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nextroom fragt: Anna Heringer
nextroom fragt: Anna Heringer © Darko Todorovic

Architektur ist ein Werkzeug zur Verbesserung des Lebens. Nachhaltigkeit ist ein Synonym für Schönheit. Ein Gebäude, das in Entwurf, Struktur, Technik und Materialien sowie mit dem Ort und soziokulturellen Umfeld harmonisch ist, das definiert den nachhaltigen und ästhetischen Wert. Anna Heringer im Interview mit Martina Pfeifer Steiner.

14. Mai 2019
In welchen Bürostrukturen arbeiten Sie?

Ich führe ein kleines Büro, weil ich mir die Qualität nicht nehmen will, wirklich intensiv in meine Arbeit einzutauchen. Ich bin auch sehr wählerisch, mache nur Projekte bei denen ich meine Philosophie, Haltung und mich total einbringen und dahinter stehen kann. Derzeit sind wir zu viert und international: aus Spanien, aus Italien, eine Österreicherin und ich als Bayerin. Bei größeren Projekten arbeite ich in Arbeitsgemeinschaften, die ich je nach Aufgabe zusammensuche. Ich werde mich nie über viele Projekte determinieren, achte sehr darauf so eine Art Akupunkturen zu machen, die Strahlkraft haben, die etwas bewegen. Eine Breitenwirkung versuche ich über die Lehre hervorzubringen, indem ich junge KollegInnen ausbilde, die dann selbst in ähnlicher Denkweise weiterbauen.
Wir arbeiten aber nicht nur in der klassischen Architektur, sehen das Feld ganzheitlicher: In Bangladesch müssen viele Frauen, die als Schneiderinnen ausgebildet werden, in die Städte abwandern, ihre schönen Lehmhäuser und ihre Familiennetzwerke verlassen. Sie enden in Lebenssituationen, die nicht mehr menschenwürdig sind. Ich habe gesehen, dass es einerseits diesen wahnsinnigen Überdruck in der Stadt und zum anderen die Migration, diese Aushöhlung des ländlichen Raums gibt. Ich war mit der Architektur am Ende meiner Werkzeugkiste angelangt. Ein T-Shirt, einfach ein textiles Produkt, das dezentral hergestellt werden kann, damit konnten neue Situationen geschaffen werden. Die Frauen bleiben in ihrem Dorf und führen ein unabhängigeres, nachhaltigeres, ökologischeres Leben. Sie können auf ihre eigenen Ressourcen zurückgreifen. So endet man plötzlich als Architektin im Textilbereich. Es ist für mich jedoch in erster Linie ein städtebauliches Projekt.
Früher war ich mitunter vier Monate im Stück auf der Baustelle. Es bedeutet größte Freude für mich, wenn Entwerfen und Bauen quasi organisch ineinanderfließen. Mit Familie geht das halt nicht mehr. Ich bin am Anfang vor Ort um den Genius loci zu erspüren und die Recherche zu machen, auch zum Entwerfen. Die Baustellenleitung übernimmt dann mein Team, wobei es jetzt tatsächlich schon mit den lokalen Leuten funktioniert. Und das macht allseitig richtig stolz!

Was inspiriert Sie?

Mich fasziniert das in vielen Kulturen lebendige Potential etwas ganz Authentisches, Einzigartiges zu schaffen, aus dem was im direkten Umfeld zu finden ist, seien es Häuser, Objekte, die sowohl funktional als auch schön sind, und die Kultur insgesamt. Meine Kraftquellen finde ich in Bangladesch, wenn ich wieder am Wesen und Sinn meines Berufs dran bin, ganz genau weiß, warum ich das mache und bemerke, dass ich gesellschaftlich etwas mitverändern, einen Beitrag leisten kann, zum Gesunden unseres Planeten!

Was begrenzt die Verwirklichung Ihrer Visionen?

Die Angst und die Gier. Das sind die Kernprobleme der Nachhaltigkeit. Es ist offensichtlich, dass die ganze Baubranche von der Gier geleitet ist. Wenn in Bangladesch nachhaltig gebaut wird, nehmen wir immer das Günstigste, Naheliegende, von der Natur praktisch gratis gegebene, das mit menschlicher Arbeitskraft verfeinert wird. Bei uns sind Baustoffe wie Zement so billig, dass ein kostenloses Material wie Lehm, das allerorts zur Verfügung steht, jedoch zeitaufwändig zu verarbeiten ist, keine Chance hat. Da steht eine massive Lobby dahinter, die auch immer wieder die Ängste schürt, z. B. dass natürliche Materialien nicht haltbar genug sind etc. Würde beispielsweise der Zementpreis angehoben, adäquat zu den wahren verursachten Kosten dieses Materials, das könnte viel verändern. Ich denke auch, dass unser Zeitfenster für den Paradigmenwechsel extrem schmal ist.
Mit Lehm kann man nicht das große Geld holen, da steckt kein wirtschaftliches Interesse dahinter. Idealismus funktioniert nicht in einem Wirtschaftssystem. Wenn jedoch mehr mit Lehm gebaut werden würde, hätte das einen großen Einfluss auf die Gesellschaft. Das Resultat wäre eine erstarkte Mittelschicht, weil viele Menschen Arbeit finden, die Kluft zwischen Arm und Reich wäre wesentlich kleiner. Das Fachwissen kann nämlich sehr schnell multipliziert werden. Lehm ist im Grunde ein emanzipatorisches Material.

Welches Ihrer Projekte möchten Sie hervorheben?

Das Altarprojekt im Kaiserdom zu Worms, zum tausendjährigen Jubiläum, das wir mit Martin Rauch gemacht haben. Unser Ansatz beim Wettbewerb war, dass diesem barocken Dom mit dem wunderschönen, von Balthasar Neumann gestalteten Altarraum – viel Gold, edle Holzschnitzereien – an Materiellem gar nichts fehlt. Ich denke das ist auch sinnbildlich für unsere Gesellschaft: wir sind gesättigt mit allem, was auf Attraktionen abzielt. Man kann sich nun fragen, was vom Bauen in Ländern wie Bangladesch zu lernen ist. Für mich ist es das Erlebnis der Kraft, die im gemeinschaftlichen Bauprozess liegt. Unserer Gesellschaft fehlen gemeinsame Ziele, gemeinsame Anstrengungen. Lieber gegeneinander als miteinander.
Wir haben also vorgeschlagen, dass wir nur das Material – die Erde – einbringen, auf der die Grundlagen für Wein und Brot wachsen. Dort wo gefeiert wird, stampft die Gemeinschaft den Altar. Eine gemeinsame Anstrengung, bei der wirklich jede/r Schicht für Schicht mitmachen kann. Es war berührend die Kinder beim Mischen und ausgelassen Stampfen, die Dominikaner-Mönche mit ihren lateinischen Gesängen zu erleben. Die Nonnen aus Indien, die seit Jahrzehnten in Worms leben, durften indische Heimaterde hineinlegen, die Menschen brachten persönliche Amulette mit, genauso Fundstücke, die an die Geschichte des Doms und der Stadt Worms erinnern.
Es war ein unglaublich schönes Erlebnis diese Kraft zu spüren: Das haben wir gemeinsam aus der Erde wachsen lassen! Und wie der Altar so selbstverständlich und archaisch, mit seiner Entstehungsgeschichte im barocken Ambiente des Wormser Doms steht.

Worüber sollten ArchitektInnen reden, einen Diskurs anzetteln?

Die unbedingt brennenden Fragen sind: Wie können wir bewirken, dass es CO2-Steuern gibt, dass Bauen mit natürlichen Materialien und entsprechendem Einsatz von Handwerk und Arbeit nicht finanziell bestraft wird. Wir müssen den Systemwechsel einfordern! Wir müssen Bewusstsein schaffen, dass so ein Bauen gesund für die Umwelt, gesund für die Menschen und gesund für die Gesellschaft ist. Am Ende meiner Karriere will ich alle meine Baubudgets zusammenzählen und sagen können, dass diese in die richtigen Hände geraten sind. Es ist unsere Entscheidung: Wir können so entwerfen, dass die Millionen an Konzerne gehen oder dass wir mit viel Handwerk und natürlichen Materialien bauen und damit die Gesellschaft stärken. Wenn das Individuum für sich im Bewusstsein handelt, wie sich seine Entscheidungen auswirken, wenn sieben Mrd. Menschen auch diese treffen würden – wie würde es bezüglich sozialer Gerechtigkeit, friedlichem Zusammenleben auf unserem Planeten zugehen? Das sind einfach die Fragen, die wir bei jeder Wahl des Materials, der Konzeption stellen müssen. Vor vierzig Jahren haben wir genau dasselbe gewusst wie heute, es liegen die präzisen wissenschaftlichen Fakten vor und es ist unfassbar, dass wir so tun, als wäre nichts! Ich habe großen Respekt vor der jungen Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg.
»nextroom fragt« ist ein neues Format für die in der nextroom Architekturdatenbank vertretenen PlanerInnen und Planer, das Raum für eine übergeordnete Eigenpräsentation schafft. Fünf gleichbleibende Fragen laden ein, Einblicke in den Arbeitsalltag und die Bedingungen für Architektur zu geben - ungeachtet ob aus der Sicht junger oder arrivierter, großer oder kleiner Büros.

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