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Oberflächen- Betrachtung
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Das Museum für angewandte Kunst in Wien zeigt in der Ausstellung „Intricate Surface“ die wundersame Welt des amerikanischen Architekten Greg Lynn, der vieles macht, nur eines nicht: Häuser bauen
29. September 2003 - Mia Eidlhuber
Das Licht ist gedämpft. Die MAK Galerie hat sich verwandelt in eine Mischung aus Forschungslabor, Dunkelkammer und Haus der Tiere. Schaukästen, die vertikal hintereinander im Raum stehen, bilden Blasen, Wülste, geben Einblicke unter ihre Oberflächen, unter denen es manchmal atmet und lebt. Leuchtend bunte kleine Frösche sitzen unter dieser Haut, kleine Quallen schwimmen in einem an der Wand versenkten Aquarium, Schmetterlinge schweben in einem Raum aus weißem transparenten Stoff.
Willkommen in der wundersamen Welt des Greg Lynn. Man braucht schon ein paar Minuten zur Orientierung, um sich den Objekten und Hüllen in Lynns Ausstellung zu nähern. Aber das ist Teil des Plans: Die MAK-Galerie ist ein Laboratorium der Anschauung - und zu sehen gibt es viel. Von den computeranimierten Bildern am Monitor bis zu den wogenden, quellenden, sich bauschenden Formen in Lynns architektonischen Entwürfen, wie das Modell des Museumszentrums „Arc of the World“ in Costa Rica, das sich unter seiner Plexiglashaube wie ein buntes Reptil oder eine Fleisch fressende Pflanze ausmacht. Die Architekturprojekte des 39-jährigen Amerikaners, wie das BMW-Zentralgebäude in Leipzig oder das Naturkundemuseum in St. Gallen haben immer zwei Gemeinsamkeiten: ihre organisch anmutende Formengebung und ihr bis dato virtuelles Dasein im Computer. Gebaut wurde noch keiner der im MAK präsentierten Entwürfe des jungen Architekten, doch auch das ist in der Architektur des Greg Lynn eine fixe Konstante.
Greg Lynn, geboren 1964 in Vermilion, Ohio, hat wie kein anderer das Zeichenbrett aus der Arbeitswelt der Architektur verbannt. Während die meisten Architekten heute mit Design-Programmen (CAD) arbeiten, geht Lynn seit Jahren noch einen Schritt weiter: Er verwendet Software der Flugzeug- oder Autohersteller oder Software für die Erzeugung von Spezial-Effekten in Filmen. Wo sonst Vertikalität, Schwerkraft und Statik noch immer den Entwurfsprozess bestimmen, programmiert Lynn nur ein abstraktes Gebäudevolumen. Zur Form gerinnt es erst, wenn der Computer es den von Lynn definierten Eigenschaften, wie zum Beispiel Erdanziehungskraft, Windstärke, Straßenverläufe oder Topographie aussetzt. Lynn bestimmt also lediglich die Variablen, nach denen die Form automatisch im Computer wächst. Das klingt vielleicht kompliziert. Aber Lynns theoretischer Hintergrund ist vergleichsweise simpel: Unsere Umwelt ist chaotisch, vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt und nur in Sprüngen und Momentaufnahmen verstehbar. Also müssen heute auch für architektonische Denkprozesse andere, neue - flexiblere - Denkstrukturen gelten: An die Stelle von Herrschaft, Religion oder Demokratie treten für Greg Lynn die Metaphern der Ökologie, der Natur und der Genetik.
„Bionik“ ist ein von Lynn geprägter Begriff, „ein neues Paradigma der Organisation, des Entwurfs und der Produktion“ - im architektonischen Entstehungsprozess, das der Instabilität der heutigen Welt Rechnung tragen sollte. Seine Gebäude reagieren flexibel auf den Standort. Es ist nicht sehr verwunderlich, dass sich der Shooting Star Lynn, der nach einigen Jahren im Büro von Peter Eisenmann in New York 1994 sein eigenes Studio FORM in Los Angeles gründete, in seiner Generation vor allem als visionärer Theoretiker einen Namen gemacht hat. Lynn ist ein umtriebiger Verkäufer seiner Ideen und wird seit Jahren gerne zu Gastprofessuren geladen - seit 2002 unterrichtet er auch an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Seine aktuelle Wiener Ausstellung im MAK mutet wenig als klassische Architekturausstellung an. Denn die wabernden Außenhüllen von Lynns Schaukästen, die ein bisschen auch an ästhetisches Retrodesign erinnern, umschließen nicht nur Lynns Architekturmodelle, sondern auch Designgegenstände: Gefäße mit bewegten Oberflächen aus der hauseigenen MAK-Sammlung, wie die Silbergefäße aus dem 18. Jahrhundert oder ein Jugendstilglas. Objekte aus Epochen, denen Lynn „eine bionische Sensibilität“ zuspricht.
Ähnlich wie in seiner Architektur der organischen Bauten, in der ein und dasselbe Gebäude immer wieder anders aussehen kann - zumindest in immer neuen Animationen am Computer, werden auch Lynns Designobjekte zwar in limitierter Auflage, aber in großer Variationsbreite hergestellt, wie das Kaffee-/Teeservice für Alessi, das aussieht wie eine wunderbar schillernde organische Blüte oder das transparente Schachbrett, das wie zerschmolzen unter der Plexiglashaut liegt. Multiples als Mutationen also.
Lynn versucht Oberflächen zu schaffen, die sich mit ihrer Umgebung verändern - egal ob in seinen virtuellen Bauten oder im Design: So wie der Schirm der Quallen ein Abbild des Wassers und Flügel der Schmetterlinge ein Abbild der Luft sind. Komplexität, Variation, Verflechtung und Ganzheitlichkeit sind laut Lynn entscheidend für seinen bionischen Prozess: Mensch und Maschine in vollendeter Harmonie. Diese Architektur ist ähnlich der Metamorphose der schimmernd blauen Schmetterlinge, die hinter dem fließenden Stoff aus ihren schönen Gefäßen schlüpfen, um nur wenige Tage durch die Ausstellung des Greg Lynn zu flattern, bevor sie sterben, um etwas anderes zu sein.
[Greg Lynn, Intricate Surface, MAK-Galerie, Stubenring 5, 1010 Wien,
bis 16. November 2003.]
Willkommen in der wundersamen Welt des Greg Lynn. Man braucht schon ein paar Minuten zur Orientierung, um sich den Objekten und Hüllen in Lynns Ausstellung zu nähern. Aber das ist Teil des Plans: Die MAK-Galerie ist ein Laboratorium der Anschauung - und zu sehen gibt es viel. Von den computeranimierten Bildern am Monitor bis zu den wogenden, quellenden, sich bauschenden Formen in Lynns architektonischen Entwürfen, wie das Modell des Museumszentrums „Arc of the World“ in Costa Rica, das sich unter seiner Plexiglashaube wie ein buntes Reptil oder eine Fleisch fressende Pflanze ausmacht. Die Architekturprojekte des 39-jährigen Amerikaners, wie das BMW-Zentralgebäude in Leipzig oder das Naturkundemuseum in St. Gallen haben immer zwei Gemeinsamkeiten: ihre organisch anmutende Formengebung und ihr bis dato virtuelles Dasein im Computer. Gebaut wurde noch keiner der im MAK präsentierten Entwürfe des jungen Architekten, doch auch das ist in der Architektur des Greg Lynn eine fixe Konstante.
Greg Lynn, geboren 1964 in Vermilion, Ohio, hat wie kein anderer das Zeichenbrett aus der Arbeitswelt der Architektur verbannt. Während die meisten Architekten heute mit Design-Programmen (CAD) arbeiten, geht Lynn seit Jahren noch einen Schritt weiter: Er verwendet Software der Flugzeug- oder Autohersteller oder Software für die Erzeugung von Spezial-Effekten in Filmen. Wo sonst Vertikalität, Schwerkraft und Statik noch immer den Entwurfsprozess bestimmen, programmiert Lynn nur ein abstraktes Gebäudevolumen. Zur Form gerinnt es erst, wenn der Computer es den von Lynn definierten Eigenschaften, wie zum Beispiel Erdanziehungskraft, Windstärke, Straßenverläufe oder Topographie aussetzt. Lynn bestimmt also lediglich die Variablen, nach denen die Form automatisch im Computer wächst. Das klingt vielleicht kompliziert. Aber Lynns theoretischer Hintergrund ist vergleichsweise simpel: Unsere Umwelt ist chaotisch, vielen verschiedenen Einflüssen ausgesetzt und nur in Sprüngen und Momentaufnahmen verstehbar. Also müssen heute auch für architektonische Denkprozesse andere, neue - flexiblere - Denkstrukturen gelten: An die Stelle von Herrschaft, Religion oder Demokratie treten für Greg Lynn die Metaphern der Ökologie, der Natur und der Genetik.
„Bionik“ ist ein von Lynn geprägter Begriff, „ein neues Paradigma der Organisation, des Entwurfs und der Produktion“ - im architektonischen Entstehungsprozess, das der Instabilität der heutigen Welt Rechnung tragen sollte. Seine Gebäude reagieren flexibel auf den Standort. Es ist nicht sehr verwunderlich, dass sich der Shooting Star Lynn, der nach einigen Jahren im Büro von Peter Eisenmann in New York 1994 sein eigenes Studio FORM in Los Angeles gründete, in seiner Generation vor allem als visionärer Theoretiker einen Namen gemacht hat. Lynn ist ein umtriebiger Verkäufer seiner Ideen und wird seit Jahren gerne zu Gastprofessuren geladen - seit 2002 unterrichtet er auch an der Universität für Angewandte Kunst in Wien. Seine aktuelle Wiener Ausstellung im MAK mutet wenig als klassische Architekturausstellung an. Denn die wabernden Außenhüllen von Lynns Schaukästen, die ein bisschen auch an ästhetisches Retrodesign erinnern, umschließen nicht nur Lynns Architekturmodelle, sondern auch Designgegenstände: Gefäße mit bewegten Oberflächen aus der hauseigenen MAK-Sammlung, wie die Silbergefäße aus dem 18. Jahrhundert oder ein Jugendstilglas. Objekte aus Epochen, denen Lynn „eine bionische Sensibilität“ zuspricht.
Ähnlich wie in seiner Architektur der organischen Bauten, in der ein und dasselbe Gebäude immer wieder anders aussehen kann - zumindest in immer neuen Animationen am Computer, werden auch Lynns Designobjekte zwar in limitierter Auflage, aber in großer Variationsbreite hergestellt, wie das Kaffee-/Teeservice für Alessi, das aussieht wie eine wunderbar schillernde organische Blüte oder das transparente Schachbrett, das wie zerschmolzen unter der Plexiglashaut liegt. Multiples als Mutationen also.
Lynn versucht Oberflächen zu schaffen, die sich mit ihrer Umgebung verändern - egal ob in seinen virtuellen Bauten oder im Design: So wie der Schirm der Quallen ein Abbild des Wassers und Flügel der Schmetterlinge ein Abbild der Luft sind. Komplexität, Variation, Verflechtung und Ganzheitlichkeit sind laut Lynn entscheidend für seinen bionischen Prozess: Mensch und Maschine in vollendeter Harmonie. Diese Architektur ist ähnlich der Metamorphose der schimmernd blauen Schmetterlinge, die hinter dem fließenden Stoff aus ihren schönen Gefäßen schlüpfen, um nur wenige Tage durch die Ausstellung des Greg Lynn zu flattern, bevor sie sterben, um etwas anderes zu sein.
[Greg Lynn, Intricate Surface, MAK-Galerie, Stubenring 5, 1010 Wien,
bis 16. November 2003.]
Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard
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