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Gebrauchswert und Formdisziplin
Neue Zürcher Zeitung

Zur Architektur von Marc Ryf

Der Zürcher Architekt Marc Ryf machte Anfang der neunziger Jahre mit der «Chilefeld»-Schule in Obfelden und jüngst wieder mit einer Schulhauserweiterung in Kreuzlingen von sich reden, bei der die Benutzerfreundlichkeit ebenso wichtig ist wie Stimmung und Atmosphäre. Zurzeit arbeitet er an zwei Projekten für den Zürcher Zoo.

1. März 2002 - J. Christoph Bürkle
Berichtet man von der jungen Schweizer Architektur, so ist man schnell beim Schulhausbau. Es scheint, als bilde dieser fast das einzige Betätigungsfeld, auf dem sich Berufseinsteiger profilieren können. In allen Kantonen werden öffentliche Schulen umgebaut, erweitert oder neu projektiert, und es ist erklärtes Ziel der Behörden, junge Architekten bei den Ausschreibungen zu berücksichtigen. Für den Zürcher Architekten Marc Ryf war es die Erweiterung der Schulanlage «Chilefeld» in Obfelden, bei deren Realisierung er erste Erfahrungen sammeln konnte. Die kompakten Pavillons, die er zwischen 1991 und 1993 in Zusammenarbeit mit Remo Sciessere errichtete, vermitteln in ihrer präzisen Nüchternheit noch heute das wohlüberlegte Credo des Architekten: Primär für ihn ist die gute Benutzbarkeit der Bauten und deren ganz eigene Stimmung und Ausstrahlung.

Seit Jahren arbeitet Ryf an seinem bisher grössten Projekt, der Erweiterung der Kantonsschule Kreuzlingen, deren Wettbewerb er 1992 gegen 56 Teilnehmer für sich entscheiden konnte (NZZ 6. 10. 00). Die komplexe Aufgabenstellung verlangte ein zweckmässiges Gesamtkonzept für die bestehende heterogene Anlage, deren bauliche und schulbetriebliche Situation unbefriedigend war. Der neoklassizistische Kernbau von 1882 war durch Anbauten von 1940 und 1970 zu einem architektonischen Hybriden geworden. Mit logischer Konsequenz stellte Ryf den drei Zeitschichten eine eigenständige vierte gegenüber. Die terrassierten Volumen seines Erweiterungsbaus fügen als zweigeschossige rechtwinklige Klammer die verschiedenen Teile geschickt zu einem räumlich nachvollziehbaren Ensemble. Wie selbstverständlich gruppieren sich die verschiedenen Bauten um den zentralen Pausenhof, legen die bauhistorische Entwicklung der Schule frei und vermitteln den Schülern einen Hauch von universitärer Campusatmosphäre.


Architektur im Kontext

Die architektonische Gliederung offenbart sich in der klaren Nutzungsstrategie: Der alte Kernbau wird renoviert und erhält seine Grundstruktur zurück. Auch das Gebäude aus den siebziger Jahren blieb in der Struktur erhalten, bekam aber ein neues Farbkonzept, während die ehemalige Turnhalle - einst am Rande, nun im Zentrum des Komplexes gelegen - mit Cafeteria, Mehrzweckhalle und Lehrerzimmer neu die Gemeinschaftsfunktionen aufnimmt. Der Neubau schliesslich beherbergt die technisch anspruchsvollen Räume für Naturwissenschaften, Musik und Bibliothek.

Das von Fachleuten und Lehrern einhellig begrüsste Konzept von Marc Ryf wurde 1995 von den Stimmbürgern abgelehnt. Erst das überarbeitete Projekt, das nahezu fünfeinhalb Millionen Franken billiger, aber bis auf ein geringfügig reduziertes Raumprogramm (eine statt zwei Turnhallen) mit dem ersten Entwurf fast identisch war, wurde in der zweiten Abstimmung 1997 angenommen. Auch wenn der verkürzte Turnhallentrakt das Geviert nicht mehr vollständig schliesst, blieb der Grundgedanke erhalten. Im Jahre 2000 konnte der Neubau und im Jahr darauf der erneuerte Trakt aus den siebziger Jahren bezogen werden. Im kommenden Sommer wird mit der Renovation des ältesten Gebäudes die Erweiterung der Kantonsschule abgeschlossen sein.

«Der Neubau überzeugt durch seine klare, zurückhaltende Gestaltung», lobte der Kantonsbaumeister. Für die Schülerzeitung der «Kanti» ist er im «angesagten Bunkerstil gehalten». Beide Feststellungen sind richtig. Sie belegen, dass die Architektur vor Fachleuten und Laien gleichermassen bestehen kann. Gemeint sind die ruhigen Volumen des Neubaus, die mit klaren Fassaden der vielschichtigen Gesamtanlage das Rückgrat liefern. Die Bekleidung besteht nur aus einem Material, durchgefärbten, faserarmierten Feinbetonplatten, die mit den alternierenden, zweigeschossigen Fenstereinteilungen an der Seite zum Pausenplatz ihre Form erhalten. Die Fensterbänder werden von schmalen, vertikalen Öffnungen mit weit vorkragenden, trichterförmigen Brüstungen unterbrochen. Sie bleiben offen, wenn bei starkem Lichteinfall die übrigen Fenster mit Storen verdunkelt werden. Die tiefen Brüstungen werfen Schatten und erzeugen die signifikante Reliefwirkung der Fassade.

Marc Ryfs Architekturen wirken optisch ausgewogen, städtebaulich sicher placiert und zeugen von einer souveränen Verknüpfung komplexer räumlicher Strukturen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Ryf die Entwürfe immer wieder am gebauten Modell überprüft. Es gibt keine virtuellen 3-D-Simulationen, dafür immer neue Modelle, an denen veränderte Raumsituationen geklärt werden. Dadurch entsteht ein simultaner Entwurfsprozess, bei dem der Plan zum Modell wird und das Modell zum Entwurf. So scheint es fast folgerichtig, dass Ryf und seine Mitarbeiter möglichst unterschiedliche Projekte bearbeiten und sich trotz dem Erfolg mit Schulbauten nicht gerne auf eine Gattung festlegen lassen. Schliesslich reichen die Arbeiten und Studien von der Innenrenovation der Kirche St. Jakob über Ausstellungsbauten im Helmhaus und eine Leitbildplanung für die Dolderbahn (alle in Zürich) bis hin zu einem Fischzuchtbetrieb in Aserbeidschan.


Bauen für den Zoo

Zurzeit ist Ryf vor allem mit zwei Projekten für den Zürcher Zoo beschäftigt. Im Rahmen der völligen Neugestaltung des Zoos unter der Gesamtplanung der Landschaftsarchitekten Vetsch, Nipkow und Partner ist Ryf für die architektonische Bearbeitung der neuen Himalaja-Anlage zuständig. Im Gegensatz zur früheren Tierhaltung in engen Gehegen und Ställen sollen nun weniger Tierarten in ihnen entsprechenden Landschaften so frei wie möglich leben, während die Besucher auf vorgeschriebenen Wegen den Lebensraum der Tiere gesamtheitlich erfahren können. Gab es früher noch imposante Zooarchitekturen, in denen die Tiere eher die Staffage waren, werden sie heute auch in ihrem Umfeld wahrgenommen. Diese Strategie erfordert vom Architekten intensive Planungsarbeit im Team mit Zoofachleuten und Landschaftsgestaltern. So entwarf Ryf neben künstlichen Felsen, die im Inneren mit der nötigen Technik ausgestattet sind, Unterstände und Gehege für Tiere aus ortstypischen Materialien. Dabei ist es eine Gratwanderung, damit aus einer guten Idee nicht ein Disneyland wird. Hier kann gerade Architektur, die sich auf ihren funktionalen Gehalt besinnt, relativierend einwirken.

Ganz anders ist Ryfs Kinderzoo-Projekt, hier wird die Welt der Kinder auf jene der Tiere treffen. In bunten Farben sollen Pavillons und Gehege für Spiel- und Lernbereiche wechseln, in denen Kinder den direkten Kontakt zu den meist einheimischen Tieren aufnehmen können. So wie der neue Zürcher Zoo heute Lebensräume für Tiere wirklich ernst nimmt, so wird der Kinderzoo (neu: Zoorama) ein architektonisches Konzept präsentieren, das nur aus den Bedürfnissen der Kinder heraus entwickelt wurde.


[ Marc Ryf stellt im Rahmen eines Vortrags seine Arbeiten am 6. März um 18.30 Uhr im Architekturforum Zürich vor. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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