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Heimatschutz der bizarren Sorte: Man kann nicht die ganze Stadt Zürich bewahren. Sonst kommt ihr die Zukunft abhanden
Neue Zürcher Zeitung

Der Ortsbildschutz ist, wie er heute angewendet wird, mehr Fluch als Segen. Dabei könnte er zur Lösung eines grossen Problems beitragen.

11. Juli 2024 - Marius Huber
Er sah das Unheil kommen. An einem wolkenlosen Tag im Januar 2014 schickte der damalige Zürcher Baudirektor Markus Kägi einen besorgten Brief an den Bundesrat. Denn das, was da auf seinem Pult lag, ergab einfach keinen Sinn.

Da war einerseits das neue Raumplanungsgesetz, das bald in Kraft treten sollte. Ein grosser Umbauplan zur Verdichtung bestehender Städte nach innen, um die weitere Zersiedlung des Landes zu verhindern.

Aber da war noch ein anderer Plan, der ebenfalls bald Gültigkeit erlangen sollte, und der widersprach dem ersten. Eine Karte, angelegt in akribischer Arbeit von Angestellten des Bundesamtes für Kultur zur Erweiterung des Bundesinventars der schützenswerten Ortsbilder (Isos). Sie zeigte Strassenzug für Strassenzug, welche Teile der Stadt Zürich in der einen oder anderen Form für die Nachwelt erhalten werden sollten. Es waren über drei Viertel der gesamten Stadt.

Man erkennt auf den ersten Blick: Das ist zu viel. Eine Stadt ist ein lebendiger Organismus. Wenn er sich nicht entwickeln kann, stirbt er. Man muss darum auch loslassen können – bei allem legitimen Interesse am Heimatschutz, der in der Verfassung verankert ist.

Die Experten des Bundes zerstreuten vor zehn Jahren jedoch die Sorgen von Kägi und anderen Zürcher Baufachleuten. Das Ortsbildinventar sei keine definitive Schutzverfügung, sondern nur Verhandlungsgrundlage. Wo das öffentliche Interesse am Umbau der Stadt nachweislich überwiege, stehe dem nichts im Weg.

Darauf zu vertrauen, war ein Fehler, wie sich nun zeigt. Solche Regelwerke entwickeln ein Eigenleben, wenn man keine klaren Grenzen zieht. Es ist wie mit dem ungebetenen Gast, der nur fünf Minuten bleiben will, aber für vier Wochen gepackte Reisekoffer bei sich hat: Wenn man ihn hereinlässt, darf man sich hinterher nicht wundern.

Vor Gerichten hat sich inzwischen eine kafkaeske Auslegung der rechtlichen Grundlagen des Inventars eingeschlichen. Diese Rechtsprechung widerspricht der ursprünglichen Intention und verhindert selbst sorgfältig begründete Bauvorhaben. Dennoch wird sie von allen möglichen Bremsern konsequent angewendet – von Heimatschützern aus Überzeugung, von Nachbarn aus Eigeninteresse, von Richtern aus schlafwandlerischer Gleichgültigkeit.

Darin kommt eine Eigenart dieses übervorsichtigen Landes zum Ausdruck: Der Geist des Bewahrens wirkt stark, und er hat in Justiz und Bürokratie willfährige Diener.

Dies belegt derzeit auch das überarbeitete Regelwerk der Stadt Zürich für den Bau von Hochhäusern: Spielte man anfangs noch mit dem Gedanken, in der Ebene mehr und höhere Bauten zuzulassen als heute, hat sich dies im Endresultat ins Gegenteil verkehrt.
Bausünden sind Ursache der Ängstlichkeit

Zürich hätte einen anderen Geist nötig, denn die Stadt wächst rasant und braucht dringend mehr Wohnungen. Gefragt ist auch ein qualitatives Wachstum. Arbeitsmodelle und Lebensentwürfe wandeln sich, der Bankenplatz verliert an Bedeutung, die Tech-Branche zieht gut ausgebildete Menschen aus aller Welt an. Gleichzeitig sorgt die Klimaerwärmung für Bedingungen, für die Zürich nicht gemacht ist.

All das bedeutet: Wenn diese Stadt ein lebenswertes Zuhause für alle bleiben soll, muss sie sich schnell und zugleich mit Bedacht anpassen. Sie braucht Mut, Optimismus und Klugheit. Der Impuls zur flächendeckenden Konservierung einer Kulisse wie aus der «Kleinen Niederdorfoper» ist Realitätsverweigerung.

Regelwerke wie das Ortsbildinventar Isos müssen in den Zentren, auf die sich der Wandel des Landes konzentriert, so schlank wie möglich gehalten werden. Und gleichzeitig so streng wie nötig, damit die Bevölkerung vom Wandel nicht überfordert wird und in den Widerstand geht. Diese Balance ist offensichtlich nicht gefunden.

Es ist durchaus sinnvoll, identitätsstiftende Bereiche der Stadt zu bewahren und die Tradition bei Neubauprojekten zu berücksichtigen. Doch es wird schnell übers Ziel hinausgeschossen. Grund ist ein Mangel an Vorstellungskraft, dass es besser werden könnte, wenn es anders wird.

Dies ist erstens der Tatsache geschuldet, dass sich Zürich heute punkto Lebensqualität weltweit an der Spitze befindet. Wenn man sich bewegt, kann es nur abwärtsgehen, denken viele. Sie verkennen, dass die Welt sich weiterdreht und die Grundlagen von Wohlstand immer wieder neu geschaffen werden müssen. Auch in städtebaulicher Hinsicht.

Zweitens sind die Generationen, die heute den Ton angeben, traumatisiert von Fehlentwicklungen der jüngeren Vergangenheit. Die rabiaten Eingriffe ins historische Gefüge von Ortschaften während des Baubooms der sechziger und siebziger Jahre wirken bis heute nach.

Das ist verständlich. Aber eine gesunde Skepsis gegenüber unbedachten Veränderungen ist das eine, daraus ein pessimistisches Naturgesetz abzuleiten, etwas ganz anderes.

Die zentrale Frage: Wie stellt man sicher, dass es gutkommt?

Man sollte sich vor Augen halten: Alles, was heute als erhaltenswert gilt, musste auch erst einmal gebaut werden. Der Preis war stets, dass etwas anderes verschwindet – und es waren nicht immer nur grüne Wiesen.

Eindrücklichstes Beispiel ist das verwinkelte Kratzquartier, das sich bis Ende des 19. Jahrhunderts auf der Seeseite des Fraumünsters befand. Es wurde geschleift, um Platz für die repräsentative Zeile an der Limmat zu schaffen. Stadthaus, Nationalbank, Bürkliplatz: All das gäbe es nicht, wenn damals der gleiche Geist geherrscht hätte wie heute.

Es gibt auch abschreckende Beispiele: grössenwahnsinnige Visionen für einen Totalumbau Zürichs, wie sie der Stadtrat vor hundert Jahren anstiess. Damals lancierte der Architekt Karl Moser die Idee, die Altstadt zu planieren und beidseits der Limmat gläserne Türme zu errichten. Rückblickend ist es ein Glück, dass dieser radikale Plan versandete.

Dies führt zur entscheidenden Frage: Wie lässt sich in der Bevölkerung Vertrauen schaffen, dass es gutkommt, wenn es anders wird? Mit welchen Mitteln lassen sich schlechte Bauvorhaben von solchen trennen, die dereinst als Gewinn empfunden werden? Teil der Antwort – auch wenn das paradox klingt – könnte das Ortsbildinventar Isos sein.

Auf den ersten Blick wirken die Schutzkategorien dieses Inventars sehr streng. Sie reichen von einem Abbruchverbot bis zu dem Gebot, dass ein Gleichgewicht zwischen Alt- und Neubauten bestehen müsse. Doch selbst die strengste Kategorie gilt nicht absolut. Das wäre auch verfehlt, handelt es sich doch um eine Expertenmeinung ohne demokratische Legitimation und Mitsprachemöglichkeiten.

Die Isos-Autoren haben selbst immer wieder darauf hingewiesen, und sie betonen es auch in einem aktuellen Bericht des Bundes, der den Gemeinden helfen soll, das Isos korrekt zu interpretieren. Das Inventar sei nur «eine von mehreren Grundlagen» bei der Interessenabwägung, wenn Städte verdichtet würden.

Es soll «Tabula-rasa-Planungen» verhindern und sicherstellen, dass sich Bauherren Gedanken zur Identität eines Ortes machen, wenn sie mit ihren Projekten durchkommen wollen. Stadt- und Raumplaner – auch solche aus Zürich – sahen es deshalb sogar als eine Chance, Sünden der Vergangenheit zu korrigieren und «Stadtreparatur» zu betreiben.

Eine Versicherung also gegen unsensible Eingriffe und grössenwahnsinnige Visionen. Vor allem auch in kleineren Gemeinden, wo die Baubehörden oft nicht gut genug dotiert oder willens sind, der Einordnung von Neubauten ins Ortsbild Rechnung zu tragen.

Welche Fehler schnell korrigiert werden müssen

Das hat anfangs nicht schlecht funktioniert, doch inzwischen ist die Sache entgleist: Ein lange unbeachteter Paragraf ist vor Bundesgericht auf unerwartete Art zu einer destruktiven Kraft mutiert. Es handelt sich um eine Ausnahmeregelung, die besagt, dass die Isos-Bestimmungen in einem speziellen Fall ohne Wenn und Aber gelten: bei Erfüllung einer Bundesaufgabe, an der kein zwingendes nationales Interesse besteht.

Gemeint war offensichtlich, dass der Bund nicht einfach sein eigenes Inventar übersteuern darf, um zum Beispiel einen Waffenplatz mitten in die Zürcher Altstadt zu bauen. Angewendet wird die Ausnahmeregelung heute aber auch dann, wenn Dritte in einem Isos-Gebiet bauen wollen und nur am Rand eine Bundesaufgabe tangiert ist – es genügt schon, wenn das Fundament ins Grundwasser ragt. Ergebnis ist de facto ein flächendeckendes Neubauverbot auf einem grossen Teil der Stadt Zürich.

Das ist offensichtlich widersinnig und muss korrigiert werden. Gleichzeitig sollte das Ortsbildinventar für grosse Städte wie Zürich überarbeitet – sprich: verschlankt – werden. Der Geist des Bewahrens muss nicht gleich komplett in die Flasche verbannt, aber in sinnvolle Schranken verwiesen werden. Manche Quartiere soll man komplett neu denken dürfen, auch in der Höhe, bei anderen soll man sich am Bestehenden orientieren und sie punktuell ganz erhalten.

So liesse sich der Widerspruch auflösen, der Markus Kägi vor zehn Jahren Kopfschmerzen bereitete. Und das Isos kann als Instrument das leisten, was man sich von ihm versprach: dazu beizutragen, dass der rasante Umbau der Städte auf überzeugende Weise gelingt. Damit sich die Zürcherinnen und Zürcher in ihrer Stadt auch künftig zu Hause fühlen und sagen können: Es ist anders als früher, aber es ist sicher nicht schlechter.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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