer angesiedelt.

3. Dezember 1999 Neue Zürcher Zeitung

Museumsprojekte

Nouvel und Moneo in Madrid

Das spanische Nationalmuseum für Kunst des 20. Jahrhunderts, das Centro de Arte Reina Sofía in Madrid, wird nach einem Entwurf von Jean Nouvel erweitert. Der Franzose setzte sich gegen sechs spanische und fünf ausländische Mitbewerber durch. Auf der Rückseite des Kunstzentrums - eines ehemaligen Spitals, über dessen architektonische Qualität sich Nouvel nicht äussern mochte - sieht er drei kleinere Neubauten vor. Sie nehmen einen Ausstellungs- sowie einen Konzertsaal, die Bibliothek, ein Restaurant und Büros auf. Das um einen Patio mit neuem Eingang gruppierte Ensemble wird vom grossen Dreieck einer vorkragenden, teilweise perforierten Decke zusammengehalten: formal wie auch in den Materialien eine dem Luzerner Kultur- und Kongresszentrum verwandte Lösung. Nouvel geht es darum, «ein Stück Stadt zu fabrizieren», ein Kleinquartier im Schatten des Altbaus, teils gedeckt, teils unter offenem Himmel - in der Hoffnung, Alt und Neu möchten sich gegenseitig aufwerten.

Während rund um das Reina Sofía eitel Freude herrscht, sind über den Ausbauplänen für den nahen Prado erneut dunkle Wolken aufgezogen. Nachdem 1996 der erste Preis des offenen Wettbewerbs für verwaist erklärt worden war, mied man in der nachfolgenden Barrage alle Risiken und legte das Vorhaben in die Hände einer Koryphäe der spanischen Baukunst: Rafael Moneo. Dessen im Herbst präsentiertes definitives Projekt und insbesondere der kubische Neubau um die isabellinische Kreuzgangruine San Jerónimo sind nun aber unter heftigen Beschuss geraten. Allzu willfährig hat sich Moneo an die Vorgaben der Patronatskommission gehalten, durch die nach Ansicht vieler Architekten die Prado-Erweiterung in die falsche Richtung gelenkt wird.

Besucher sind immer wieder irritiert über die Lage des heutigen Haupteingangs, der infolge der im 19. Jahrhundert vorgenommenen Planierungen in sieben Metern Höhe zu schweben scheint. Unbegreiflicherweise gilt nun gerade die durch diesen Eingriff entstellte Nordfassade mit der plumpen, von 1943 stammende Treppenanlage als unantastbar. So wird nicht nur die Wiederherstellung der ursprünglich sanft von den Jerónimos zum Paseo del Prado abfallenden Topographie verhindert, sondern auch das natürliche Wachstum des Museums nach Norden. Moneo liess sich eine Lösung aufzwingen, in der viele den Meisterarchitekten kaum wiedererkennen. Im unerwarteten Hagel der Kritik hat er inzwischen an seinem San-Jerónimo-Kubus einige Retuschen angebracht. Die endgültige Entscheidung darüber, wie der Prado des 21. Jahrhunderts aussehen wird, fällt aber voraussichtlich erst nach den im Frühling fälligen spanischen Wahlen. Dem Museum wäre es zu gönnen, wenn man nach einem allfälligen Regierungswechsel ein weiteres Mal mit der Planung von vorn anfinge.

3. November 1999 Neue Zürcher Zeitung

Picasso in den Palästen

Erweiterung des meistbesuchten Museums von Barcelona

Kunst frisst sich durch die Altstadt, entkernt sie und legt äusserlich unsichtbare Schneisen in das Dickicht. Barcelonas 1963 gegründetes Museu Picasso, das jährlich über eine Million Besucher anzieht, war ursprünglich in zwei, seit 1986 in drei mittelalterlichen Palästen untergebracht; nach der jüngsten Erweiterung nimmt es nun deren fünf ein. Ende Oktober wurden die neuen Säle für temporäre Ausstellungen eröffnet. Bis ins Jahr 2004 soll auch das Labyrinth der Sammlungssäle entwirrt sein, und auf der Rückseite der Palastreihe am Carrer Montcada wird sich ein Skulpturengarten anschliessen. Man begreift, dass der «Faktor Picasso» bei der Vermarktung der Stadt nicht zu vernachlässigen ist; ebenso, dass sich zur Bewältigung der Touristenströme ein «respektvoller», aber nicht gerade der sanfteste Umgang mit der vorhandenen, bis ins 13. Jahrhundert zurückreichenden Bausubstanz empfahl.

Seit 1978 ist Jordi Garcés, ein Star der katalanischen Architekturszene, für den Um- und Ausbau des Museums verantwortlich. Mit seinem jüngsten Eingriff wird nun die streng axiale Ordnung deutlich, die seinem Konzept zugrunde liegt. Im Erdgeschoss, hinter den zurückversetzten Eingangspatios, verbindet eine durchgehende Passage die fünf Paläste. Ergänzt durch eine rechtwinklig dazu ins Innere abzweigenden Achse, soll das frei zugängliche Parterre die urbanistische Einbindung in das Altstadtquartier gewährleisten. Die Längsachse wird sich dereinst auch in den Obergeschossen durch den Gebäudekomplex ziehen. Während die in Sichtbeton belassenen Zugangsbereiche eine «unverhohlene Vision» der Architektur bieten und mit den mittelalterlichen Gewölben bisweilen knochenharte Verbindungen eingehen, bleiben die weissen Ausstellungssäle mit ihren Marmorfliesen einer herkömmlicheren Noblesse verpflichtet. Fassadenseitig musste der jeglichem Historizismus abholde Garcés auf seinen Plan, die Balkone einfach abzusägen, verzichten; Fensterverkleidungen aus Irokoholz, die schmale vertikale Fensterbänder offenlassen, sind indessen ein weiteres Beispiel für seinen unsentimentalen Umgang mit dem Bauerbe. Der künftige Skulpturengarten wird schliesslich mit aller Hinterhofromantik und anderen geschichtlichen Ablagerungen aufräumen.

Dass in Barcelona eine in der architektonischen Sprache und der rigoros rationalistischen Ordnung derart kompromisslose, ebenso minimale wie tiefgreifende Intervention praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit vonstatten geht, stellt der katalanischen Zivilgesellschaft nicht unbedingt ein gutes Zeugnis aus. In seiner Kühnheit wäre der Eingriff unter anderen Voraussetzungen freilich wohl gar nicht möglich gewesen.

Die Politiker sind sich einig, dass nun auch die seit längerem kaum mehr erweiterte Sammlung des Museums neuer Impulse bedarf. Unübertroffen bezüglich des Frühwerks von Picasso, sind die Bestände für die späteren Schaffensperioden des Künstlers - bis auf einzelne Höhepunkte wie die Serie der «Meninas» - weiterhin lückenhaft. Ankäufe kann sich die Stadt als Eigentümerin des Museums bei den heutigen Preisen jedoch kaum leisten, und der spanische Staat pflegt seine neu erworbenen Picassos durchweg in Madrid zu placieren. Einen Begriff davon, was das Haus aus eigenen Beständen beibringen kann und wo es auf Leihgaben angewiesen ist, bietet die erste Ausstellung in den neuen Sälen. «Picasso: Interieurs und Exterieurs» zeigt hervorragende Beispiele aus dem Schaffen des Anti-Paysagisten, der einmal sagte, er berge in seinem Inneren Landschaften, wie sie ihm die Natur niemals so schön bieten könnte.


[ Die Ausstellung «Picasso: Paisatge interior i exterior» dauert noch bis zum 30. Januar 2000. Der Katalog kostet 4995 Peseten. ]

16. September 1999 Neue Zürcher Zeitung

Zauberberg bei Santiago

Peter Eisenmans «Cidade da Cultura»

Vor zwei Jahren machte Frank O. Gehry in Bilbao mit dem Guggenheim Museum Furore. Man hat ausgerechnet, dass allein die Gratispublizität in den Weltmedien, die der baskischen Stadt dadurch zuteil wurde, den anderthalbfachen Wert der Baukosten erreichte. Nun setzt Spaniens nordwestliche Region Galicien zu einem ähnlichen Coup an. Die Protagonisten heissen diesmal Peter Eisenman, Santiago de Compostela und «Cidade da Cultura». Geplant ist ein 180-Millionen-Franken-Komplex aus Museen, Bibliotheken und Konzertsälen, wie er freilich gerade Santiago zuletzt not tut. Die Pilgerstadt hat nicht nur zu ihrem reichen baulichen Erbe gut Sorge getragen; sie wurde in jüngster Zeit auch mit neuen kulturellen Infrastrukturen - so dem Centro Galego de Arte Contemporánea von keinem geringeren als Alvaro Siza - reich bestückt.

Mit der voraussichtlich im Jahr 2003 fertiggestellten Kulturfabrik scheint sich der altgediente galicische Regionalpräsident Manuel Fraga selbst ein Denkmal setzen zu wollen. Fraga, einst Informationsminister Francos, dann Gründer des heute regierenden Partido Popular, ist Spaniens unverwüstlichster Politiker. Er präsidierte persönlich die Jury, die Eisenmans Entwurf den Vorzug gab. Unter den Geschlagenen: Steven Holl, Daniel Libeskind, Juan Navarro Baldeweg, Manuel Gallego, Annette Gigon und Mike Guyer sowie Rem Kohlhaas. - Eisenman hat, wie ausser ihm sonst nur noch die beiden Franzosen Jean Nouvel und Dominique Perrault, die topographischen Voraussetzungen zum eigentlichen Thema seines Entwurfs gemacht. In den zwischen der Altstadt und der Autopista del Atlántico gelegenen Monte de las Gaias legt er Schnitte, die mit einigem guten Willen an das Symbol Santiagos, nämlich an die Rillen der Jakobsmuschel erinnern. Die Bauten um die in die Hügelkuppe gekerbten Gassen bilden die bestehende, wundersamerweise bis heute unversehrte Landschaft nach oder wandeln sie ab. Während die Mehrzahl der andern Wettbewerbsteilnehmer unerschrocken mehr oder weniger voluminöse Kontrapunkte gegen die Altstadtsilhouette setzten, sah Perraults Vorschlag vor, den Berg auszuhöhlen, um die Kulturstadt ganz im Boden zu versenken und über Spiegel mit Tageslicht zu versorgen. Dagegen mutet Eisenmans Lösung ebenso kühn wie behutsam an - vermutlich der intelligenteste der elf Entwürfe. Einen galicischen «Zauberberg» erahnt das Jurymitglied Kurt Forster darin. Auf die Ausführung darf man gespannt sein.

3. April 1999 Neue Zürcher Zeitung

Weiterbauen, in Gaudis und in Gottes Namen

Der Architekt Gaudí soll jetzt seliggesprochen werden.

Der Architekt Gaudí soll jetzt seliggesprochen werden. Die positio – der Nachweis seiner einwandfreien Lebensführung und Wundertätigkeit – wird dem Vatikan demnächst zugestellt. Ist dieses Prozedere einmal überstanden, rückt auch die Heiligsprechung in den Bereich des Möglichen. Sankt Antoni Gaudí wäre der erste Baukünstler überhaupt, der kanonisiert wird. Jene, die seine Beatifikation betreiben, nennen ihn den «Architekten Gottes». Welche Wunder er denn gewirkt habe? «Nun», scherzt der Leiter des Gaudí-Lehrstuhls in Barcelona, Joan Bassegoda, «sind nicht einige seiner Bauten wundersam genug?»

Der Sühnetempel der Sagrada Familia freilich, mit dessen Planung der Visionär sich 43 Jahre lang beschäftigte, gilt Gaudí-Kennern als eher zweitrangiges Werk – ganz abgesehen vom Weiterbau, den viele für einen Stumpfsinn halten. Der katalanische Architekt hatte hier das Unmögliche angestrebt: ein allumfassendes Bauwerk, das Gotteshaus schlechthin – Mischung aus einer fünfschiffigen gotischen Basilika und einem Zentralbau –, wobei jedes Element, von den Türmen und Gewölben bis zum geringfügigsten ornamentalen Detail, mit christlicher Symbolik geladen und im Hinblick auf die liturgischen Abläufe durchdacht war.

Indessen hatte Gaudí den Bau gar nicht selbst begonnen. Bis heute ist nicht ganz geklärt, unter welchen Umständen er, erst 31jährig, 1883 an die Sagrada Familia berufen wurde und inwieweit ihn das neogotische Projekt seines Vorgängers Villar in seiner planerischen Freiheit einschränkte. Bis zu seinem Tod 1926 vermochte er lediglich die noch von Villar entworfene Krypta, die Apsis, einen kleinen Abschnitt des um den ganzen Tempel herumführenden Kreuzgangs sowie die Geburt-Christi-Fassade auszuführen; deren vier wabenartige Glockentürme mit ihren Fialen aus glasierten Kacheln und venezianischem Glas vollendete sein erster Nachfolger Sugrañes.

Der Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs unterbrach 1936 die Bauarbeiten, und die Zerstörung der Bauhütte mit Gaudís Plänen und Modellen schien den Weiterbau auf alle Zeiten zu vereiteln. Dennoch wuchsen zwischen 1954 und 1977 die nächsten vier Türme heran, die der Passionsfassade. Dann wurden die Fundamente für das Langhaus gelegt. 1996 waren die Seitenschiffe mit den Emp

26. März 1999 Neue Zürcher Zeitung

Monolog eines Supertankers

„L'Auditori“ - Rafael Moneos Konzerthaus in Barcelona

Nur sechs Monate vor der Wiedereröffnung des Liceu, des im Januar 1994 abgebrannten Opernhauses, weiht Barcelona ein anderes, neues Zentrum des Musiklebens ein: «L'Auditori». Äusserlich ein in seiner Schroffheit kühner Container, birgt das vom spanischen Meisterarchitekten Rafael Moneo realisierte Auditorium einen der wohl schönsten Konzertsäle Europas.

Der längliche, über zwei Blöcke des Cerdà- Strassenrasters sich hinziehende Baukörper wirkt abweisend, autistisch. Die rigorose Betonstruktur, ausgefacht mit Corten-Stahlpaneelen und von spärlichen Fensteröffnungen durchbrochen, gibt lediglich durch eine unprätentiöse Betonmarkise an einer der Längsseiten zu erkennen, dass es sich um ein öffentliches Gebäude handelt. Der spanische Meisterarchitekt Rafael Moneo hat sich für einen Monolog entschieden. Wenn er mit seinem Auditorium auf etwas Bezug nimmt, dann auf die Industrieruinen in der Umgebung, deren herber Ausstrahlung es sich noch am ehesten annähert. Auf Designer-Schikanen kann dieser Baukünstler verzichten. Auch im – glanzvolleren – Innern lässt er ein irritierendes Understatement walten.

L'Auditori steht in der Nähe der Plaça de les Glories, des Schnittpunkts der drei Hauptachsen Barcelonas: Diagonal, Meridiana und Gran Vía. Der Platz ist indessen nie über den Status eines Verkehrsknotenpunkts in einem ausfransenden Stadtteil hinausgekommen. Die jüngste, 1992 abgeschlossene Reform hinterliess ein spektakulär über ein Parkhaus hinwegsetzendes Autobahn- Oval, in dessen Innern sich ein Park verbirgt: eine neuerdings heftig kritisierte Struktur, zumal sie die inzwischen bis ans Meer verlängerte Diagonale optisch unterbricht. Bereits beginnen die Planer sich wieder damit zu beschäftigen. Barcelona kommt urbanistisch nicht zur Ruhe: für seinen Erneuerungselan wurde es soeben vom Royal Institute of British Architects (RIBA) ausgezeichnet – das erste Mal überhaupt, dass eine Stadt und nicht ein einzelner Architekt dessen jährlich verliehene Goldmedaille erhielt.

Glories gehört zu den acht von der postolympischen Stadtplanung als «areas de nova centralitat» ausersehenen Stadtteilen. Neben dem Auditorium erhebt sich das später projektierte, aber früher eröffnete katalanische Nationaltheater (TNC), bei dem Ricardo Bofill einmal mehr seinen Hang zum Neoklassizismus auslebte, ist doch das TNC einem griechischen Tempel nachempfunden. Moneo verglich die beiden gegensätzlichen Nachbarn mit einem Tanker und einer Galeone. Einen Kritiker veranlasste Moneos extrem zurückhaltender Bau indessen zur Bemerkung, der Pritzker-Preisträger sei sich wohl nicht ganz bewusst gewesen, «dass eine dumb box nun einmal nicht mit einer dumb blonde rivalisieren kann».
Der Einwand, Moneo habe dem Bedürfnis der Konzertbesucher nach ein bisschen Glamour nicht Rechnung getragen, wird allerdings durch das Innere des Auditoriums widerlegt. Der grosse, 2340 Zuhörern Platz bietende Konzertsaal stand laut dem Architekten denn auch am Anfang der Planung. Erst danach habe die – zahlreichen weiteren musikalischen Funktionen dienende – Hülle Gestalt angenommen.

Dieser Saal ist ein Meisterwerk. In den Zugängen und Foyers liegt wie aussen die Betonstruktur offen, aber anstelle der Stahlausfachungen bestimmt hier die warme Helligkeit von Holzpaneelen die Stimmung. Es ist kanadischer Ahorn, mit dem im Saal selbst gleicherweise Böden, Wände und Decken verkleidet sind. Diese Einheit des Materials (abgesehen von den mattgrünen, gleichfalls von Moneo entworfenen Sesseln) bringt die Proportionen des rechtwinkligen, von streng ausgeschnittenen Logen flankierten Saals grossartig zur Geltung. Die Bühne, nur leicht erhöht und von den Sitzreihen umfasst, wirkt wie ein Teil des Zuschauerraums. Moneo vermied – hierin von Scharouns Berliner Philharmonie inspiriert – nach Möglichkeit hierarchische Abgrenzungen; am Eröffnungsabend nahm das spanische Königspaar nicht etwa auf der einzigen leicht vorkragenden Loge Platz, sondern weit hinten im zweiten Rang: Monarchen auf dem Flohboden. Die geometrische Präzision lässt den Saal wie ein Instrument erscheinen. Der Balkenraster an der Decke, nach hinten sich verdichtend, dient der Klangverteilung. Für die Akustik war der katalanische Spezialist Higini Arau zuständig.

L'Auditori ist das erste in öffentlichem Auftrag errichtete Konzerthaus Barcelonas. Wie das Liceu, das erst durch seine Zerstörung seinen Vereinsstatus verlor, entstand auch der 1905 vollendete Palau de la Música auf private Initiative. Zu diesem populären Jugendstil-Bau von Lluís Domènech i Montaner bildet Moneos Konzertsaal nun einen Gegenpol, wie er konträrer nicht sein könnte. Dort ein diffuses Klangbild – hier eine elastische, fügsame Akustik. Dort der Entwurf eines «Schwerverbrechers des Ornaments» – l'Auditori hingegen eine Übung in Purismus: nichts lenkt hier vom Hören ab. Und während man sich in Domènechs Bau in einem Sektentempel wähnt, wirkt Moneos Entwurf vor lauter Lauterkeit schon beinahe wieder lau.

L'Auditori soll so etwas wie Barcelonas Cité de la Musique werden. Der Bau verzögerte sich wegen des Finanzierungsunwillens der Behörden um mehrere Jahre; so ist die Struktur bereits renovierungsbedürftig, noch bevor der Innenausbau abgeschlossen ist. Immerhin hat jetzt hier die vom amerikanischen Dirigenten Lawrence Foster geleitete Orquestra Simfònica de Barcelona i Nacional de Catalunya (OBC) endlich ihren festen Sitz gefunden. Gleichzeitig mit dem Sinfoniesaal wurde im Untergeschoss ein Mehrzwecksaal für 300 bis 500 Zuhörer eröffnet, während ein Kammermusiksaal für 700 Zuhörer noch der Vollendung harrt. Zum Komplex gehören weiter zahlreiche Übungs- und Technikräume. Im Eingangsbereich, dem Moneo mit einem offenen quadratischen Glasschacht, dem Impluvium, einen prägnanten Charakter verliehen hat, soll Barcelonas Musikmuseum untergebracht werden. Dem Architekten hat es besonders die Aussicht angetan, dass auch das Konservatorium sich dereinst hier einrichten wird, damit auch tagsüber Leben in den Tanker kommt. – Für dieses Jahr sind bereits über 200 Konzerte gebucht. Zu den ersten Gastkünstlern gehörten Jessye Norman, Madredeus, Michael Nyman und Jordi Savall: ein Hinweis darauf, dass l'Auditori sich verschiedenen Musikrichtungen öffnet und nicht nur mit dem Palau und dem Liceu, sondern auch mit kleineren Konzertsälen in Konkurrenz tritt.

3. März 1999 Neue Zürcher Zeitung

Rationalismus mit Rundungen

Valencia im architektonischen Profilierungsfieber

Valencia, die drittgrösste Stadt Spaniens, stand stets im Schatten von Madrid und Barcelona. Dabei ist ihre urbane Entwicklung schon durch die frühen rationalistischen Einflüsse bemerkenswert. Heute versucht sich die Provinzmetropole zu profilieren, indem sie sich mit Namen wie Calatrava, Foster und Grassi schmückt. Interessanter ist aber der Blick auf das Stadtganze.

Das Stadtzentrum von Valencia ist eines von Europas imposantesten städtebaulichen Ensembles rationalistischen Zuschnitts. Ein ganzer Musterkatalog der zwanziger und dreissiger Jahre, wiewohl nicht frei von Beaux-Arts- und Art-déco- Einflüssen, verleiht der Plaza del Ayuntamiento und einigen umliegenden Strassen ihr Gepräge. Zu den Merkmalen dieser neun- bis zwölfgeschossigen Blockrandbebauungen gehören elegant gekurvte, an die Stromlinienformen Mendelsohns erinnernde Fassaden. Es gibt hier kaum eine Ecke, die wirklich eckig ist. Weitere Beispiele dieser Vorliebe für sanfte Rundungen, die gut zu Valencias Ruf einer sinnlichen Stadt passt, findet man auch in jüngeren Stadtteilen.

Gebauter Populismus

An diesen alles andere als puristischen, dafür um so fulminanteren Beginn der Moderne knüpften seit Mitte der fünfziger Jahre wieder einzelne qualitativ hochstehende Bauten an. Ihre Entwerfer aber blieben weitgehend anonym - wie einst der Emigrant Rafael Guastavino, den kaum ein Architekturlexikon verzeichnet, obwohl seine Ziegelgewölbe im New York der Jahrhundertwende Furore machten -, bis Santiago Calatrava als erster valencianischer Architekt zu Weltberühmtheit gelangte: auch er in erster Linie Ingenieur, und auch er in der Emigration. Nun hat Valencia den Wahlzürcher heimgeholt. Einer ersten Brücke über den Río Turia folgte 1996, erneut in Verbindung mit einer Brücke, die Metrostation Alameda: Zu dem märchenhaften Weiss der Gaudíschen Trencadís-Mosaike, in die Calatrava die Halle gekleidet hat, kontrastiert das geisterbahnwürdige Geheul, sooft ein Zug in sie einfährt.

Das war lediglich das Präludium zu einer ganzen Reihe von Calatrava-Architekturen, die zurzeit in Valencia als Ciudad de las Artes y de las Ciencias Gestalt annehmen. Stanislaus von Moos hat in Zusammenhang mit diesem monumentalen Komplex auf Le Corbusiers nie zur Ausführung gelangten Palast der Sowjets hingewiesen, für den wiederum ein mögliches Vorbild Pisa - der Dreiklang Dom - Baptisterium - Campanile - war. Auch Calatrava konfiguriert drei Bauten auf einer Achse, wobei der ursprünglich projektierte 382 Meter hohe Kommunikationsturm schliesslich durch ein (auch nicht gerade kleinlich geratenes) Opernhaus ersetzt wurde. Bereits fertiggestellt ist das Mittelstück, ein Planetario genanntes Imax- Kino in Form eines Auges, das seine gläsernen Lider mit ihren Stahlwimpern über der hermetischen Halbkugel des Projektionssaals auf- und zuklappen kann. Östlich davon wächst, ungleich mächtiger, das durch seine Reihung von Stahlrippen an ein Saurierskelett erinnernde Museo de las Ciencias heran. Es soll noch vor den 1999 fälligen Lokal- und Regionalwahlen eröffnet werden.

Dieses verblüffende Ensemble biomorpher Strukturen war von Anfang an auf Wählerreflexe, auf die Sensationslust braver Konsumenten zugeschnitten: gebauter Populismus. Geplant noch unter der sozialistischen Regionalregierung, wurde es 1996 von den neuen konservativen Machthabern umgehend als grössenwahnsinnig vom Programm gestrichen, zum Entsetzen des örtlichen Baugewerbes. Wenig später konnte seine Auferstehung gefeiert werden, nur diesmal - obwohl Valencia eben seinen neuen Musikpalast eingeweiht hatte - mit einem weiteren Konzerthaus anstelle des Turmbaus. In Rekordzeit geplant und auf den bereits gelegten, eigentlich zu knapp bemessenen Fundamenten aufbauend - daher der eiförmige Aufriss mit Auskragungen von über fünfzig Metern -, dürfte dieses Auditorium zu Calatravas überspanntesten Projekten zählen: sowohl als statisches Bravourstück als auch durch die skulpturale Extravaganz der seitlichen Betonschalen, über die sich eine zweihundert Meter lange Dachzunge wölbt. Neben diesem liegenden weissen Ei nehmen sich die Werke eines Guastavino und selbst die des Katalanen Gaudí moderat aus. Eine andere Tradition, der sich Calatravas Werke als ihre postmoderne Überspitzung zuordnen lassen, ist der valencianische Rationalismus, der das Ornament nie scheute.

Der Egomane, der Calatrava zweifellos ist, hat in der «Stadt der Künste» für sämtliche nicht von eigener Hand stammenden künstlerischen Interventionen vorsorglich eine Höhenbeschränkung durchgesetzt. Erklärten Gegnern dieses Künstlerarchitekten, die ihn am ehesten noch als Brückenbauer goutieren, mag es ein Trost sein, dass zu dem Ensemble - da es im einstigen Flussbett des Río Turia liegt - auch zwei neue Brücken gehören. So wird Calatrava bald vier Übergänge über einen Fluss gebaut haben, der gar kein Fluss mehr ist und der auch früher nur ein periodisch anschwellendes Rinnsal war. 1957 verursachte er jedoch eine Katastrophe solchen Ausmasses, dass die Franco-Administration die Umleitung des Turia zur nationalen Aufgabe erklärte. Sie hinterliess Valencia ein nacktes, allmählich zu einem linearen Park ausgestaltetes Flussbett. Als Reminiszenz an die Vergangenheit sind denn auch die Wasserflächen zu verstehen, die die Calatrava- Bauten einfassen und die in den östlich daran anschliessenden Parque Oceanográfico überleiten.

Bauten am Tranvía de la Malva-rosa

Valencia ist keine zimperliche Stadt. Als Verkehrshölle hat es Weltniveau. Nun verspricht es sich von der Ciudad de las Artes - in einer an sich schon futuristisch anmutenden Umgebung aus 40geschossigen Wohntürmen und riesigen Shopping Malls - kulturellen Imagegewinn. Aber gleichzeitig verspielt es gerade seinen Ruf, das beste moderne Kunstzentrum Spaniens zu beherbergen. Das 1989 eröffnete IVAM (Instituto Valenciano de Arte Moderno) macht den Kontrast zur Grandiloquenz der Gegenwart um so schmerzlicher bewusst, als auch dieses einst ungemein präzise Projekt seit dem politischen Wechsel in provinzieller Gefälligkeit dahindämmert. Wenn irgendwo der kulturpolitische Opportunismus des heute dominierenden Partido Popular deutlich wird, dann in Valencia. Hier waren sich die Konservativen selbst dafür nicht zu schade, einen absurden Sprachstreit vom Zaun zu reissen, indem sie die valencianische Spielart des Katalanischen als eigene Sprache von diesem abzugrenzen versuchten, entgegen der Ansicht sämtlicher Linguisten - nur um Gefühle zu schüren und politisch auszuschlachten, die im Grunde ihrem auf Spaniens Einheit pochenden Credo widersprechen.

Umstritten ist auch ein weiteres urbanistisches Grossprojekt: die Verlängerung der hundert Meter breiten Avenida Blasco Ibáñez bis ans Meer. Man kann Valencia nicht begreifen ohne seine Beziehung zu seinem weitläufigen, einige Kilometer vom Stadtkern entfernten Strand. Nun sind eben die alten Vergnügungs- und Kanaillenviertel dort durch die Vollendung dieser grössten aller städtischen Achsen und mehr noch durch die in der Folge um sich greifende Spekulation bedroht. Es gibt Argumente für und wider einen solchen urbanistischen Kraftakt. Den unglücklichsten Kompromiss hat einmal mehr die Stadtregierung gefunden: die Schneise soll geschlagen, das Alte mithin zerstört werden - aber die grandiose Avenue wird nur noch halb so breit gebaut.

Parallel zu diesem «paseo de Valencia al mar» verläuft der ebenso klassische, heute zur Linie 4 der Metro aufgewertete Tranvía de la Malva-rosa. Diese Strassenbahn führt streckenweise durch unbebautes Gebiet, wenn auch nicht gerade Orangenhaine, wie sie für das Land charakteristisch sind. Dafür durchquert man in halbstündiger Fahrt zwei weitere städtische Entwicklungszonen. Zunächst den Nou Camp, ein Universitätsgelände: hier sollen unter anderem Bauten von Siza und Miralles entstehen. Jüngst fertiggestellt wurde die Bibliothek von Giorgio Grassi mit ihrer siebengeschossigen, ganz mit Bücherwänden ausgekleideten Halle: ein sehr schöner Grassi, der sich allerdings - postmoderne Unverschämtheit - mitten aus einem ihn umzingelnden, ungeschlacht gemauerten und schrecklich abweisenden Parkhaus erhebt. Am andern Ende der Linie 4 ist es der diesen Sommer eröffnete Kongresspalast von Norman Foster, der den Stadtrand prägt. Im Grundriss linsenförmig (ein clin d'œil an Calatravas Imax-Auge? Oder sollte sich vielmehr Calatrava mit seinem im Grundriss gleichfalls linsenförmigen Operentwurf für Fosters Anleihen bei seiner Reichstagkuppel revanchiert haben?), erscheint einem dieser Bau, wiewohl ein mittelmässiger Foster, nachgerade als Inbild architektonischer Vernunft: des in Valencia zuweilen vermissten Masses der Dinge.