Artikel

Die Zukunft der Vergangenheit
Neue Zürcher Zeitung

Saloniki, die alte und neue «Hauptstadt des Balkans»

Gut zweitausend Jahre hatte Saloniki als Teil des Römischen, Byzantinischen und Osmanischen Reiches eine herausragende Stellung als wichtigstes Zentrum des südlichen Balkans inne. Die neuen Grenzen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, und noch mehr die Teilung Europas während des Kalten Kriegs entzogen der Stadt ihr einstiges Hinterland und ihre alte, überregionale Bedeutung. Seit 1989 gewinnt Saloniki allmählich seine einstige Rolle zurück.

1. März 2002 - Ekkehard Kraft
«Hauptstadt des Balkans», so nennen heute nicht wenige Einwohner Salonikis ihre Heimatstadt. Diese stolze Bezeichnung ist nicht lokalpatriotische Rhetorik, sondern spiegelt zu einem guten Teil die Realität wider. Ein solcher Titel hätte auch in der Vergangenheit, zumindest bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, für die Metropole am Thermaischen Golf seine Berechtigung gehabt. 316 v. Chr. gegründet, war sie seit der römischen Eroberung 146 v. Chr. fast zwei Jahrtausende lang, mit kurzen Unterbrechungen, das bedeutendste Zentrum des südlichen Balkans gewesen. Die günstige Lage am Schnittpunkt zweier wichtiger Strassen, die von der Adria bis zum Bosporus und von der Ägäis nordwärts, durch das Tal von Vardar und Morava, nach Mitteleuropa führten, der Hafen und die administrativen Funktionen trugen zu der kommerziellen, kulturellen und politischen Bedeutung bei. Konstantinopel und Saloniki mit seinen fast 100 000 Einwohnern waren die einzigen Grossstädte des Byzantinischen Reiches. Nach einem kurzzeitigen Niedergang am Ende des Mittelalters stieg die Stadt unter osmanischer Herrschaft und vor allem nach der Ansiedlung aus Spanien vertriebener Juden zu neuer Blüte auf. Als 1912 griechische Truppen während des 1. Balkankriegs in die Stadt einrückten und die osmanische Ära beendeten, zählte sie fast 160 000 Einwohner, ungefähr genauso viel wie Athen damals.


Magische Anziehungskraft

Die heute noch zu grossen Teilen erhaltenen mächtigen Stadtmauern markierten zu jener Zeit die Grenzen der Stadt. Erst in den zwanziger und dreissiger Jahren wurden sie überschritten, als nach der «kleinasiatischen Katastrophe» Zehntausende griechischer Flüchtlinge aus Kleinasien nach Saloniki strömten. Aus ihren Ansiedlungen entstanden neue Stadtteile. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Zuwanderung vom Lande ein; zwischen 1961 und 1981 kam es fast zu einer Verdoppelung der Einwohnerzahl. Zuerst kamen jene, die den Wirren des Bürgerkriegs entgehen wollten, dann diejenigen, die auf der Suche nach Arbeit waren. So wie Athen zum Ziel der Landflüchtigen von den Inseln, aus West- und Südgriechenland wurde, besass Saloniki, nun auch zur Industriestadt geworden, im Norden des Landes magische Anziehungskraft. Trotz einem weitgehend ohne Planung erfolgten Wachstum auf gut eine Million Einwohner hat die Stadt bis heute ihre Konturen wahren können. Wie ein Amphitheater steigt sie vom Meer bis zu den Stadtmauern auf, hinter denen sich die neuen Stadtteile anschliessen. Weiter landeinwärts bildet die vierspurige Umgehungsstrasse die neue Stadtgrenze.

Salonikis Wachstum ging ironischerweise einher mit dem Verlust seiner überregionalen Bedeutung. Erstmals seit römischer Zeit war die Stadt nicht mehr Teil eines multiethnischen Reiches, in dem es einen grossen Binnenmarkt gegeben hatte. Die südosteuropäischen Nationalstaaten und ihre Grenzen erschwerten nicht nur den wirtschaftlichen, sondern ebenso auch den kulturellen Austausch. Das Hinterland Salonikis im Norden reichte kaum weiter als 50 Kilometer. Diese Enge wurde nach 1945 noch spürbarer, als der Kalte Krieg die Grenzen auf dem Balkan zu Systemgrenzen machte. Erst die Veränderungen von 1989 haben die Stadt ihr altes Hinterland und einen Teil ihrer alten Bedeutung wiedergewinnen lassen. Auch die EU hat dem Rechnung getragen, indem sie die Agentur für den Wiederaufbau in Südosteuropa hier angesiedelt hat. Das über den Hafen abgewickelte Gütervolumen wächst alljährlich. Die Messe, früher lediglich eine Veranstaltung für die griechische Wirtschaft, ist mittlerweile für den ganzen Balkan von grosser Bedeutung. Die Stadt ist der Knotenpunkt, über den die Versorgung der Kfor in Kosovo und auch der neuen Nato-Truppe in Mazedonien läuft. Angesichts des stark gewachsenen Handels- und Verkehrsaufkommens wundert es nicht, dass der Ausbau des Hafens bereits beschlossene Sache ist und auch Flughafen und Bahnhof erweitert und modernisiert werden.

Die Bezeichnung «Hauptstadt des Balkans» findet nicht zuletzt auf den belebten Plätzen und Strassen der Unterstadt ihre akustische Bestätigung: Hier kann man Albanisch, Rumänisch, Bulgarisch, Serbisch, Russisch, ja sogar Georgisch vernehmen und fühlt sich in osmanische, ja sogar byzantinische Zeiten zurückversetzt. In manchen Schulen ist durch die Kinder dieser Zuwanderer aus den Balkanländern und Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion der Anteil nichtgriechischer Schüler innerhalb weniger Jahre dermassen stark angewachsen, dass man ähnliche Verhältnisse wie in deutschen Grossstädten vorfindet. Dass hieraus Überfremdungsängste entstehen, ist nicht verwunderlich und auch aus westeuropäischen Ländern bekannt. Dabei kehrt Saloniki im Grunde nur zu einem Zustand zurück, der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts eher die Regel als die Ausnahme war. Damals lebten nicht nur Griechen, sondern ebenso sephardische Juden - einst die grösste Bevölkerungsgruppe Salonikis -, Türken, Bulgaren und viele andere Völker in der Stadt. Zwei der bekanntesten Söhne der Stadt, die berühmten Slawenapostel Kyrillos und Methodios, die im 9. Jahrhundert die erste slawische Schriftsprache schufen, waren wahrscheinlich weder griechischer noch slawischer, sondern armenischer Herkunft.

Erst nach den Balkankriegen war Saloniki zu einer rein griechischen Stadt geworden. Die Muslime und Bulgaren verliessen die Stadt im Rahmen des Bevölkerungsaustausches während der zwanziger Jahre. Die sephardischen Juden, die die Stadt ein halbes Jahrtausend lang massgeblich mitgeprägt hatten, fielen im Zweiten Weltkrieg dem Rassenwahn der deutschen Besatzer zum Opfer. Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, fühlt man sich indessen wieder an den Beginn des vergangenen Jahrhunderts zurückversetzt. Die EU-Gelder, die 1997 im Zusammenhang mit der «Kulturhauptstadt Europas», als die Saloniki damals fungierte, in die Stadt flossen, kamen gerade zum richtigen Zeitpunkt, um das Stadtbild der wiedergewonnenen Bedeutung anzupassen. Zwar sind erst etwas mehr als die Hälfte der damit verbundenen Projekte abgeschlossen, aber das bisher Erreichte kann sich sehen lassen. Anders als in Athen, das auf weite Strecken einer Betonwüste mit einigen antiken und neoklassizistischen Oasen gleicht, ist in Saloniki noch viel alte Bausubstanz vorhanden. In der Oberstadt fühlt man sich nach den Restaurierungsarbeiten an zahlreichen Häusern in die osmanische Zeit zurückversetzt, was auch daran liegt, dass die Vorgaben der Städteplanung hier verhältnismässig strikt eingehalten werden und auch neue Häuser dem traditionellen Baustil entsprechen müssen.


Vorbildliche Restaurierungen

Die alte Unterstadt ist 1917 einem Grossbrand zum Opfer gefallen und wurde danach zweckrational im rechtwinkligen Strassenmuster wiederaufgebaut, wodurch man einen deutlichen Kontrapunkt zu der Oberstadt mit ihren verwinkelten Gassen setzte. Aber auch hier sind aus der Zwischenkriegszeit repräsentative Bauten erhalten, die nun in neuem Glanz erstrahlen. Der zum Meer führende Aristoteles-Platz präsentiert sich als Visitenkarte des modernen Saloniki. Jahrzehntelang bewusst der Verwahrlosung preisgegebene Bauten aus osmanischer Zeit, wie das noch aus dem 15. Jahrhundert stammende Alaca Imaret und zwei alte türkische Bäder, wurden beispielhaft restauriert. Ausserhalb der alten Stadtmauern grüssen erneuerte Baudenkmäler aus der Spätzeit des osmanischen Saloniki wie die Casa Bianca oder das einstige Gebäude des griechischen Roten Kreuzes. Makellos restauriert wurden auch zwei Werke des zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Saloniki wirkenden italienischen Architekten Vitaliano Poselli, die armenische Kirche und die Yeni Cami (Neue Moschee), die den zum Islam übergetretenen Sephardim als Gotteshaus diente. Im Stadtteil Stavrupoli, dem alten osmanischen Zeytunluk, dient das renovierte Kloster der Lazaristen, einst Zentrum der Missionsaktivitäten dieses katholischen Ordens auf dem Balkan, nun als Museum und imposante Konzertkulisse.

Worauf Saloniki aber noch etliche Zeit wird warten müssen, ist eine Verbesserung seines chronisch unterentwickelten öffentlichen Nahverkehrs, der ausschliesslich mit Bussen betrieben wird. Zwar ist die Errichtung einer ersten Metrolinie seit längerem geplant, und auch ein Vertrag mit einem französischen Bauunternehmen wurde bereits unterzeichnet; ungeklärt geblieben ist bislang jedoch das Wichtigste, nämlich die Frage der Finanzierung. Angesichts dessen, dass das arg in Verzug geratene Projekt «Olympia 2004» derzeit in Griechenland höchste Priorität geniesst, dürften alle verfügbaren Gelder wieder einmal nach Athen fliessen und für den Rest des Landes noch weniger zur Verfügung stehen als bisher schon. Und selbst wenn die Arbeiten dann aufgenommen werden, liegen unter dem Asphalt Salonikis zu viele archäologische Schätze verborgen, als dass an einen raschen Abschluss der Bauarbeiten zu denken wäre.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: