Artikel
Der Gefängnisarchitekt
Kein Fenster breiter als ein Schädel und kein Haken, an dem man sich erhängen kann: James Kesslers Arbeit unterliegt ganz besonderen Einschränkungen.
7. Januar 2004 - Andrea Köhler
Wenn James Kessler über den Farben des tasting menu von New Yorks berühmtem Küchenchef Jean Georges Vongerichten zu meditieren beginnt, ist seine Freude nicht konventionell. Der zierlich ineinandergeringelte Schaum aus Crèmeweiss, Dottergelb und Kressegrün entlockt ihm eine kleine Apologie der Schönheit des Daseins. Das Glück ist dem Mann, der für die Glücklosen baut, der täglich neu ermittelte Annäherungswert auf der Skala jener Extreme, die seine Profession mit sich bringt. James Kessler ist Gefängnisarchitekt. Zu seinem Beruf kam er auf den Umwegen, die sich im Nachhinein als Lebensbahn darstellen.
Das Glück und die Schönheit sinnlicher Kreationen sind nicht Themen, auf die man mit einem Gefängnisdesigner als Erstes zu sprechen kommt. Und doch sind beide, schon weil es um ihre Absenz geht, von essentieller Bedeutung für Kesslers Werk. Der Mann, der mit Enthusiasmus über seine ernüchternde Tätigkeit spricht, hat in den 25 Jahren seiner Berufserfahrung an die dreissig Gefängnisse in England und in den USA gebaut; als Senior Principal in der Washingtoner Niederlassung des Architekturbüros Hellmuth, Obata + Kassenbaum P. C. gilt er als Koryphäe in seinem Fach. Man könnte sich zu diesem Beruf einen langsam resignierenden Moralisten, einen erfahrenen Zyniker oder bestenfalls einen wohlmeinenden Realisten vorstellen - jemanden, dem die Aufgabe, Räume zu bauen, die den Menschen die Freiheit nehmen, alle Visionen gedämpft hat. Das Gegenteil ist der Fall. Nennen wir James Kessler einen pragmatischen Idealisten.
Eigentlich wollte der Architekt Bildhauer werden. Es war dann eher ein Zufall, dass nicht die Kunst-, sondern die Architekturabteilung der Yale School of Art and Architecture sein Bewerbungsprojekt - eine Serie von kleinen, mit Objekten gefüllten Plasticboxen - zuerst in die Hände bekam und James Kessler als ersten Studenten seines Jahrgangs akzeptierte. Kessler betrachtete dies als Fügung und schrieb sich ein. Die Angebote, die das Leben selbst unterbreitet, als Chance zu nehmen, ist eine Einstellung, der er lieber gefolgt ist als einem Masterplan für seine Karriere. Als er 1980 für Boston City sein erstes Gefängnis entwarf, sah er in dem Auftrag nicht nur eine besondere architektonische Herausforderung, sondern auch einen humanen Akt. Das Gefängnis, das damals ersetzt wurde, war eine Kerkeranlage, deren Lebensbedingungen gerichtlich als grausam und unmenschlich eingestuft worden waren. Seither begreift Kessler seinen Beruf als Mission, die «unnötiges Leid zu vermeiden sucht, das ignorantes und unsensibles Design verursacht».
Wo aber bleiben die Visionen, die Freude an ausgefallenen Materialien, wo der Ehrgeiz, in kühnen Schwüngen, eigenwilligen Proportionen oder symbolischen Formen den menschlichen Raum zu gestalten? Wo bleibt das Verlangen nach Schönheit? «Schönheit kann in verschiedenen Gestalten auftreten», sagt James Kessler. «Den Menschen eine lebenswertere Umgebung zu bauen, die Bedingungen für die eingeschränktesten Umstände zu verbessern: Auch das ist schön.» Wahrheit, Schönheit, Humanität - das geht ihm selbstverständlich von den Lippen. Wer ständig mit den schlimmsten Daseinsbedingungen umgeht, muss das falsche Pathos nicht fürchten. Es stellt sich nicht ein.
Ist das Gefängnis von Morris County schön? Ein Gebäude mit einer Fassade aus hellem und fein strukturiertem Beton und einer harmonischen Linienführung, ist Kesslers jüngstes Bauwerk alles andere als eine Festung, die «Strafe!» ruft. Und doch strahlt seine blicklose, in verschiedenen Rot-, Sand- und Blautönen abgesetzte Aussenwand die Botschaft aus, dass hinter diesen Mauern das Dasein der Freiheit beraubt ist.
Woran man ein Gefängnis sofort erkennt, auch wenn es sich im Übrigen von einem Bürogebäude oder Krankenhaus nicht sehr unterscheidet? An den winzigen Proportionen der Fenster. Ihr Umfang ist festgelegt, die Norm etwas kleiner als der Durchmesser eines menschlichen Schädels. Das gibt den Gefängnisfassaden oft etwas Trostloses. Um dem entgegenzuwirken, hat Kessler in Morristown jeweils zwei Fenster übereinander angeordnet und die Fensterfront durch einen blauvioletten Streifen optisch vergrössert. «Die Architektur ist nicht dazu da, einzuschüchtern oder gar zu bestrafen», sagt er. Wer die Tatsache akzeptiert, dass unser Rechtssystem mit dem Entzug der persönlichen Lebenszeit auf Vergehen antwortet, sucht nicht die Verlängerung der Demütigungen in die Architektur hinein. Während sein Glaube an das herrschende Rechtssystem als «das beste aller möglichen» konstant blieb, hat ihn sein über die Jahre gewonnenes Verständnis für die Situation der Gefangenen an seiner Mission festhalten lassen. «Der Freiheitsentzug ist Strafe genug.»
Das war einmal anders. Die Freiheitsberaubung, die sich an der Wende zum 19. Jahrhundert als rechtliche Strafform endgültig etablierte, war ursprünglich Aufgabe einer rigiden Institution, die sämtliche Delinquenten demselben Regelwerk unterwarf. Heute muss ein Architekt ganz verschiedene, zum Teil widersprüchliche Anliegen berücksichtigen. Es sind ja nicht nur die an dem Bau beteiligten Interessengruppen aus Staat, Industrie und Gesellschaft, die Bedingungen stellen und Ausgaben festlegen, es sind auch strukturell höchst gegensätzliche Aspekte: die Erfordernisse der Sicherheit und die Bedürfnisse der Angestellten zum Beispiel, die häufig mehr Lebenszeit im Gefängnis verbringen als dessen Insassen; die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen - steigt die Kriminalität, oder nimmt sie ab. Tausenderlei Auflagen bürden der Planung Einschränkungen auf. Kessler versteht sich als Treuhänder dieser Ansprüche, ohne die eigenen - auch ästhetischen - Vorstellungen zu verraten. Zugleich führt die Einsicht den Zeichenstift, «dass wir alle, zu Unrecht oder durch Zufall oder durch Not, an jenem Punkt landen könnten, an dem die Spirale sich nur noch abwärts dreht».
Die verwaltete Welt des Arrests hat an diesem strahlenden Novembertag nichts Monströses. Es herrscht Gelassenheit unter den diensthabenden Polizisten. Die Sheriffs und Officers von New Jersey mit ihrer - schon aus Selbstschutz - eher bedingten Einsicht in die Eigengesetzlichkeit, die ins Verbrechen führt, diese irgendwie alterslos aussehenden blonden Männer mit Namen Jeff oder Joe, sie haben einen harten Job. Der Sheriff, dessen furchteinflössende Oberarme das gestärkte Hemd seiner Uniform zu einer blütenweissen Gebirgslandschaft modellieren, arbeitet seit 18 Jahren im Gefängnis von Morris County. Er hat den blauen Blick dessen, der sich fraglos auf Seiten von Recht und Ordnung weiss. Das alte Gefängnis hat er gehasst. Ein Kerkergebäude war das, eine Zuchtanstalt, die das Wachpersonal in die Strafe mit einschloss, beispielsweise durch eine marode Heizungsanlage, die alle - Insassen wie Beamte - bei 30 Grad Hitze zu einer Leidensgemeinschaft zusammenschweisste. «Dies hier ist kein Gefängnis mehr», sagt er, «dies hier ist ein Hotel.»
In der Tat: die lichtdurchflutete Eingangshalle des neuen Gebäudes lässt nicht an einen Knast denken, eher an ein Krankenhaus. Zumal die Besucher, die an diesem sonnigen Freitagmorgen nur spärlich hereinschneien, mit jener Zuvorkommenheit bedacht werden, die den Schrecken dämmt. Irgendwo lauert in einem Gefängnis natürlich immer die Panik, und dem sollen die Räumlichkeiten entgegenwirken. Warum nicht, zum Beispiel, durch die ästhetische Dignität des Materials? Die Bodenfliesen sind aus hellem Terrazzo, die Bänke aus Stahl und schwarzem gehärtetem Kunststoff; vor der getönten Fensterfront strahlen die terrassenförmigen Beete eine gewisse Zuversicht aus. An den Wänden sind, neben Landschaftsprospekten, die Auszeichnungen und Devotionalien amtlichen Diensteifers aufgeführt. Gemessen an all den Medaillen und mahagonigerahmten Gesichtern, muss dieser Diensteifer vorbildlich sein. Auch Kesslers Bauwerk hat einen Preis gewonnen - den «Grand Award for The Outstanding Concrete Building of 1999». Die Sheriffs sind auf ihr Gefängnis stolz.
Die Morris County Correctional Facility ist zuständig für jene Verbrechen, die mit einer Haftstrafe unter 365 Tagen geahndet werden, sowie für Menschen in Untersuchungshaft. Das Gesetz sagt, dass diese so lange als unschuldig gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist. Dem muss die Räumlichkeit Rechnung tragen. «Sie darf nicht durch Kälte schuldigsprechen», sagt Kessler, «durch Brutalität verurteilen oder das ohnehin oft angeschlagene Selbstbewusstsein der Inhaftierten zu brechen versuchen.» Gleichwohl stellt man sich das schwere Eisentor, das die Häftlinge bei ihrer Einlieferung passieren, unwillkürlich in der zeitlupenhaften Bewegung des Schliessens vor - so langsam, als würde dieser Augenblick niemals vergehen. Der Moment, in dem die Schiebetüren einander berühren, hat für die Einbildungskraft etwas Endgültiges - von nun an ist jeder, ob Mörder, ob Ladendieb, nicht mehr Herr seiner Zeit.
Womöglich liegt eine der grössten Herausforderungen für den Architekten darin, in einem Raum, der die Bewegungsfreiheit einschränken soll, so viel Platz wie möglich zu schaffen. James Kessler ist der Agent eines paradoxen Systems. Die Architektur soll helfen, den Freiheitsverlust in einen Rehabilitationsprozess überzuführen. Dem Wohnbereich kommt dabei eine Hauptfunktion zu. Die Bunkermentalität einer vom Wachpersonal abgeschrittenen Kerkerreihe wurde im Morris County Jail ersetzt durch die Anordnung der Zellen um einen offenen Raum herum, in dem sich die Insassen tagsüber aufhalten. Direct Supervising nennt man das elektronische Überwachungssystem, dank dem der diensthabende Beamte sich nun frei unter den Häftlingen bewegen kann und nicht mehr automatisch zum Feind mit Schlüsselgewalt mutiert.
Was man sofort als Bedrohung empfindet: die Vorstellung, nicht mehr über den eigenen Rhythmus, den eigenen Schlaf, die Nahrungsaufnahme, die eigene Kleidung und schliesslich die eigenen Gedanken bestimmen zu können. Neben der Eintönigkeit der Speisen sei es vor allem das hoffnungsraubende Kerkergrau, worüber Gefängnisinsassen am meisten klagen, sagt Kessler. In den in hellem Gelb, warmem Karmesinrot und ruhigem Grün gehaltenen Räumen des Morris-County-Gefängnisses spürt man den lindernden Einfluss der Farben. An einem Ort, an dem alle Sinneseindrücke der Fremdbestimmung unterworfen sind, bedeutet bereits der Umstand, dass die Häftlinge in den Zellen den Lichtschalter selber betätigen können, eine mindestens ebenso grosse Erleichterung wie der Einfall natürlichen Tageslichts, der neben dem Reglement des Kontrollapparats noch einen anderen Zeitrhythmus etabliert.
Das Urbild einer Gefängniszelle ist der Käfig. Im Morris-County-Gefängnis gibt es kein Gitter, stattdessen jenes Fensterformat, das die Passform des Kopfes knapp unterschreitet. Es kann geschehen, dass die Zukunft auf den immergleichen Himmelsausschnitt zusammenschnurrt. Was bleibt, ist das Zählen der Tage. Wenn überhaupt noch gezählt wird und nicht das Gleichmass der Stunden jedes Futur bald völlig zerstört hat. Woran muss ein Gefängnisarchitekt denken? Es braucht keine Gitterstäbe vorm Fenster, um sich daran zu erhängen, irgendein Aufhänger kurz über dem Boden genügt, um sich mit dem eigenen Körpergewicht das Leben zu nehmen. Daran muss ein Gefängnisarchitekt denken, wenn er die Betten entwirft, das Klo und das Waschbecken, den kleinen Tisch oder den bruchsicheren Spiegel aus Eisen oder aus Stahl. Er muss aber auch daran denken, dass kein Design auf der Welt einen zum Selbstmord entschlossenen Menschen aufhalten kann.
Aus einem Maximum an Einschränkungen ein Minimum an Lebensqualität zu schlagen - das ist, in Kürze, die Definition der Arbeit eines Gefängnisdesigners. «Auch Einschränkungen können ein kreativer Ansporn sein», sagt Kessler, und er sagt es nicht defensiv. Hat er jemals so etwas wie Verachtung für seine Arbeit gespürt? Das nicht. Womöglich sei manch einer der Ansicht, er vergeude seine Talente auf etwas, das jeden schöpferischen Gedanken per definitionem negiert. Doch unter den härtesten Forderungen der Wirklichkeit am Möglichkeitssinn zu arbeiten, sei nicht bloss eine vom Kosten-Nutzen-Standpunkt bestimmte Fronarbeit.
Wenn er seine Arbeit einmal nicht mehr in den Dienst der Optimierung stellen könnte, würde er diesen Job wohl quittieren. Vielleicht hat der Architekt auch deshalb nie von der Bildhauerei gelassen. Die Gesichter, die er seinen fragilen und energiegeladenen Objekten seit nun beinahe 30 Jahren wie eine Maserung des menschlichen Ausdrucks aufprägt, spiegeln ein Dasein zwischen den Extremen - Schönheit und Schrecken zugleich.
[Andrea Köhler ist Kulturkorrespondentin der NZZ in New York.]
Das Glück und die Schönheit sinnlicher Kreationen sind nicht Themen, auf die man mit einem Gefängnisdesigner als Erstes zu sprechen kommt. Und doch sind beide, schon weil es um ihre Absenz geht, von essentieller Bedeutung für Kesslers Werk. Der Mann, der mit Enthusiasmus über seine ernüchternde Tätigkeit spricht, hat in den 25 Jahren seiner Berufserfahrung an die dreissig Gefängnisse in England und in den USA gebaut; als Senior Principal in der Washingtoner Niederlassung des Architekturbüros Hellmuth, Obata + Kassenbaum P. C. gilt er als Koryphäe in seinem Fach. Man könnte sich zu diesem Beruf einen langsam resignierenden Moralisten, einen erfahrenen Zyniker oder bestenfalls einen wohlmeinenden Realisten vorstellen - jemanden, dem die Aufgabe, Räume zu bauen, die den Menschen die Freiheit nehmen, alle Visionen gedämpft hat. Das Gegenteil ist der Fall. Nennen wir James Kessler einen pragmatischen Idealisten.
Eigentlich wollte der Architekt Bildhauer werden. Es war dann eher ein Zufall, dass nicht die Kunst-, sondern die Architekturabteilung der Yale School of Art and Architecture sein Bewerbungsprojekt - eine Serie von kleinen, mit Objekten gefüllten Plasticboxen - zuerst in die Hände bekam und James Kessler als ersten Studenten seines Jahrgangs akzeptierte. Kessler betrachtete dies als Fügung und schrieb sich ein. Die Angebote, die das Leben selbst unterbreitet, als Chance zu nehmen, ist eine Einstellung, der er lieber gefolgt ist als einem Masterplan für seine Karriere. Als er 1980 für Boston City sein erstes Gefängnis entwarf, sah er in dem Auftrag nicht nur eine besondere architektonische Herausforderung, sondern auch einen humanen Akt. Das Gefängnis, das damals ersetzt wurde, war eine Kerkeranlage, deren Lebensbedingungen gerichtlich als grausam und unmenschlich eingestuft worden waren. Seither begreift Kessler seinen Beruf als Mission, die «unnötiges Leid zu vermeiden sucht, das ignorantes und unsensibles Design verursacht».
Wo aber bleiben die Visionen, die Freude an ausgefallenen Materialien, wo der Ehrgeiz, in kühnen Schwüngen, eigenwilligen Proportionen oder symbolischen Formen den menschlichen Raum zu gestalten? Wo bleibt das Verlangen nach Schönheit? «Schönheit kann in verschiedenen Gestalten auftreten», sagt James Kessler. «Den Menschen eine lebenswertere Umgebung zu bauen, die Bedingungen für die eingeschränktesten Umstände zu verbessern: Auch das ist schön.» Wahrheit, Schönheit, Humanität - das geht ihm selbstverständlich von den Lippen. Wer ständig mit den schlimmsten Daseinsbedingungen umgeht, muss das falsche Pathos nicht fürchten. Es stellt sich nicht ein.
Ist das Gefängnis von Morris County schön? Ein Gebäude mit einer Fassade aus hellem und fein strukturiertem Beton und einer harmonischen Linienführung, ist Kesslers jüngstes Bauwerk alles andere als eine Festung, die «Strafe!» ruft. Und doch strahlt seine blicklose, in verschiedenen Rot-, Sand- und Blautönen abgesetzte Aussenwand die Botschaft aus, dass hinter diesen Mauern das Dasein der Freiheit beraubt ist.
Woran man ein Gefängnis sofort erkennt, auch wenn es sich im Übrigen von einem Bürogebäude oder Krankenhaus nicht sehr unterscheidet? An den winzigen Proportionen der Fenster. Ihr Umfang ist festgelegt, die Norm etwas kleiner als der Durchmesser eines menschlichen Schädels. Das gibt den Gefängnisfassaden oft etwas Trostloses. Um dem entgegenzuwirken, hat Kessler in Morristown jeweils zwei Fenster übereinander angeordnet und die Fensterfront durch einen blauvioletten Streifen optisch vergrössert. «Die Architektur ist nicht dazu da, einzuschüchtern oder gar zu bestrafen», sagt er. Wer die Tatsache akzeptiert, dass unser Rechtssystem mit dem Entzug der persönlichen Lebenszeit auf Vergehen antwortet, sucht nicht die Verlängerung der Demütigungen in die Architektur hinein. Während sein Glaube an das herrschende Rechtssystem als «das beste aller möglichen» konstant blieb, hat ihn sein über die Jahre gewonnenes Verständnis für die Situation der Gefangenen an seiner Mission festhalten lassen. «Der Freiheitsentzug ist Strafe genug.»
Das war einmal anders. Die Freiheitsberaubung, die sich an der Wende zum 19. Jahrhundert als rechtliche Strafform endgültig etablierte, war ursprünglich Aufgabe einer rigiden Institution, die sämtliche Delinquenten demselben Regelwerk unterwarf. Heute muss ein Architekt ganz verschiedene, zum Teil widersprüchliche Anliegen berücksichtigen. Es sind ja nicht nur die an dem Bau beteiligten Interessengruppen aus Staat, Industrie und Gesellschaft, die Bedingungen stellen und Ausgaben festlegen, es sind auch strukturell höchst gegensätzliche Aspekte: die Erfordernisse der Sicherheit und die Bedürfnisse der Angestellten zum Beispiel, die häufig mehr Lebenszeit im Gefängnis verbringen als dessen Insassen; die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen - steigt die Kriminalität, oder nimmt sie ab. Tausenderlei Auflagen bürden der Planung Einschränkungen auf. Kessler versteht sich als Treuhänder dieser Ansprüche, ohne die eigenen - auch ästhetischen - Vorstellungen zu verraten. Zugleich führt die Einsicht den Zeichenstift, «dass wir alle, zu Unrecht oder durch Zufall oder durch Not, an jenem Punkt landen könnten, an dem die Spirale sich nur noch abwärts dreht».
Die verwaltete Welt des Arrests hat an diesem strahlenden Novembertag nichts Monströses. Es herrscht Gelassenheit unter den diensthabenden Polizisten. Die Sheriffs und Officers von New Jersey mit ihrer - schon aus Selbstschutz - eher bedingten Einsicht in die Eigengesetzlichkeit, die ins Verbrechen führt, diese irgendwie alterslos aussehenden blonden Männer mit Namen Jeff oder Joe, sie haben einen harten Job. Der Sheriff, dessen furchteinflössende Oberarme das gestärkte Hemd seiner Uniform zu einer blütenweissen Gebirgslandschaft modellieren, arbeitet seit 18 Jahren im Gefängnis von Morris County. Er hat den blauen Blick dessen, der sich fraglos auf Seiten von Recht und Ordnung weiss. Das alte Gefängnis hat er gehasst. Ein Kerkergebäude war das, eine Zuchtanstalt, die das Wachpersonal in die Strafe mit einschloss, beispielsweise durch eine marode Heizungsanlage, die alle - Insassen wie Beamte - bei 30 Grad Hitze zu einer Leidensgemeinschaft zusammenschweisste. «Dies hier ist kein Gefängnis mehr», sagt er, «dies hier ist ein Hotel.»
In der Tat: die lichtdurchflutete Eingangshalle des neuen Gebäudes lässt nicht an einen Knast denken, eher an ein Krankenhaus. Zumal die Besucher, die an diesem sonnigen Freitagmorgen nur spärlich hereinschneien, mit jener Zuvorkommenheit bedacht werden, die den Schrecken dämmt. Irgendwo lauert in einem Gefängnis natürlich immer die Panik, und dem sollen die Räumlichkeiten entgegenwirken. Warum nicht, zum Beispiel, durch die ästhetische Dignität des Materials? Die Bodenfliesen sind aus hellem Terrazzo, die Bänke aus Stahl und schwarzem gehärtetem Kunststoff; vor der getönten Fensterfront strahlen die terrassenförmigen Beete eine gewisse Zuversicht aus. An den Wänden sind, neben Landschaftsprospekten, die Auszeichnungen und Devotionalien amtlichen Diensteifers aufgeführt. Gemessen an all den Medaillen und mahagonigerahmten Gesichtern, muss dieser Diensteifer vorbildlich sein. Auch Kesslers Bauwerk hat einen Preis gewonnen - den «Grand Award for The Outstanding Concrete Building of 1999». Die Sheriffs sind auf ihr Gefängnis stolz.
Die Morris County Correctional Facility ist zuständig für jene Verbrechen, die mit einer Haftstrafe unter 365 Tagen geahndet werden, sowie für Menschen in Untersuchungshaft. Das Gesetz sagt, dass diese so lange als unschuldig gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist. Dem muss die Räumlichkeit Rechnung tragen. «Sie darf nicht durch Kälte schuldigsprechen», sagt Kessler, «durch Brutalität verurteilen oder das ohnehin oft angeschlagene Selbstbewusstsein der Inhaftierten zu brechen versuchen.» Gleichwohl stellt man sich das schwere Eisentor, das die Häftlinge bei ihrer Einlieferung passieren, unwillkürlich in der zeitlupenhaften Bewegung des Schliessens vor - so langsam, als würde dieser Augenblick niemals vergehen. Der Moment, in dem die Schiebetüren einander berühren, hat für die Einbildungskraft etwas Endgültiges - von nun an ist jeder, ob Mörder, ob Ladendieb, nicht mehr Herr seiner Zeit.
Womöglich liegt eine der grössten Herausforderungen für den Architekten darin, in einem Raum, der die Bewegungsfreiheit einschränken soll, so viel Platz wie möglich zu schaffen. James Kessler ist der Agent eines paradoxen Systems. Die Architektur soll helfen, den Freiheitsverlust in einen Rehabilitationsprozess überzuführen. Dem Wohnbereich kommt dabei eine Hauptfunktion zu. Die Bunkermentalität einer vom Wachpersonal abgeschrittenen Kerkerreihe wurde im Morris County Jail ersetzt durch die Anordnung der Zellen um einen offenen Raum herum, in dem sich die Insassen tagsüber aufhalten. Direct Supervising nennt man das elektronische Überwachungssystem, dank dem der diensthabende Beamte sich nun frei unter den Häftlingen bewegen kann und nicht mehr automatisch zum Feind mit Schlüsselgewalt mutiert.
Was man sofort als Bedrohung empfindet: die Vorstellung, nicht mehr über den eigenen Rhythmus, den eigenen Schlaf, die Nahrungsaufnahme, die eigene Kleidung und schliesslich die eigenen Gedanken bestimmen zu können. Neben der Eintönigkeit der Speisen sei es vor allem das hoffnungsraubende Kerkergrau, worüber Gefängnisinsassen am meisten klagen, sagt Kessler. In den in hellem Gelb, warmem Karmesinrot und ruhigem Grün gehaltenen Räumen des Morris-County-Gefängnisses spürt man den lindernden Einfluss der Farben. An einem Ort, an dem alle Sinneseindrücke der Fremdbestimmung unterworfen sind, bedeutet bereits der Umstand, dass die Häftlinge in den Zellen den Lichtschalter selber betätigen können, eine mindestens ebenso grosse Erleichterung wie der Einfall natürlichen Tageslichts, der neben dem Reglement des Kontrollapparats noch einen anderen Zeitrhythmus etabliert.
Das Urbild einer Gefängniszelle ist der Käfig. Im Morris-County-Gefängnis gibt es kein Gitter, stattdessen jenes Fensterformat, das die Passform des Kopfes knapp unterschreitet. Es kann geschehen, dass die Zukunft auf den immergleichen Himmelsausschnitt zusammenschnurrt. Was bleibt, ist das Zählen der Tage. Wenn überhaupt noch gezählt wird und nicht das Gleichmass der Stunden jedes Futur bald völlig zerstört hat. Woran muss ein Gefängnisarchitekt denken? Es braucht keine Gitterstäbe vorm Fenster, um sich daran zu erhängen, irgendein Aufhänger kurz über dem Boden genügt, um sich mit dem eigenen Körpergewicht das Leben zu nehmen. Daran muss ein Gefängnisarchitekt denken, wenn er die Betten entwirft, das Klo und das Waschbecken, den kleinen Tisch oder den bruchsicheren Spiegel aus Eisen oder aus Stahl. Er muss aber auch daran denken, dass kein Design auf der Welt einen zum Selbstmord entschlossenen Menschen aufhalten kann.
Aus einem Maximum an Einschränkungen ein Minimum an Lebensqualität zu schlagen - das ist, in Kürze, die Definition der Arbeit eines Gefängnisdesigners. «Auch Einschränkungen können ein kreativer Ansporn sein», sagt Kessler, und er sagt es nicht defensiv. Hat er jemals so etwas wie Verachtung für seine Arbeit gespürt? Das nicht. Womöglich sei manch einer der Ansicht, er vergeude seine Talente auf etwas, das jeden schöpferischen Gedanken per definitionem negiert. Doch unter den härtesten Forderungen der Wirklichkeit am Möglichkeitssinn zu arbeiten, sei nicht bloss eine vom Kosten-Nutzen-Standpunkt bestimmte Fronarbeit.
Wenn er seine Arbeit einmal nicht mehr in den Dienst der Optimierung stellen könnte, würde er diesen Job wohl quittieren. Vielleicht hat der Architekt auch deshalb nie von der Bildhauerei gelassen. Die Gesichter, die er seinen fragilen und energiegeladenen Objekten seit nun beinahe 30 Jahren wie eine Maserung des menschlichen Ausdrucks aufprägt, spiegeln ein Dasein zwischen den Extremen - Schönheit und Schrecken zugleich.
[Andrea Köhler ist Kulturkorrespondentin der NZZ in New York.]
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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