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Anzeichen einer anderen Moderne
Die Erfolgsfaktoren der neuen holländischen Architektur
7. September 2001 - Johann Christoph Reidemeister
Begeistert schaut die internationale Architektenschaft auf die Niederlande. Viele Büros sind in den letzten zehn Jahren mit spektakulären Entwürfen, die tatsächlich auch gebaut wurden, an die Öffentlichkeit getreten. Einige der Faktoren dieser Erfolgsstory stehen nun mit der jüngsten Generation von Architekten wieder zur Disposition.
Beim Landeanflug auf Amsterdam-Schiphol kreist das Flugzeug mitunter über Flevoland, dem grössten Polder der Niederlande. Aus der Vogelperspektive gesehen, formieren sich die künstlich dem Meer abgerungenen rechteckigen Ackerflächen zwischen den schnurgeraden Landstrassen zu einem abstrakt anmutenden Raster Mondrian'scher Ordnungslogik. Dieses Bild ist Symbol für das Selbstverständnis eines Volkes, das sich des Bodens unter den Füssen nicht gewiss sein darf. Die Niederlande sind denn auch für Kristin Feireiss, die vormalige Direktorin des Nederlands Architectuurinstituut (NAI), «das Land, das sich seine Bewohner selber schaffen».
Phänomene des Wachstums
Die Architektur wird von diesen Umständen unmittelbar betroffen. In einem Land, dessen Häuser zu einem grossen Teil auf Holzpfählen stehen, die in den sumpfigen Boden gerammt wurden, ist Architektur gleichbedeutend mit Existenz. Sie ist mehr als nur Mittel für die Schaffung von Wohn- und Arbeitsraum, sie ist Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wird als Teil der nationalen Kultur verstanden. Der kollektive Pioniergeist, mit dem die nationalen Projekte zur Entwässerung und Eindeichung ganzer Meere Anfang des 20. Jahrhunderts vorangetrieben wurden, hat die Menschen in den letzten zehn Jahren erneut erfasst. Diesmal allerdings steht die architektonische Landschaft im Zentrum des Interesses, was dem Land eine baukulturelle Blüte beschert, um die es vielerorts beneidet wird.
Dabei sah es lange Zeit gar nicht nach einem architektonischen Aufbruch aus. Nach einer ungestümen Wachstumsphase in der Nachkriegszeit, in der man zukunftsgläubig von durchstrukturierten, ins Riesenhafte aufgetürmten Stadtlandschaften träumte, die nicht länger ein Ort der Begegnung, sondern ein Funktionsplan waren, fand sich das Land zu Beginn der achtziger Jahre in einer Rezession nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Visionen wieder. Die Wende brachte das vielgefeierte Poldermodell. Es beruhte im Wesentlichen auf der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Ausweitung von Teilzeitjobs und hat seit den ersten Konsensrunden im Jahr 1982 die Doppelleistung zuwege gebracht, eine wirtschaftliche Prosperität mit einer kulturellen gleichzuschalten, in deren Umfeld das international stark beachtete holländische Architekturexperiment überhaupt erst stattfinden konnte.
Die architektonische Blüte des Landes ging einher mit einem soliden wirtschaftlichen Wachstum, das seit nunmehr zwölf Jahren über dem Durchschnitt der EU liegt. Dieses Wachstum manifestiert sich nicht zuletzt in einem Baurausch, der ganze Stadtviertel in kürzester Zeit entstehen lässt oder grossmassstäbliche Planungen hervorbringt wie die einer neuen Stadt mit 40 000 Wohnungen auf künstlich aufgeschütteten Sandbänken, die vor der Küste Den Haags und Rotterdams verteilt werden sollen. Über 75 Prozent des Wohnraums sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Von Leerstand ist keine Rede. Im Gegenteil, die Nachfrage nimmt stetig zu. Das betrifft vor allem die boomende Randstad mit den Wirtschaftszentren Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht.
Architektur als Lebewesen
Gebaut wurde in den letzten Jahren viel. Architektonisch massgeblich aber waren vor allem überschaubare Bauaufgaben wie etwa Altersheime, Polizeireviere, Postämter, Radiosender, Universitätsgebäude, Museen und Villen. Die öffentliche Hand finanzierte die meisten dieser Bauprojekte. An ihnen konnte sich die junge Architektenschaft beweisen. Durchdacht und entspannt, erwachsen und bedingungslos jugendlich, so kommen ihre Entwürfe daher. Die Experimentierfreude, mit der die Architekten entwerfen, sieht man den oft rohen Bauten auf den ersten Blick nicht immer an. Doch mit jeder ihrer schlichten Kisten setzen sie neue Bautypologien in die flache Landschaft. Die ungebändigte Wildheit ihrer Architektur liegt in einer anarchischen Ungebundenheit allen Standards gegenüber und einer freudigen Innovationslust, die Motor für so unerwartete Gebäudestrukturen wie jene des niederländischen Expo-Pavillons von MVRDV sein kann. Nicht in einem an Gehry erinnernden Formenwirbel liegt das Ungezügelte ihrer gebauten Visionen, sondern in ihrer programmatisch konzeptuellen Arbeitsweise. Diese verdanken viele junge Architekten dem Theoretiker und Architekten Rem Koolhaas. Durch Koolhaas' Beispiel angeregt, untersuchen sie seit Beginn der neunziger Jahre in ihren Arbeiten die inhaltliche Beziehung zur Moderne und haben so eine schal gewordene Postmoderne überwunden. Entstanden ist vielerorts eine Architektur, die dem sinnlichen Detail eine untergeordnete Stellung zuweist, ein Anti-Design, die Verkündung einer Welt jenseits hedonistischen Stilgebarens.
Ausgehend von dieser Basis ist das architektonische Spektrum immer breiter und schillernder geworden. Es reicht neuerdings bis hin zu der programmatischen Aufhebung des alten Gegensatzes von Natur und Technik in einer Architektur, die als genetisch selbstbestimmtes Lebewesen verstanden werden will. Kas Oosterhuis und Lars Spuybroek zählen zu den exponiertesten Repräsentanten dieses Trends. In einer Zeit, in der viel über drängende Aufgaben wie billigen Massenwohnungsbau nachgedacht wird, leisten sie sich den Luxus, einen lollibunten Designkanon aufzustellen und erst hinterher über dessen Funktionalisierung zu spekulieren. Ein Entwurf, der tiefer als die spektakulär gefaltete und erotisch geschwollene Aussenhaut blicken lässt, existiert nur in den seltensten Fällen. Denn wie muss man sich das Innere von Oosterhuis' «Rotterdam & Internet» vorstellen, einem Gebäude, das sich mit Hilfe einer Gummihaut über einen pneumatischen Fachwerkbau bewegt, zusammenzieht, anspannt und entspannt? Mit seinem gebauten Muskel versucht Oosterhuis den neuesten technischen Entwicklungen auf die Schliche zu kommen, die flimmernde, kugelbunt mutierende Internet-Gegenwart in einer Architektur einzufangen, die aussieht, als habe man eine Plasticdose mit Anabolika gemästet. Mit solch kompromisslos verschwenderischen Formphantasien, mit ihrer barocken Oberflächenseligkeit und der Vergötterung des Individuellen haben sich die jungen Biogendesigner über die Koolhaas'sche konzeptuelle Stringenz in der Architektur hinweggesetzt.
Der Dialog mit den Kunden beansprucht immer mehr Raum. Den Entwurfsprozess hat das nachhaltig verändert. Die Erwartungshaltung von Staat und Bauherrn zum Ausgangspunkt architektonischer Formfindung zu nehmen: das ist einer der wichtigsten Beiträge der jungen niederländischen Architektengeneration zum internationalen Architekturdiskurs. Auf den immer stärker eingeschränkten Handlungsspielraum des Architekten haben sie mit neuen Entwurfsmethoden reagiert, ihr Selbstverständnis haben sie den Umständen angepasst: nicht selbsternannter Kunstallmächtiger oder Heilsbringer ist der Architekt in Holland, sondern ein Ingenieur der Wünsche. Den Grundstein hat auch hier Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) gelegt. Dieses sah sich Anfang der achtziger Jahre beim städtebaulichen Entwurf für den IJ-Plein in Amsterdam mit den divergierenden Anforderungen der Anwohner aus den benachbarten Stadtvierteln und der künftigen Bewohner konfrontiert. In diesen Jahren der Demokratisierung führte die Kritik dieser Gruppen oft dazu, dass Architekten ihre weit vorangeschrittenen Pläne von Grund auf neu erarbeiten mussten. Statt mit einem fertigen Entwurf kam OMA deshalb mit einem grossen Koffer, der eine Auswahl von Plänen in standardisierter Form enthielt. Mit ihr wurde ein äusserst flexibler Verhandlungsprozess bestritten, während OMA die Wünsche der Betroffenen anhand der Pläne visualisierte und den endgültigen Entwurf ausarbeitete.
Eine pragmatische Architektur ist so in den letzten Jahren entstanden, die sich von jedem starren Stildenken distanziert. Architektur als Markenzeichen - «so etwas machen wir nicht», gibt etwa Mecanoo-Gründerin Francine Houben entschieden zu verstehen. «Wir haben eine sehr enge Beziehung zu unseren Kunden. Wir geben ihren Ideen eine Form. Das ist ein sehr individueller Prozess. Wollten sie ein weisses Haus, würden sie zu Richard Meier gehen, wollten sie ein verrücktes Haus, zu Frank Gehry. Bei uns bekommen sie etwas wirklich Besonderes.» Eine Aufgabe des Prinzips des freischaffenden Künstlers ist das keineswegs, sondern dessen modifizierende Rettung. Denn selbst eine computergestützte Kartierung aller auf die Bauaufgabe Einfluss nehmenden Kräfte, wie sie MVRDV in ihren «Datascapes» durchführen, ist ein sehr feines Instrument, das nicht faule Kompromisse produziert, sondern die verloren geglaubten Freiräume für die Architektur ermitteln helfen kann.
Die Rolle des Staates
Rund 10 Millionen Euro gibt der niederländische Staat jährlich zur Förderung der Architektur aus. Besonders viel Geld ist das nicht, aber es wird effektvoll eingesetzt: Das international bekannte NAI in Rotterdam erhält etwa 3,2 Millionen Euro jährlich und ist so zum grössten Architekturmuseum der Welt geworden. Seit 1993 leistet es herausragende Öffentlichkeitsarbeit für die Architektur mit Ausstellungen, Symposien und Workshops. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Kindern, für die eigens ein Anbau von Jo Coenen errichtet wird. Für Kristin Feireiss, die nach fünf Jahren Tätigkeit das NAI verlässt, drückt sich das einzigartige Umfeld für Architektur in den Niederlanden auch in der erstmals für 2002 geplanten Architekturbiennale aus, deren Leitung sie übernehmen wird. Die Niederlande sind damit neben Italien das zweite europäische Land mit einer derartigen Veranstaltung.
Die Architekten werden aber auch direkt vom Staat subventioniert: zwei der wichtigsten Förderfonds sind der Stimuleringsfonds voor Architectuur in Rotterdam, der jährlich rund 2,5 Millionen Euro ausgibt, und der Fonds voor Beeldende Kunsten, Vormgeving en Bouwkunst, abgekürzt BKVB, in Amsterdam, der jährlich eine Summe von 800 000 Euro für Architektur aufwendet. In der Liste der Begünstigten finden sich Büros wie Mecanoo, MVRDV, Kas Oosterhuis. Gefördert werden Reisen, Publikationen und Projekte. Ausserdem gibt es Studienbeihilfen in Höhe von bis zu 28 000 Euro und Starthilfen bei der Gründung des eigenen Büros in Höhe von 15 000 Euro. Beim Stimuleringsfonds können auch Stiftungen, Museen, Verlage oder Architekturzeitschriften finanziellen Rückhalt für ihre Arbeit finden.
Selbst in hohe Staatsämter können Architekten aufsteigen. Nicht irgendwelche Technokraten lässt man über wichtige Fördermassnahmen entscheiden, sondern unbequeme Leute aus der Praxis. Der Mann, der als neuer Reichsbaumeister zukünftig die architektonischen Direktiven im Lande geben wird, heisst Jo Coenen. In dieser Funktion besitzt Coenen ein Mitspracherecht bei Gebäuden, die der Staat selber errichtet. Auch wenn er kein Vetorecht besitzt, ist seine Rolle als Ratgeber und Förderer eine äusserst einflussreiche. Die Koffer packen, das war Coenens erste Amtshandlung. Denn die Baubehörde in Den Haag entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem kreativen Arbeitsumfeld. Stattdessen zog er in eine nahe gelegene alte Werkstatt, in der er ein Laboratorium zusammen mit hinzugezogenen Architekten aufbauen will. Nicht repräsentativer Ort und bürokratische Arbeitsweise definieren hier das hohe Staatsamt, sondern nur die Güte der Architektur von morgen.
Das Engagement des Staates für die Architektur wird von einer breiten öffentlichen Mitbestimmung getragen. Die gemeinschaftlichen Leistungen in der Landgewinnung etablierten eine Tradition, die die Architektur als Aufgabe der Allgemeinheit betrachtet. Anders als die Anhänger der Avantgarde setzen die Niederländer auf einen demokratischen Formfindungsprozess, der in endlose Bürgerbefragungen ausarten kann und dem ein radikaler Plan lediglich als Diskussionspapier für eine weitaus gewöhnlichere und alltäglichere Praxis dienen kann. Trotz oder gerade wegen dieser Hürden erhält auch noch die phantastischste Architektur Gehör und nicht selten eine Chance.
Der Erfolg der Jugend
Alle diese Charakteristika der zeitgenössischen niederländischen Architektur tragen zu ihrer Jugendlichkeit bei - eine Jugendlichkeit, die wörtlich genommen werden will. Immer wieder erstaunt, dass die Architekten hier nicht nur experimentelle Architektur realisieren können, sondern dies auch in einem Alter, in dem in anderen Ländern meist erst einmal die Zeit des Darbens einsetzt. Die Gründer von Mecanoo standen am Anfang dieses Trends. Sie gewannen 1985 den Wettbewerb für den Wohnkomplex am Kruisplein, Rotterdams zentraler Einkaufsstrasse. Damals waren sie noch Studenten und der Älteste der Gruppe gerade 25 Jahre alt. Und MVRDV war eine Gemeinschaft von Hochschulabsolventen ohne eigenes Büro, als 1993 Vertreter des Radiosenders VPRO sich bei ihnen meldeten, um sie mit dem Entwurf ihrer neuen Zentrale in Hilversum zu beauftragen. Die daraufhin hastig angemieteten Räume in einem Lagerhaus im Hafen von Rotterdam dienten dazu, langjährige Praxis vorzutäuschen. Die Verhandlungen bestritten die Jungarchitekten mit Tage zuvor eingekauften Kaffeetassen und grossen Hoffnungen. Den Auftrag erhielten sie umgehend. Mittlerweile hat sich das Büro über die gesamte Etage des Lagerhauses ausgedehnt. Der Blick aus Ländern, in denen ein solch taschenspielertrickartig beschleunigter Start in die eigene Karriere allenfalls aus finsteren Gangsterfilmen bekannt ist, lässt das vitale Gründerfieber der niederländischen Architekturszene nur umso heller erstrahlen.
Nicht lange ist es her, da war Koolhaas der Prophet dieser bedingungslosen Jugendlichkeit. 1978 schrieb er «Delirious New York», ein Manifest für den Aufbruch in ein neues architektonisches Zeitalter. Als begeisterter Verfechter metropolitaner Lebenslust feierte er die wuchernden Vergnügungsparks von Coney Island als den Ort, an dem an der Ablösung des in Manhattan etablierten Beaux-Arts-Stils laboriert wurde. Heute ist es kein anderer als Koolhaas, der die Jugend in den Niederlanden zur Besonnenheit aufruft: Zu schematisch gehe sie an ihre Aufgabe, verkenne die kritische Substanz der Moderne und ergehe sich im gefühligen Formalismus, so seine Kritik. Zeichen einer bevorstehenden Revolution wie damals auf Coney Island?
Beim Landeanflug auf Amsterdam-Schiphol kreist das Flugzeug mitunter über Flevoland, dem grössten Polder der Niederlande. Aus der Vogelperspektive gesehen, formieren sich die künstlich dem Meer abgerungenen rechteckigen Ackerflächen zwischen den schnurgeraden Landstrassen zu einem abstrakt anmutenden Raster Mondrian'scher Ordnungslogik. Dieses Bild ist Symbol für das Selbstverständnis eines Volkes, das sich des Bodens unter den Füssen nicht gewiss sein darf. Die Niederlande sind denn auch für Kristin Feireiss, die vormalige Direktorin des Nederlands Architectuurinstituut (NAI), «das Land, das sich seine Bewohner selber schaffen».
Phänomene des Wachstums
Die Architektur wird von diesen Umständen unmittelbar betroffen. In einem Land, dessen Häuser zu einem grossen Teil auf Holzpfählen stehen, die in den sumpfigen Boden gerammt wurden, ist Architektur gleichbedeutend mit Existenz. Sie ist mehr als nur Mittel für die Schaffung von Wohn- und Arbeitsraum, sie ist Gegenstand der öffentlichen Diskussion und wird als Teil der nationalen Kultur verstanden. Der kollektive Pioniergeist, mit dem die nationalen Projekte zur Entwässerung und Eindeichung ganzer Meere Anfang des 20. Jahrhunderts vorangetrieben wurden, hat die Menschen in den letzten zehn Jahren erneut erfasst. Diesmal allerdings steht die architektonische Landschaft im Zentrum des Interesses, was dem Land eine baukulturelle Blüte beschert, um die es vielerorts beneidet wird.
Dabei sah es lange Zeit gar nicht nach einem architektonischen Aufbruch aus. Nach einer ungestümen Wachstumsphase in der Nachkriegszeit, in der man zukunftsgläubig von durchstrukturierten, ins Riesenhafte aufgetürmten Stadtlandschaften träumte, die nicht länger ein Ort der Begegnung, sondern ein Funktionsplan waren, fand sich das Land zu Beginn der achtziger Jahre in einer Rezession nicht nur der Wirtschaft, sondern auch der Visionen wieder. Die Wende brachte das vielgefeierte Poldermodell. Es beruhte im Wesentlichen auf der Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Ausweitung von Teilzeitjobs und hat seit den ersten Konsensrunden im Jahr 1982 die Doppelleistung zuwege gebracht, eine wirtschaftliche Prosperität mit einer kulturellen gleichzuschalten, in deren Umfeld das international stark beachtete holländische Architekturexperiment überhaupt erst stattfinden konnte.
Die architektonische Blüte des Landes ging einher mit einem soliden wirtschaftlichen Wachstum, das seit nunmehr zwölf Jahren über dem Durchschnitt der EU liegt. Dieses Wachstum manifestiert sich nicht zuletzt in einem Baurausch, der ganze Stadtviertel in kürzester Zeit entstehen lässt oder grossmassstäbliche Planungen hervorbringt wie die einer neuen Stadt mit 40 000 Wohnungen auf künstlich aufgeschütteten Sandbänken, die vor der Küste Den Haags und Rotterdams verteilt werden sollen. Über 75 Prozent des Wohnraums sind nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Von Leerstand ist keine Rede. Im Gegenteil, die Nachfrage nimmt stetig zu. Das betrifft vor allem die boomende Randstad mit den Wirtschaftszentren Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und Utrecht.
Architektur als Lebewesen
Gebaut wurde in den letzten Jahren viel. Architektonisch massgeblich aber waren vor allem überschaubare Bauaufgaben wie etwa Altersheime, Polizeireviere, Postämter, Radiosender, Universitätsgebäude, Museen und Villen. Die öffentliche Hand finanzierte die meisten dieser Bauprojekte. An ihnen konnte sich die junge Architektenschaft beweisen. Durchdacht und entspannt, erwachsen und bedingungslos jugendlich, so kommen ihre Entwürfe daher. Die Experimentierfreude, mit der die Architekten entwerfen, sieht man den oft rohen Bauten auf den ersten Blick nicht immer an. Doch mit jeder ihrer schlichten Kisten setzen sie neue Bautypologien in die flache Landschaft. Die ungebändigte Wildheit ihrer Architektur liegt in einer anarchischen Ungebundenheit allen Standards gegenüber und einer freudigen Innovationslust, die Motor für so unerwartete Gebäudestrukturen wie jene des niederländischen Expo-Pavillons von MVRDV sein kann. Nicht in einem an Gehry erinnernden Formenwirbel liegt das Ungezügelte ihrer gebauten Visionen, sondern in ihrer programmatisch konzeptuellen Arbeitsweise. Diese verdanken viele junge Architekten dem Theoretiker und Architekten Rem Koolhaas. Durch Koolhaas' Beispiel angeregt, untersuchen sie seit Beginn der neunziger Jahre in ihren Arbeiten die inhaltliche Beziehung zur Moderne und haben so eine schal gewordene Postmoderne überwunden. Entstanden ist vielerorts eine Architektur, die dem sinnlichen Detail eine untergeordnete Stellung zuweist, ein Anti-Design, die Verkündung einer Welt jenseits hedonistischen Stilgebarens.
Ausgehend von dieser Basis ist das architektonische Spektrum immer breiter und schillernder geworden. Es reicht neuerdings bis hin zu der programmatischen Aufhebung des alten Gegensatzes von Natur und Technik in einer Architektur, die als genetisch selbstbestimmtes Lebewesen verstanden werden will. Kas Oosterhuis und Lars Spuybroek zählen zu den exponiertesten Repräsentanten dieses Trends. In einer Zeit, in der viel über drängende Aufgaben wie billigen Massenwohnungsbau nachgedacht wird, leisten sie sich den Luxus, einen lollibunten Designkanon aufzustellen und erst hinterher über dessen Funktionalisierung zu spekulieren. Ein Entwurf, der tiefer als die spektakulär gefaltete und erotisch geschwollene Aussenhaut blicken lässt, existiert nur in den seltensten Fällen. Denn wie muss man sich das Innere von Oosterhuis' «Rotterdam & Internet» vorstellen, einem Gebäude, das sich mit Hilfe einer Gummihaut über einen pneumatischen Fachwerkbau bewegt, zusammenzieht, anspannt und entspannt? Mit seinem gebauten Muskel versucht Oosterhuis den neuesten technischen Entwicklungen auf die Schliche zu kommen, die flimmernde, kugelbunt mutierende Internet-Gegenwart in einer Architektur einzufangen, die aussieht, als habe man eine Plasticdose mit Anabolika gemästet. Mit solch kompromisslos verschwenderischen Formphantasien, mit ihrer barocken Oberflächenseligkeit und der Vergötterung des Individuellen haben sich die jungen Biogendesigner über die Koolhaas'sche konzeptuelle Stringenz in der Architektur hinweggesetzt.
Der Dialog mit den Kunden beansprucht immer mehr Raum. Den Entwurfsprozess hat das nachhaltig verändert. Die Erwartungshaltung von Staat und Bauherrn zum Ausgangspunkt architektonischer Formfindung zu nehmen: das ist einer der wichtigsten Beiträge der jungen niederländischen Architektengeneration zum internationalen Architekturdiskurs. Auf den immer stärker eingeschränkten Handlungsspielraum des Architekten haben sie mit neuen Entwurfsmethoden reagiert, ihr Selbstverständnis haben sie den Umständen angepasst: nicht selbsternannter Kunstallmächtiger oder Heilsbringer ist der Architekt in Holland, sondern ein Ingenieur der Wünsche. Den Grundstein hat auch hier Koolhaas mit seinem Office for Metropolitan Architecture (OMA) gelegt. Dieses sah sich Anfang der achtziger Jahre beim städtebaulichen Entwurf für den IJ-Plein in Amsterdam mit den divergierenden Anforderungen der Anwohner aus den benachbarten Stadtvierteln und der künftigen Bewohner konfrontiert. In diesen Jahren der Demokratisierung führte die Kritik dieser Gruppen oft dazu, dass Architekten ihre weit vorangeschrittenen Pläne von Grund auf neu erarbeiten mussten. Statt mit einem fertigen Entwurf kam OMA deshalb mit einem grossen Koffer, der eine Auswahl von Plänen in standardisierter Form enthielt. Mit ihr wurde ein äusserst flexibler Verhandlungsprozess bestritten, während OMA die Wünsche der Betroffenen anhand der Pläne visualisierte und den endgültigen Entwurf ausarbeitete.
Eine pragmatische Architektur ist so in den letzten Jahren entstanden, die sich von jedem starren Stildenken distanziert. Architektur als Markenzeichen - «so etwas machen wir nicht», gibt etwa Mecanoo-Gründerin Francine Houben entschieden zu verstehen. «Wir haben eine sehr enge Beziehung zu unseren Kunden. Wir geben ihren Ideen eine Form. Das ist ein sehr individueller Prozess. Wollten sie ein weisses Haus, würden sie zu Richard Meier gehen, wollten sie ein verrücktes Haus, zu Frank Gehry. Bei uns bekommen sie etwas wirklich Besonderes.» Eine Aufgabe des Prinzips des freischaffenden Künstlers ist das keineswegs, sondern dessen modifizierende Rettung. Denn selbst eine computergestützte Kartierung aller auf die Bauaufgabe Einfluss nehmenden Kräfte, wie sie MVRDV in ihren «Datascapes» durchführen, ist ein sehr feines Instrument, das nicht faule Kompromisse produziert, sondern die verloren geglaubten Freiräume für die Architektur ermitteln helfen kann.
Die Rolle des Staates
Rund 10 Millionen Euro gibt der niederländische Staat jährlich zur Förderung der Architektur aus. Besonders viel Geld ist das nicht, aber es wird effektvoll eingesetzt: Das international bekannte NAI in Rotterdam erhält etwa 3,2 Millionen Euro jährlich und ist so zum grössten Architekturmuseum der Welt geworden. Seit 1993 leistet es herausragende Öffentlichkeitsarbeit für die Architektur mit Ausstellungen, Symposien und Workshops. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Arbeit mit Kindern, für die eigens ein Anbau von Jo Coenen errichtet wird. Für Kristin Feireiss, die nach fünf Jahren Tätigkeit das NAI verlässt, drückt sich das einzigartige Umfeld für Architektur in den Niederlanden auch in der erstmals für 2002 geplanten Architekturbiennale aus, deren Leitung sie übernehmen wird. Die Niederlande sind damit neben Italien das zweite europäische Land mit einer derartigen Veranstaltung.
Die Architekten werden aber auch direkt vom Staat subventioniert: zwei der wichtigsten Förderfonds sind der Stimuleringsfonds voor Architectuur in Rotterdam, der jährlich rund 2,5 Millionen Euro ausgibt, und der Fonds voor Beeldende Kunsten, Vormgeving en Bouwkunst, abgekürzt BKVB, in Amsterdam, der jährlich eine Summe von 800 000 Euro für Architektur aufwendet. In der Liste der Begünstigten finden sich Büros wie Mecanoo, MVRDV, Kas Oosterhuis. Gefördert werden Reisen, Publikationen und Projekte. Ausserdem gibt es Studienbeihilfen in Höhe von bis zu 28 000 Euro und Starthilfen bei der Gründung des eigenen Büros in Höhe von 15 000 Euro. Beim Stimuleringsfonds können auch Stiftungen, Museen, Verlage oder Architekturzeitschriften finanziellen Rückhalt für ihre Arbeit finden.
Selbst in hohe Staatsämter können Architekten aufsteigen. Nicht irgendwelche Technokraten lässt man über wichtige Fördermassnahmen entscheiden, sondern unbequeme Leute aus der Praxis. Der Mann, der als neuer Reichsbaumeister zukünftig die architektonischen Direktiven im Lande geben wird, heisst Jo Coenen. In dieser Funktion besitzt Coenen ein Mitspracherecht bei Gebäuden, die der Staat selber errichtet. Auch wenn er kein Vetorecht besitzt, ist seine Rolle als Ratgeber und Förderer eine äusserst einflussreiche. Die Koffer packen, das war Coenens erste Amtshandlung. Denn die Baubehörde in Den Haag entsprach nicht seinen Vorstellungen von einem kreativen Arbeitsumfeld. Stattdessen zog er in eine nahe gelegene alte Werkstatt, in der er ein Laboratorium zusammen mit hinzugezogenen Architekten aufbauen will. Nicht repräsentativer Ort und bürokratische Arbeitsweise definieren hier das hohe Staatsamt, sondern nur die Güte der Architektur von morgen.
Das Engagement des Staates für die Architektur wird von einer breiten öffentlichen Mitbestimmung getragen. Die gemeinschaftlichen Leistungen in der Landgewinnung etablierten eine Tradition, die die Architektur als Aufgabe der Allgemeinheit betrachtet. Anders als die Anhänger der Avantgarde setzen die Niederländer auf einen demokratischen Formfindungsprozess, der in endlose Bürgerbefragungen ausarten kann und dem ein radikaler Plan lediglich als Diskussionspapier für eine weitaus gewöhnlichere und alltäglichere Praxis dienen kann. Trotz oder gerade wegen dieser Hürden erhält auch noch die phantastischste Architektur Gehör und nicht selten eine Chance.
Der Erfolg der Jugend
Alle diese Charakteristika der zeitgenössischen niederländischen Architektur tragen zu ihrer Jugendlichkeit bei - eine Jugendlichkeit, die wörtlich genommen werden will. Immer wieder erstaunt, dass die Architekten hier nicht nur experimentelle Architektur realisieren können, sondern dies auch in einem Alter, in dem in anderen Ländern meist erst einmal die Zeit des Darbens einsetzt. Die Gründer von Mecanoo standen am Anfang dieses Trends. Sie gewannen 1985 den Wettbewerb für den Wohnkomplex am Kruisplein, Rotterdams zentraler Einkaufsstrasse. Damals waren sie noch Studenten und der Älteste der Gruppe gerade 25 Jahre alt. Und MVRDV war eine Gemeinschaft von Hochschulabsolventen ohne eigenes Büro, als 1993 Vertreter des Radiosenders VPRO sich bei ihnen meldeten, um sie mit dem Entwurf ihrer neuen Zentrale in Hilversum zu beauftragen. Die daraufhin hastig angemieteten Räume in einem Lagerhaus im Hafen von Rotterdam dienten dazu, langjährige Praxis vorzutäuschen. Die Verhandlungen bestritten die Jungarchitekten mit Tage zuvor eingekauften Kaffeetassen und grossen Hoffnungen. Den Auftrag erhielten sie umgehend. Mittlerweile hat sich das Büro über die gesamte Etage des Lagerhauses ausgedehnt. Der Blick aus Ländern, in denen ein solch taschenspielertrickartig beschleunigter Start in die eigene Karriere allenfalls aus finsteren Gangsterfilmen bekannt ist, lässt das vitale Gründerfieber der niederländischen Architekturszene nur umso heller erstrahlen.
Nicht lange ist es her, da war Koolhaas der Prophet dieser bedingungslosen Jugendlichkeit. 1978 schrieb er «Delirious New York», ein Manifest für den Aufbruch in ein neues architektonisches Zeitalter. Als begeisterter Verfechter metropolitaner Lebenslust feierte er die wuchernden Vergnügungsparks von Coney Island als den Ort, an dem an der Ablösung des in Manhattan etablierten Beaux-Arts-Stils laboriert wurde. Heute ist es kein anderer als Koolhaas, der die Jugend in den Niederlanden zur Besonnenheit aufruft: Zu schematisch gehe sie an ihre Aufgabe, verkenne die kritische Substanz der Moderne und ergehe sich im gefühligen Formalismus, so seine Kritik. Zeichen einer bevorstehenden Revolution wie damals auf Coney Island?
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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