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Die inszenierte Wirklichkeit
Neue Zürcher Zeitung

Eine Ausstellung zur Architekturphotographie in Karlsruhe

5. März 2002 - Andrea Eschbach
Betonpfeiler und Parkdecks, Gartentore und Garagen - Oliver Boberg ist nichts zu banal. Der 36-jährige Künstler zeigt alltägliche Orte, Bausünden zumeist. Was auf den ersten Blick wie ein tristes Fotomotiv aus der Vorstadt wirkt, entpuppt sich - genau besehen - als subtile Täuschung. Die Sträucher sind aus Pinselborsten und Teeblättern gefertigt, die Erde aus Kaffeesatz. Boberg ist ein akribischer Bastler. Alles hat er präzise inszeniert: den Lichteinfall, den Strassenbelag, sogar den Schmutz in den Ecken. Wochenlang baut der Fürther an seinen Modellen, um sie dann photographieren zu lassen. Erst im Abbild gewinnen die Miniaturen jene illusionistische Wirkung, die Boberg sucht. «Ich bin an der Wirklichkeit ohnehin nicht interessiert», das gibt der Künstler freimütig zu.

Boberg hat das Dilemma der Architekturphotographie auf den Punkt gebracht: Das Bild eines Baus ist nicht das Gebäude selbst - auch wenn viele Architekten und ihre Hausphotographen dies gerne suggerieren. «In Szene gesetzt» heisst die Ausstellung zur «Architektur in der Photographie der Gegenwart», die derzeit im Museum für Neue Kunst / ZKM in Karlsruhe zu sehen ist. Das ist nur konsequent. Denn weder den Höhepunkten der Baugeschichte noch der Photographie im Dienst von Architekten, Auftraggebern und Investoren gilt die Schau. Kurator Andreas Schalhorn versammelt kritisch-ironische Positionen zu unserer gebauten Umwelt. Er präsentiert zwanzig zumeist deutsche Photographen und drei Videokünstler. Ihre Werke, die oft massstäblich mit der grossformatigen Tafelmalerei konkurrieren, vermitteln «ein Bild vom Bild der Wirklichkeit», wie der Künstler Thomas Ruff - der in der Ausstellung mit seiner Serie grauer Wohnblöcke vertreten ist - das vertrackte Verhältnis von Realität und Photographie charakterisiert.

Beinahe das gesamte Spektrum der künstlerischen Architekturphotographie wird in Karlsruhe gezeigt, beginnend mit Bernd und Hilla Becher. Seit den fünfziger Jahren hält das Düsseldorfer Künstlerpaar dem Verfall preisgegebene Industrierelikte, Fördertürme und Hochöfen etwa, photographisch fest. Den beiden kommt eine Pionierrolle zu: Sie brachten die Architekturphotographie in die Museen. Längst ist ihre Dokumentarphotographie in der Tradition der Neuen Sachlichkeit stilprägend - und schulbildend. Die einstigen Becher-Studenten Andreas Gursky, Thomas Ruff und Thomas Struth stehen international hoch im Kurs: Ihre Bilder werden zu exorbitanten Preisen gehandelt und in Barcelona, Brüssel oder Leipzig präsentiert. Auch in Karlsruhe ist - mit Ausnahme von Gursky - die erste Generation der «Düsseldorfer Schule» dominant vertreten, gefolgt von jüngeren, in den sechziger Jahren geborenen Fotokünstlern, die eine thematische und stilistische Weiterentwicklung der Positionen von Bernd und Hilla Becher zeigen.

Das Sujet eint sie alle: Inszeniert wird der banale, anonyme Bau, der in Gewerbegebieten und Vorstädten allenthalben anzutreffen ist - freilich mit unterschiedlichen Mitteln. Beiläufig, wie in Frank Thiels Schwarzweissfotos von geschichtsträchtigen, aber wenig repräsentativen Orten. Expressiv, wie in den Schwarzweissbildern des 1924 geborenen Robert Häusser, Nestor einer subjektiv ausgerichteten Photographie. Übersteigert, wie in den Arbeiten der Münchner Photographen Dieter Rehm und Alexander Timtschenko, die sich von der sachlich-dokumentarischen Photographie der Bechers gelöst haben. Während Dieter Rehm mit farbigen Lichtspuren und architektonischen Strukturen dynamische Kompositionen baut, die menschenleere Strassen in austauschbare Orte verwandeln, mutet die Serie seines Schülers Timtschenko, die den Themenhotels in Las Vegas gilt, wie phantastische Fiktion an. Die konstruierte Wirklichkeit legt das Prinzip Las Vegas offen: Das Spielerparadies erscheint als bühnenhafte Anlage in artifiziellem Licht.

«Learning from Las Vegas»: Spätestens seit den Manifesten der amerikanischen Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown rücken die Massenästhetik, die vermeintlich hässliche Architektur und der «Urban Sprawl», diese unkontrolliert wachsende Stadtlandschaft, in den Blick. Was den einen als krebsartige Wucherung und unverantwortlicher Landschaftsverbrauch gilt, erscheint den anderen als Lebensform der Zukunft. Für sie ist die Peripherie ein Stadt- Archipel, der die Phantasie anregt. Der Genfer Photograph Gérard Pétremand zeigt mit seiner Serie «Topiques» die lange ignorierten Randbezirke europäischer Grossstädte, Orte, die keine eigene Identität mehr zu haben scheinen, die zu «Allgemeinplätzen» geworden sind. Verschiedene Farben wie das leuchtende Gelb von Fahrzeugen und Hausfassaden hat er fokussiert, die Dinge nehmen aufeinander Bezug. Das Auge wandert zwischen unscharfen Stellen und Schärfe an unerwarteten Stellen, der Betrachter kann sich nicht verorten - kein Ort, nirgends.

Die Schau zeigt ein breites stilistisches Spektrum von Architektur in der Photographie der Gegenwart - und doch mehr. Die städtische Peripherie rückt erneut in den Mittelpunkt. Nicht als Feld ikonographischer oder soziologischer Analyse, sondern als Siedlungsform, die zum Spiel mit der Realität animiert und durchaus manch poetisches Bild liefert.


[Bis 1. April im Museum für Neue Kunst / ZKM. Katalog: In Szene gesetzt. Architektur in der Photographie der Gegenwart. Hrsg. Götz Adriani. ZKM, Karlsruhe 2002. 84 S., Euro 16.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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