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Wenn man statt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab. Wiens kommunaler Wohnbau: Was blieb vom Roten Wien?

7. Februar 2004 - Reinhard Seiß
In den Zwanziger- und Dreißiger jahren baute die Gemeinde Wien Wohnungen für einen neuen Menschen - den selbstbewussten, gesunden und sich bildenden Arbeiter", schreibt Harry Glück. „Heute schafft man Wohnraum für den konsumierenden Arbeiter, der am Wochenende mit dem Auto zu seinem Zweitwohnsitz im Grünen fährt.“ Glück, der in den Siebziger- und frühen Achtzigerjahren so viele Wohnungen wie kaum ein anderer Architekt in Wien realisierte, vermisst gegenwärtig jene gesellschaftspolitischen Visionen, die in der Zeit des Roten Wien das wohl erstaunlichste und erfolgreichste Wohnbauprogramm der Welt begründeten.

64.000 kommunale Wohnungen entstanden nach dem Niedergang der Monarchie innerhalb von nur 15 Jahren sozialdemokratischer Stadtregierung in der bis dahin von unhygienischen Massenquartieren und spekulativem Mietwucher gekennzeichneten 2,2-Millionen-Metropole. Dabei verfügte die Stadt zunächst weder über die nötigen Budgetmittel noch über die erforderlichen Grundstücke, um in größerem Stil Gemeindebauten zu errichten. Erst mit der Abtrennung von Niederösterreich 1922 konnte Wien als nun selbstständiges Bundesland die rechtlichen und fiskalischen Voraussetzungen für sein Wohnbauprogramm schaffen. Durch die Einnahmen aus Luxussteuer, Wertzuwachssteuer und Wohnbausteuer wurde es möglich, den Ankauf von Bauland von anfänglich zwei bis drei Hektar pro Jahr auf 412 Hektar im Jahr 1927 zu steigern - und ab 1923 jährlich 5000 Wohneinheiten zu bauen.

Erlaubte die Bauordnung vor 1919 einen Verbauungsgrad von bis zu 85 Prozent, so wurde dieser Wert von der sozialdemokratischen Stadtverwaltung zunächst auf 60 Prozent reduziert, um die Besonnung aller Wohnungen sowie ausreichend Freiraum zu gewährleisten. Später, errechnete der Wiener Architekt Peter Marchart, sank der Bebauungsgrad bis auf 24 Prozent - etwa beim George-Washington-Hof, mit mehr als 10.000 Bewohnern einer der sogenannten „Superblocks“ des Roten Wien. Der bekannteste dieser großmaßstäbigen Wohnhöfe ist der 1,2 Kilometer lange Karl-Marx-Hof, der als einziger Wohnbau Österreichs auch auf einer Briefmarke gewürdigt wurde. Seine Monumentalität sollte den Mietern das Gefühl geben, in einem wahren Arbeiterpalast zu leben - aber auch die neue Macht der Sozialdemokratie im Stadtbild manifestieren.

Nicht minder repräsentativ wirkt die Bebauung entlang des Margareten- und des Gaudenzdorfer Gürtels, die - als Gegenstück zum städtebaulichen Aushängeschild der Monarchie - auch „Ringstraße des Proletariats“ genannt wurde. Der Reumannhof, Teil dieses Ensembles, gilt als idealtypisch für das Rote Wien: Die streng symmetrische Anlage erinnert an ein barockes Schloss und wird von einem 40 Meter hohen Mitteltrakt dominiert, der ursprünglich als erstes Hochhaus Wiens konzipiert war. Wie bei den meisten Gemeindebauten verschmelzen auch hier Elemente der feudalen und der bürgerlichen Architektur wie Arkaden und Erker mit Merkmalen des Neuen Bauens wie Flachdächern und Eckfenstern. Die insgesamt 200 Architekten des Roten Wien - viele von ihnen Schüler Otto Wagners und teils in Diensten des Stadtbauamts - schufen damit einen recht eigenständigen Stil mit einer erstaunlichen Formenvielfalt.

Es gab aber auch Kritik am formalen Aufwand im kommunalen Wohnbau, zumal hinter den opulenten Fassaden bis 1927 nur bescheidene Kleinwohnungen zwischen 38 und 48 Quadratmeter Fläche entstanden. In den späten Zwanzigerjahren wurden die Wohnungsgrößen dann auf 40 bis 57 Quadratmeter ausgedehnt - und Monumentalität und Pathos ließen insbesondere bei Bauten von Architekten wie Josef Frank, die stärker an der internationalen Moderne orientiert waren, spürbar nach.

Unumstritten war hingegen die hohe Ausstattungsqualität der Gemeindebauten: Jede Wohnung hatte ein Vorzimmer, Toilette, Wasser- und Gasanschluss (allerdings kein Badezimmer) sowie meist Balkon, Loggia oder Erker - was gemessen an den gründerzeitlichen Arbeiterquartieren einen Riesensprung bedeutete. An Gemeinschaftseinrichtungen fanden sich in den Anlagen Badehäuser, Waschküchen, Kindergärten und Spielplätze - sowie an weiterer Infrastruktur Gesundheits- und Sozialdienststellen, Büchereien, Postämter, Geschäfte und Gaststätten. Dennoch waren die Mieten für alle erschwinglich: Eine durchschnittliche Gemeindewohnung kostete lediglich vier bis acht Prozent eines Arbeitermonatslohns. Die Mieteinnahmen sollten der Stadt auch keine Gewinne einbringen, sondern lediglich die Instandhaltungskosten decken.

Mit den Februarkämpfen 1934 ging die Ära des Roten Wien abrupt zu Ende. Seit 1945, nach Ständestaat und Drittem Reich, ist Wien wieder fest in sozialdemokratischer Hand - und auch der kommunale Wohnbau wurde wieder aufgegriffen. Allerdings kostete der Nationalsozialismus die Stadt viele ihrer engagierten Politiker und hervorragenden Planer. Die Wiener Kunsthistorikerin Inge Podbrecky hält in ihrem Buch „Rotes Wien“ dazu fest, dass sich beispielsweise die Hälfte jener 26 österreichischen Architekten, die an der Werkbundsiedlung mitgebaut hatten, durch Flucht oder Selbstmord dem Nazi-Terror entzog.

Dieser geistig-kulturelle Aderlass wurde in zahlreichen Wohnanlagen der Fünfziger-, Sechziger- und frühen Siebzigerjahre sichtbar. Die Per-Albin-Hansson-Siedlung, die Großfeldsiedlung, die Wohnhöfe auf den Trabrenngründen oder am Schöpfwerk zeugen bis heute von der Maxime „Masse statt Klasse“. In den relativ liberalen Siebzigern gewährte die Politik allerdings auch so manchem Wohnbau-Experiment den nötigen Spielraum: sei es Harry Glücks Wohnpark Alterlaa, sei es die sanfte Stadterneuerung, die den immensen Altbauwohnungsbestand Wiens sozial verträglich aufwertete.

Mitte der Achtzigerjahre schien der Wohnraumbedarf der Wiener Bevölkerung endlich gedeckt - und das sozialpolitische wie experimentelle Engagement der Stadtväter zusehends dem Drang nach mehr Ästhetik zu weichen. Wien versuchte nun - teils mit großzügigen Subventionen aus der kommunalen Wohnbauförderung -, internationale Stararchitekten für die Errichtung sozialer Wohnbauten zu gewinnen. Jean Nouvel etwa realisierte in der Leopoldauer Straße Eigentumswohnungen, deren Gesamtpreis - am Beispiel einer 105-Quadratmeter-Maisonette - von umgerechnet 233.000 Euro durch einen „nicht rückzahlbaren Baukostenzuschuss“ der Stadt Wien in Höhe von rund 80.000 Euro um mehr als ein Drittel reduziert wurde. Nicht nur, dass Wohnungen in dieser Preisklasse wohl kaum Förderungen aus dem sozialen Wohnbaubudget rechtfertigen - etliche Lofts in Nouvels Vorzeigeprojekt standen zudem jahrelang leer.

Mit nicht rückzahlbaren Zuschüssen - sowie einer beispiellosen, öffentlich finanzierten Werbekampagne - wurden auch die Apartments in den denkmalgeschützten Gasometern an Mann und Frau gebracht. Ob ausgediente Gasbehälter tatsächlich ein geeigneter Ort zum Wohnen sind, ob der Standort inmitten eines Gewerbegebiets am East End von Wien, begrenzt von zwei Autobahnen, ein lebenswertes Umfeld bieten kann, wurde dabei nie gefragt. So entstanden Neubauwohnungen, die hinsichtlich Belichtung und Besonnung zwangsläufig nur ein Kompromiss sein konnten. So entstanden enge Innenhöfe, deren Bewohner mehr akustischen und visuellen Kontakt zu ihren Nachbarn haben, als ihnen lieb sein kann. So entstand ein Wohnviertel, das über keinerlei Grün-, Spiel- und Erholungsflächen verfügt.

Dichte und Enge - als Missstände der Gründerzeit vergessen geglaubt - prägen auffallend viele Wohnbauten der vergangenen Jahre. An der Wagramer Straße drängen sich, vom Autoverkehr durch eine elfgeschoßige Häuserzeile abgeschirmt, sechs Wohntürme - ebenfalls aus der Hand renommierter Architekten. Im Schnitt entfallen dabei die untersten 14 Etagen auf genossenschaftliche Mietwohnungen, deren Ausblick lediglich zur benachbarten Straßenbebauung reicht. Zwischen 15. und 19. Stock, wo der Verkehrslärm der Wagramer Straße noch wahrnehmbar ist, liegen geförderte Eigentumswohnungen. Darüber folgen drei Geschoße mit frei finanzierten Wohnungen - und im 22. Stockwerk schließlich ein luxuriöses Penthouse mit großzügiger Dachterrasse.

Dass öffentlich geförderter Wohnraum übereinander gestapelt wird, um als Fundament für den Fernblick einiger weniger exklusiver Apartments zu dienen, rechtfertigt die Stadt mit der vermeintlichen sozialen Durchmischung innerhalb der Hochhäuser. Architekt Johann Winter vom Baukünstlerkollektiv BKK-3 hingegen empfindet dies als blanken Zynismus - und als „Umverteilung der Wohnbauförderung von unten nach oben, im doppelten Sinn des Wortes“. Winter und sein Team haben 1996 im modellhaften Partizipationsprojekt „Sargfabrik“ eine Symbiose aus Wohnen, Arbeiten, Kultur und sozialer Integration verwirklicht, das international für Aufsehen sorgte. „Beim Bezug der Sargfabrik ist der erwartete Ansturm auf die obersten Stockwerke ausgeblieben,“ erinnert sich der Architekt. „Denn die Wohnungen in den unteren Etagen haben ihre eigenen, ganz spezifischen Qualitäten, die für manche Mieter mehr zählen als die bessere Besonnung oder der Ausblick im Dachgeschoß.“

Von dieser Art Mehrwert sind die Hochhäuser an der Wagramer Straße genauso weit entfernt wie von der - laut Winter notwendigen - städtebaulichen Qualität im Wohnbau. Der Freiraum zwischen den sechs Türmen besteht bloß aus Restflächen, auf denen sich Kinder mangels ausreichendem Spielplatzangebot zwischen den Entlüftungsschächten der Tiefgaragen aufhalten. Innerhalb der Hochhäuser herrscht ein ebensolcher Mangel an Spielgelegenheiten, Gemeinschafts- oder Hobbyräumen.

Der Sozialwissenschafter Hans-Jörg Hansely, langjähriger Mitarbeiter der Wiener Stadtplanung, spricht von einem Wohnungsüberangebot in Wien - bei gleichzeitig fehlender Leistbarkeit. Dies auch deshalb, so der Wohnbau-Experte, weil die fortschreitende Kommerzialisierung gesellschaftlicher Leistungen das Wohnen verteuere: „Im Karl-Marx-Hof ist die Kindertagesstätte noch ein Service der Gemeinde, der nicht durch die Mieter bezahlt zu werden braucht. Bei neuen Wohnanlagen schlägt man die Kosten der Kinderbetreuung einfach auf die Wohnungspreise auf.“

Das Überangebot an Wohnungen könnte durch aktuelle Projekte wie „Monte Laa“ noch zunehmen. Einer der größten Baukonzerne Österreichs realisiert derzeit auf seinem ehemaligen Werksgelände am Laaer Berg einen neuen Stadtteil mit rund 1000 Wohnungen. Zwar war der entlegene Standort in keinem Stadtentwicklungskonzept je für eine solche Entwicklung vorgesehen. Dank ausgezeichneter Kontakte ins Rathaus ist es dennoch gelungen, für „Monte Laa“ die nötige Flächenwidmung sowie eine Förderung der Wohnbauten zu erwirken: ungeachtet des Fehlens jeglicher Infrastruktur - von Bildung über Gesundheit und Soziales bis hin zum öffentlichen Verkehr; ungeachtet des Umstandes, dass das Areal von der Stadtautobahn A23 durchschnitten wird.

Der Architekt und Wohnbauforscher Kurt Leitner erkennt hinter Projekten wie „Monte Laa“ eine Eigendynamik: „Die Wiener Wohnbaupolitik orientiert sich nun seit geraumer Zeit schon am Mittelmaß. Wenn man aber anstatt nach oben ständig nach der Mitte strebt, sinkt der Durchschnitt immer weiter ab - das heißt, die Wohnungsqualität wird tendenziell schlechter.“ Als die Wiener Stadtregierung Anfang der Neunziger unter dem Eindruck der Ostöffnung eine „Zweite Gründerzeit“ ankündigte, klang das nach einer Verheißung. Aus gegenwärtiger Sicht wirkt dies mehr als Prophezeiung eines wohnbaupolitischen Rückfalls hinter so manche Errungenschaft des Roten Wien.

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