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Schönheit im Einfachen
Schönheit im Einfachen, Foto: Simak / Knack © MMD - Museen des Mobiliendepots
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In letzter Zeit ist es um die einst international umschwärmte finnische Architektur wieder stiller geworden. Der Grund scheint in ihrer extrem pragmatischen Grundhaltung zu liegen.

18. Januar 2002 - Wolfgang Jean Stock
Bitterarm war Finnland in der frühen Nachkriegszeit, denn erst 1952 endeten die Reparationslieferungen an die Siegermacht Sowjetunion, deren Umfang im Wert von rund 600 Millionen Dollar für das kleine und mit Flüchtlingen überfüllte Land eine riesige Belastung bedeutet hatte.


Architektur-Mekka

1952 war zugleich das Jahr, in dem Finnland den Grundstein zu seinem Wiederaufstieg als eine der führenden Architekturnationen legte - damals begann die Planung von Tapiola, der „Stadt im Wald“ westlich von Helsinki. Bereits nach Fertigstellung des ersten Bauabschnitts bewunderte man in ganz Europa die neuen finnischen Leistungen im Wohnbau, jene modernen, zum Teil vorgefertigten Häuser, die mit sparsamen Mitteln errichtet waren und dennoch eine außerordentliche Wohnqualität besaßen. Zusätzlich angeregt durch Alvar Aaltos Nachkriegswerk, durch seine Bauten der „roten Periode“ wie etwa das Rathaus von Säynätsalo, wurde Finnland zu einem Wallfahrtsort für Architekten.


Pragmatische Grundhaltung

Schon bei Aalto, der international verehrten Leitfigur der finnischen Architekturmoderne, vermisste man die Bereitschaft, sein Werk theoretisch zu begründen. Die Scheu vor großen Worten, vor programmatischen Erklärungen ihrer Arbeit, lässt sich bis heute bei finnischen Architekten feststellen, selbst bei der jüngeren Generation. Vielmehr betonen sie fast ausnahmslos den „praktischen Zugang“ zu einer Aufgabe.


Schwere Nationalromantik

Bei jeder Betrachtung der finnischen Architektur sollte man sich vergegenwärtigen, dass sie insgesamt sehr jung ist: Gebäude aus dem 18. Jahrhundert sind schon sehr selten, über neunzig Prozent der Substanz wurden nach 1920 errichtet. Der Ursprung der authentischen finnischen Baukultur liegt jedoch in den Jahren um 1900.

Damals begann das kulturelle Aufbegehren der Finnen gegen die Russen, die das Land am Beginn des 19. Jahrhunderts den Schweden entrissen hatten und nun russifizieren wollten. In der Architektur kam dieser Widerstand als häufig monumental gesteigerte Nationalromantik zum Ausdruck.


Erste Wende

Doch unter dem Einfluss der kontinentaleuropäischen „Art Nouveau“ entwickelte sich die Nationalromantik schon bald zum spezifischen Helsinki-Jugendstil. Es ist eine sympathisch schlichte, nur dezent dekorierte Architektur, deren Spannung aus dem Kontrast von Granitsockel und großflächigen Putzfassaden besteht. Mit diesen Gebäuden wurde die Leitmelodie der modernen finnischen Architektur angeschlagen, die sich - im Ganzen gesehen - als „Schönheit im Einfachen“ charakterisieren lässt.

Nachdem Finnland im Dezember 1917 die Unabhängigkeit erreicht hatte, setzte sich zunächst der nordische Neoklassizismus durch, dem auch der junge Alvar Aalto verpflichtet war. Ein großartiges Beispiel für diese Richtung ist in Helsinki das Zentrum des bürgerlichen Stadtteils Töölö, das durch seine urbane Großzügigkeit und bauliche Geschlossenheit besticht.


Weiße Moderne

Zur entscheidenden Zäsur kam es am Ende der zwanziger Jahre: Aalto, der zur funktionalen Architektur übergegangen war, schuf mit dem Verlagshaus in Turku den ersten wirklich modernen Bau in ganz Skandinavien, und im folgenden Jahrzehnt wurde die „weiße Moderne“ zu einem Symbol des jungen finnischen Staates, für den das neue Bauen - neben Industrie, Wissenschaft, Volksbildung und Sport - ein wichtiger Träger des nationalen Aufbaus war. Aus dieser Zeit rührt die bis heute weltweite Geltung der finnischen Architektur.


Schattenseite der Prosperität

Finnland ist heute ein reiches Land, besonders die Region Helsinki, die im Wohlstandsindex der Europäischen Union zusammen mit London, Paris, Mailand und Süddeutschland einen Spitzenplatz einnimmt. Doch zu den Schattenseiten der finnischen Prosperität gehört, dass zuviel zu schnell gebaut wird. Öffentliche Planer und private Bauherren sollten deshalb den Satz ernst nehmen, den der australische Architekt Glenn Murcott auf dem Aalto-Symposium 2000 geäußert hat: „More time is better architecture.“

Und man sollte noch häufiger jene Architekten beauftragen, die selbst unter kommerziellen Zwängen und politischen Auflagen beeindruckende Leistungen zuwege bringen. In Finnland gibt es keine eigentliche „Neomoderne“, weil die Tradition von Funktionalität, Dauerhaftigkeit und menschlichem Maßstab alle baukulturellen Krisen überstanden hat. Diese architektonische Haltung zu verteidigen, sollte man sich auch im Wohlstand leisten können.


Nachlese

Im Rahmen der Länderschauen im Wiener Ringturm präsentierte die Wiener Städtische Anfang vergangenen Jahres Architektur aus Finnland.

[ Den Originalbeitrag dieses Essays von Wolfgang Jean Stock finden Sie in der jüngsten Ausgabe von architektur aktuell, Österreichs größter Architekturzeitschrift. ]

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