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Rationalität und Romantik
Neue Zürcher Zeitung

Der schwedische Architekt Gert Wingårdh

4. Januar 2002 - Christoph Wieser
Die schwedische Architektur der Gegenwart wird ausserhalb Skandinaviens kaum wahrgenommen. Namen wie Gert Wingårdh, White Arkitektkontor oder Johan Celsing sind selbst vielen Architekturinteressierten nicht geläufig. Symptomatisch für Schwedens Abseitsstehen vom gegenwärtigen Diskurs ist die geringe internationale Resonanz der Bauausstellung «Bo01» in Malmö, die einen ambitionierten Überblick über das heutige Architekturschaffen in Schweden präsentierte (NZZ 6. 7. 01). Der Grund für die weitgehende Nichtbeachtung liegt am eher bescheidenen Niveau der schwedischen Architekturproduktion der letzten Jahrzehnte. Dieses ist eine Folge der schrittweisen Marginalisierung des Architektenstandes, der aufgerieben wurde zwischen engen staatlichen Vorgaben und dem Druck mächtiger Bauunternehmungen.


Neubewertung der Architektur

Obwohl die lenkende Rolle des Staates in der Architektur - ein wesentliches Merkmal sozialdemokratischer Politik in Schweden - seit Ende der achtziger Jahre ständig abnahm, zeugen die Eröffnung des Architekturmuseums in Stockholm 1998 sowie die Einführung eines architekturpolitischen Programms kurz zuvor von der Bemühung, die Architektur als kulturellen Faktor erneut aufzuwerten. Dazu gehört auch die angestrebte Internationalisierung, indem ausländische Architekten zu wichtigen Wettbewerben eingeladen werden. Bei dieser Neudefinition des Architektenberufes nimmt der 50-jährige Gert Wingårdh eine Schlüsselposition ein als Vorläufer des neuen, international ausgerichteten schwedischen Architekten, der nicht mehr, wie in den achtziger Jahren üblich, im Kollektiv einer grossen Architekturfirma tätig ist, sondern unter eigenem Namen arbeitet. Wingårdh begann seine Karriere als selbständiger Architekt 1977 in Göteborg. Heute beschäftigt er 70 Mitarbeiter und gilt als wichtigster jüngerer Architekt Schwedens.

Wingårdhs subtiler Umgang mit Materialien äussert sich in einem Detailperfektionismus, den er in den achtziger Jahren bei zahlreichen Innenarchitekturaufträgen entwickeln konnte und der beim Neubau der schwedischen Botschaft in Berlin 1996-99 besonders auffällt: Wie bei einem Schmuckkästchen sind die Oberflächen veredelt und die Verbindungen meisterhaft inszeniert. Wingårdhs Arbeit ist trotz seiner Offenheit gegenüber internationalen Einflüssen tief in der schwedischen Tradition verankert, was sich in seinem Sinn für pragmatische Lösungen und dem Misstrauen gegenüber Theorie widerspiegelt. In einem poetischen Text von 1994 beschreibt er sein Verhältnis zur Architektur als «nicht intellektuell, aber nicht ohne Reflexion». Diese Verbindung von Rationalität und Romantik war bereits in den dreissiger und vierziger Jahren das spezifische Merkmal der schwedischen Moderne. Indem der rigide Funktionalismus der späten zwanziger Jahre mit traditionellen Materialien und Konstruktionsweisen sowie dem Einbezug von Stimmungs- und Gemütswerten angereichert wurde, schufen die schwedischen Architekten damals das Vorbild einer moderaten Moderne, deren erweiterter Funktionalismusbegriff im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg in Europa für kurze Zeit wegweisend wurde.

Gerade das Oszillieren von Wingårdhs besten Bauten zwischen funktionalem Pragmatismus und lustvoller Verspieltheit macht seine Architektur spannend. Dies zeigt sich beim eben fertiggestellten Universeum in Göteborg, einer Mischung aus Technorama und Indoor-Regenwald samt Meerwasser-Aquarium, ebenso wie bereits 1988 beim Klubhaus eines Golfklubs in der Nähe von Göteborg. Der amorphe Baukörper erscheint auf den ersten Blick völlig irregulär. Tatsächlich basiert seine expressive Form jedoch auf einem Modul von gleichseitigen Dreiecken. Wingårdh setzt das flache, fingerartig ausgreifende Volumen mit seiner mehrfach geknickten Fassade präzis in die baumbestandene Umgebung ein und schafft damit einen intimen Bezug zur Landschaft - ein weiteres Merkmal schwedischer Architektur, das beinahe klischiert wirkt, aber hier einmal mehr seinen spezifischen Reiz entwickelt.


Präsenz durch eine Monographie

Nun soll eine von Rasmus Wærn herausgegebene Monographie die internationale Bekanntheit von Wingårdhs Werk fördern. Bereits die Aufmachung des Buches verweist auf eine besondere Qualität von Wingårdhs Architektur: den sensiblen und kreativen Umgang mit Materialien, Oberflächen und Texturen. Der fein strukturierte Leineneinband changiert zwischen Schwarz und gebrochenem Weiss. Im Innern ist die Monographie in drei Teile gegliedert, die jeweils durch unterschiedliche Papiersorten voneinander abgesetzt sind. Der erste Teil bietet einen kenntnisreichen Aufsatz des Herausgebers; der Hauptteil enthält eine photographische Dokumentation: In stimmungsvollem Schwarzweiss nähert sich der Photograph Åke E:son Lindman den einzelnen Bauten. Unverständlich wirkt bei der gut getroffenen Auswahl jedoch die Ausklammerung der ersten zehn Schaffensjahre. Insbesondere fehlt eine ausführliche Darstellung der Villa Nordh in Göteborg von 1978-81, die nicht nur Wingårdhs Durchbruch als selbständiger Architekt bedeutete, sondern von den Massenmedien auch als das erste postmoderne Haus in Schweden gefeiert wurde. Der dritte Teil schliesslich enthält eine umfangreiche Werkliste sowie eine Biographie und zwei kurze Texte von Wingårdh.


[Gert Wingårdh. Architect. Hrsg. Rasmus Wærn. Birkhäuser-Verlag, Basel 2001. 392 S. Fr. 108.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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