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„Die Niederlande neu gestalten“
Werkstatt
Jo Coenen als niederländischer Reichsbaumeister
9. Januar 2004 - Klaus Englert
Der aus Maastricht stammende Jo Coenen steht einer Institution vor, die in der Welt ihresgleichen sucht. Er ist nämlich Reichsbaumeister der Niederlande und damit mitverantwortlich für die staatliche Architekturpolitik. Die einzigartige Stellung der niederländischen Architektur im internationalen Kontext ist also keineswegs zufällig.
Die Maastrichter müssen ein glückliches Völkchen sein. Die Stadt hat sich eine beschauliche Atmosphäre erhalten, von der sie besonders an Sommertagen zehrt. Schnell füllen sich dann die Strassencafés des Vrigthof-Platzes, und während man sich im Schatten der Sant Servaas Kerk verwöhnen lässt, kommt das Gefühl auf, in längst vergangene Zeiten versetzt zu sein. Kaum zu glauben, dass nur einen Steinwurf entfernt einer der eigenwilligsten Architekten der Niederlande in einem herrschaftlichen Altbau sein Atelier eingerichtet hat. Jo Coenen ist vieles in einer Person: Hochschullehrer, Architekt, Stadtplaner - und Reichsbaumeister. Als solcher ist er mit den höchsten planerischen Aufgaben betreut und berät die Regierung in ihren Entscheidungen.
Bevor Coenen vor zwei Jahren in die oberste Bauinstanz des Landes gewählt wurde, hatte er sich als Architekt einen Namen gemacht. So baute er 1993 in Rotterdam den Neubau des renommierten Niederländischen Architektur-Instituts (NAI), in welchem die einzelnen Gebäudeteile auf Kollisionskurs zu gehen scheinen. Impulsgebend sind auch spätere Projekte: Im Düsseldorfer Medienhafen vollendete er kürzlich einen 16-geschossigen Büroturm mit Fassaden aus Muschelkalk und Glas, der wie ein Ausrufezeichen am südlichen Ende des Hafenbeckens steht. Und auf dem Amsterdamer Oosterdok-Eiland errichtet er zurzeit eine «Stadtbibliothek». Aber Coenen besteht darauf, dass er sich neben seiner Tätigkeit als Architekt immer auch als Stadtplaner verstanden hat.
Funktionsmischung
So erstellte er für das unweit der Maastrichter Altstadt gelegene Industriegelände von «Sphinx Céramique» einen Masterplan mit einer Funktionsmischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur, für den er international anerkannte Kollegen an die Maas holen konnte. Vertreten ist sein Tessiner Lehrer Luigi Snozzi, der entlang des Ufers Apartmentblocks wie Waben aneinander reihte. Mario Botta bewies mit «La Fortezza» ein weiteres Mal seinen Hang zu festungsartigen Backsteinarchitekturen, Wiel Arets verlieh dem «Indigo Office Building» eine markante Fassade mit Fensterbändern, und Alvaro Siza baute neben sein Turmgebäude eine sichelförmige Anlage für Wohnungen und Büros. Vor ihnen hatte schon Aldo Rossi mit dem Bonnefanten-Museum ein Wahrzeichen errichtet. Schliesslich hat auch Coenen auf dem Areal gebaut. Am eindrucksvollsten gelang ihm dabei die Renovierung eines Theaterhauses und der Anbau eines Cafés, von dessen Terrasse der Blick bis zur Maas schweift.
Im Gespräch erzählt Coenen von seinem ersten Grossprojekt, dem Masterplan für die KNSM- Halbinsel am Amsterdamer Hafen, mit dem er den öffentlichen Raum der Stadt reaktivieren wollte. «Anders als in unseren Nachbarländern gibt es in den Niederlanden Politiker und Bürger, die noch immer Wert auf öffentliche Plätze legen.» Wenn man heute durch die fast menschenleeren Strassen der einstigen Hafenmole geht, versteht man schnell, dass auf KNSM und den benachbarten Halbinseln Java, Borneo und Sporenburg allzu sehr auf verdichtetes Wohnen gesetzt wurde - zulasten einer lebendigen Funktionsmischung. Es dauerte einige Jahre, bis sich die Hafenfront belebte durch die Cafés, Restaurants und Geschäfte in Kollhoffs «Piräus»-Gebäude und im «Hofhaus» von Diener & Diener. Nun aber, in seiner neuen Funktion als Reichsbaumeister der Niederlande, möchte Coenen alles besser machen. Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verliess er die beengten Räume des Ministeriums und zog mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern in ein grösseres Gebäude in Den Haag um. «Mir ist die räumliche Distanz zur Regierung wichtig, denn es ist ja meine Aufgabe, das Kabinett bei Bauaufgaben kritisch zu beraten.» Kurz darauf kam der Paukenschlag: Der neue Reichsbaumeister Coenen veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel «Die Niederlande gestalten». Diese «Nota» stellte klar, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik in den nächsten Jahren folgen soll.
Der erste Satz beruhigte zwar noch die Gemüter durch den Hinweis auf das internationale Ansehen der niederländischen Architektur, doch dann heisst es: «Der Schwund öffentlicher Räume ist besorgniserregend, Wohnsiedlungen wuchern über die Grenzen von Städten und Dörfern.» Gleichzeitig sei die Qualität der öffentlichen Räume in den Städten so erschreckend, dass «die Niederländer sich wie zusammengepfercht» fühlen. Die erste, vor zwölf Jahren verabschiedete Nota zu «Raum für Architektur» setzte die Bedingungen für bauliche Qualität fest, während die folgende Nota von 1996 («Architektur des Raums») Richtlinien für die städtische Entwicklung und den Landverbrauch vorgab. Coenen erklärt, dass die neue Nota die früheren weiterführe, sich aber auch deutlich von ihnen unterscheide: «Wir müssen uns mit der gesamten gestalterischen Skala beschäftigen - von der Anfertigung eines Stuhls bis zum Städtebau, von der Stadt- bis zur Regionalplanung.»
Langfristige Konzepte
In seiner Nota «Die Niederlande entwerfen» möchte Coenen verschiedenste Fachkräfte zusammenbinden, um die gegenwärtige «Krise der Architektur» zu überwinden. Man versteht, dass Coenen die Herrschaft von Spezialisten entschieden ablehnt: «Wenn ästhetische Fragen im Vordergrund stehen, dann wird die Architektur zusehends eingeschränkt, und der Beruf verliert seinen Sinn.» Am liebsten möchte Coenen die Entscheidungen aus den Händen der Baukoordinatoren und Manager nehmen und sie wieder denen übergeben, die weniger durch das Schielen nach hoher Rendite als durch entwerferisches Denken geleitet werden. Um seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, machte Coenen zehn «Grosse Projekte» zum Kern seiner Architekturnota. So verschieden diese Projekte anmuten, wollen sie doch «eine ästhetisch anspruchsvolle Mischung aus Architektur, Infrastruktur und Landschaft» erreichen. «Delta Metropolis», das wohl anspruchsvollste Projekt, verfolgt die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes urbanes System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege. Andere Projekte sehen die Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum durch die Sevillaner Cruz und Ortiz oder den Schutz öffentlicher Stadträume vor rücksichtslos agierenden Developern vor.
«Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt Coenen selbstbewusst. Er, der Professor für «Gebäudelehre und Entwerfen» an der TU Karlsruhe und später Gastprofessor in Aachen war, weiss sehr wohl, dass die niederländische Architekturpolitik klare Vorzüge besitzt. Versucht die Regierung doch möglichst viele langfristige Konzepte für die Zukunft des Landes voranzutreiben. Allein die Vielzahl von lokalen, regionalen und staatlichen Architekturzentren befruchtet die Diskussionskultur. Coenen erinnert beispielsweise an die Debatte anlässlich der Nota «Belvedere», die darauf zielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen. Die Anteilnahme an dieser Diskussion, so Coenen, sei vergleichbar gewesen mit der Breitenwirkung der IBA Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industriell geprägte Ruhrgebiet in einen vollkommen neuen Kulturraum transformiert habe. Für ihn machen die Diskussionen der Notas deutlich, dass Architektur jeden angehe. «Deswegen steht die Tür meines Ateliers jedem offen. Es ist doch eine wunderbare Einrichtung, wenn das Entwurfsatelier eine Verlängerung der Strasse ist. Jeder kann hereinkommen.»
Die Maastrichter müssen ein glückliches Völkchen sein. Die Stadt hat sich eine beschauliche Atmosphäre erhalten, von der sie besonders an Sommertagen zehrt. Schnell füllen sich dann die Strassencafés des Vrigthof-Platzes, und während man sich im Schatten der Sant Servaas Kerk verwöhnen lässt, kommt das Gefühl auf, in längst vergangene Zeiten versetzt zu sein. Kaum zu glauben, dass nur einen Steinwurf entfernt einer der eigenwilligsten Architekten der Niederlande in einem herrschaftlichen Altbau sein Atelier eingerichtet hat. Jo Coenen ist vieles in einer Person: Hochschullehrer, Architekt, Stadtplaner - und Reichsbaumeister. Als solcher ist er mit den höchsten planerischen Aufgaben betreut und berät die Regierung in ihren Entscheidungen.
Bevor Coenen vor zwei Jahren in die oberste Bauinstanz des Landes gewählt wurde, hatte er sich als Architekt einen Namen gemacht. So baute er 1993 in Rotterdam den Neubau des renommierten Niederländischen Architektur-Instituts (NAI), in welchem die einzelnen Gebäudeteile auf Kollisionskurs zu gehen scheinen. Impulsgebend sind auch spätere Projekte: Im Düsseldorfer Medienhafen vollendete er kürzlich einen 16-geschossigen Büroturm mit Fassaden aus Muschelkalk und Glas, der wie ein Ausrufezeichen am südlichen Ende des Hafenbeckens steht. Und auf dem Amsterdamer Oosterdok-Eiland errichtet er zurzeit eine «Stadtbibliothek». Aber Coenen besteht darauf, dass er sich neben seiner Tätigkeit als Architekt immer auch als Stadtplaner verstanden hat.
Funktionsmischung
So erstellte er für das unweit der Maastrichter Altstadt gelegene Industriegelände von «Sphinx Céramique» einen Masterplan mit einer Funktionsmischung aus Wohnen, Arbeiten, Freizeit und Kultur, für den er international anerkannte Kollegen an die Maas holen konnte. Vertreten ist sein Tessiner Lehrer Luigi Snozzi, der entlang des Ufers Apartmentblocks wie Waben aneinander reihte. Mario Botta bewies mit «La Fortezza» ein weiteres Mal seinen Hang zu festungsartigen Backsteinarchitekturen, Wiel Arets verlieh dem «Indigo Office Building» eine markante Fassade mit Fensterbändern, und Alvaro Siza baute neben sein Turmgebäude eine sichelförmige Anlage für Wohnungen und Büros. Vor ihnen hatte schon Aldo Rossi mit dem Bonnefanten-Museum ein Wahrzeichen errichtet. Schliesslich hat auch Coenen auf dem Areal gebaut. Am eindrucksvollsten gelang ihm dabei die Renovierung eines Theaterhauses und der Anbau eines Cafés, von dessen Terrasse der Blick bis zur Maas schweift.
Im Gespräch erzählt Coenen von seinem ersten Grossprojekt, dem Masterplan für die KNSM- Halbinsel am Amsterdamer Hafen, mit dem er den öffentlichen Raum der Stadt reaktivieren wollte. «Anders als in unseren Nachbarländern gibt es in den Niederlanden Politiker und Bürger, die noch immer Wert auf öffentliche Plätze legen.» Wenn man heute durch die fast menschenleeren Strassen der einstigen Hafenmole geht, versteht man schnell, dass auf KNSM und den benachbarten Halbinseln Java, Borneo und Sporenburg allzu sehr auf verdichtetes Wohnen gesetzt wurde - zulasten einer lebendigen Funktionsmischung. Es dauerte einige Jahre, bis sich die Hafenfront belebte durch die Cafés, Restaurants und Geschäfte in Kollhoffs «Piräus»-Gebäude und im «Hofhaus» von Diener & Diener. Nun aber, in seiner neuen Funktion als Reichsbaumeister der Niederlande, möchte Coenen alles besser machen. Nach seinem Amtsantritt vor zwei Jahren verliess er die beengten Räume des Ministeriums und zog mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern in ein grösseres Gebäude in Den Haag um. «Mir ist die räumliche Distanz zur Regierung wichtig, denn es ist ja meine Aufgabe, das Kabinett bei Bauaufgaben kritisch zu beraten.» Kurz darauf kam der Paukenschlag: Der neue Reichsbaumeister Coenen veröffentlichte eine Programmschrift mit dem Titel «Die Niederlande gestalten». Diese «Nota» stellte klar, welchen Richtlinien die staatliche Baupolitik in den nächsten Jahren folgen soll.
Der erste Satz beruhigte zwar noch die Gemüter durch den Hinweis auf das internationale Ansehen der niederländischen Architektur, doch dann heisst es: «Der Schwund öffentlicher Räume ist besorgniserregend, Wohnsiedlungen wuchern über die Grenzen von Städten und Dörfern.» Gleichzeitig sei die Qualität der öffentlichen Räume in den Städten so erschreckend, dass «die Niederländer sich wie zusammengepfercht» fühlen. Die erste, vor zwölf Jahren verabschiedete Nota zu «Raum für Architektur» setzte die Bedingungen für bauliche Qualität fest, während die folgende Nota von 1996 («Architektur des Raums») Richtlinien für die städtische Entwicklung und den Landverbrauch vorgab. Coenen erklärt, dass die neue Nota die früheren weiterführe, sich aber auch deutlich von ihnen unterscheide: «Wir müssen uns mit der gesamten gestalterischen Skala beschäftigen - von der Anfertigung eines Stuhls bis zum Städtebau, von der Stadt- bis zur Regionalplanung.»
Langfristige Konzepte
In seiner Nota «Die Niederlande entwerfen» möchte Coenen verschiedenste Fachkräfte zusammenbinden, um die gegenwärtige «Krise der Architektur» zu überwinden. Man versteht, dass Coenen die Herrschaft von Spezialisten entschieden ablehnt: «Wenn ästhetische Fragen im Vordergrund stehen, dann wird die Architektur zusehends eingeschränkt, und der Beruf verliert seinen Sinn.» Am liebsten möchte Coenen die Entscheidungen aus den Händen der Baukoordinatoren und Manager nehmen und sie wieder denen übergeben, die weniger durch das Schielen nach hoher Rendite als durch entwerferisches Denken geleitet werden. Um seinem Anspruch Nachdruck zu verleihen, machte Coenen zehn «Grosse Projekte» zum Kern seiner Architekturnota. So verschieden diese Projekte anmuten, wollen sie doch «eine ästhetisch anspruchsvolle Mischung aus Architektur, Infrastruktur und Landschaft» erreichen. «Delta Metropolis», das wohl anspruchsvollste Projekt, verfolgt die Umwandlung des fragmentierten Lebensraums Randstad in ein kohärentes urbanes System bei gleichzeitiger Verbesserung der Verkehrswege. Andere Projekte sehen die Erweiterung des Amsterdamer Rijksmuseum durch die Sevillaner Cruz und Ortiz oder den Schutz öffentlicher Stadträume vor rücksichtslos agierenden Developern vor.
«Wir sind dabei, die Niederlande neu zu gestalten», bekennt Coenen selbstbewusst. Er, der Professor für «Gebäudelehre und Entwerfen» an der TU Karlsruhe und später Gastprofessor in Aachen war, weiss sehr wohl, dass die niederländische Architekturpolitik klare Vorzüge besitzt. Versucht die Regierung doch möglichst viele langfristige Konzepte für die Zukunft des Landes voranzutreiben. Allein die Vielzahl von lokalen, regionalen und staatlichen Architekturzentren befruchtet die Diskussionskultur. Coenen erinnert beispielsweise an die Debatte anlässlich der Nota «Belvedere», die darauf zielte, die Wucherung der Städte einzudämmen und den Wert der Landschaft neu zu bestimmen. Die Anteilnahme an dieser Diskussion, so Coenen, sei vergleichbar gewesen mit der Breitenwirkung der IBA Emscherpark, die innerhalb von zehn Jahren das industriell geprägte Ruhrgebiet in einen vollkommen neuen Kulturraum transformiert habe. Für ihn machen die Diskussionen der Notas deutlich, dass Architektur jeden angehe. «Deswegen steht die Tür meines Ateliers jedem offen. Es ist doch eine wunderbare Einrichtung, wenn das Entwurfsatelier eine Verlängerung der Strasse ist. Jeder kann hereinkommen.»
Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung
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